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       # taz.de -- Wohnungsbau in Deutschland: Comeback der Platte
       
       > Die Ampelregierung will jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen. Kann das
       > mit Hilfe des „seriellen Bauens“ funktionieren?
       
   IMG Bild: Beton, Normiertheit, Tristesse: Errichtung eines Plattenbaus in Cottbus 1978
       
       Die Platte. Wie das schon klingt. Nach Beton, Normiertheit, Tristesse.
       Manchmal riecht die Platte: ungelüftet, nach Spaghetti mit Tomatensoße aus
       dem Glas. Nach Bohnerwachs auf ausgetretenem Linoleum in den Etagenfluren.
       In der Platte wohnt, wer arm und ungebildet ist.
       
       Diesem Negativimage könnte Klara Geywitz, die neue Bauministerin der
       Ampelregierung, jetzt ein positives Update verpassen. Die Koalition will
       jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen bauen lassen, dafür setzt Geywitz auf
       „Modelle für serielles Bauen“. Das ist die Plattenbauweise, nur verbal
       aufgehübscht. Die SPD-Politikerin stellt sich das so vor: Einheitliche
       Module werden irgendwo jenseits der Baustelle gefertigt und
       zusammengesetzt. Am Bauort selbst müssen nur noch die Bodenplatte gelegt
       und die Module hochgezogen werden. Das entlaste „den Bauprozess, macht ihn
       schneller und vermeidet auch sehr viel Baulärm und lange Bauzeiten in den
       Innenstädten“, glaubt Geywitz.
       
       Ein Hausbau in Nullkommanichts. Eine Idee, die von Vorbildern vor allem im
       Osten inspiriert scheint: Plattenbauviertel in Jena-Lobeda, Halle-Neustadt,
       Hoyerswerda, Leipzig-Grünau und natürlich Marzahn, Hohenschönhausen,
       Hellersdorf in Berlin. Auf ihrem VIII. Parteitag 1971 beschloss die SED,
       die „[1][Wohnungsfrage] als soziales Problem bis 1990“ zu lösen, die
       Neubaugebiete an den Rändern der Großstädte waren geboren.
       
       In Berlin-Marzahn legten die Bauleute 1977 los und zogen ein Haus aus
       angelieferten Betonplatten in etwa 110 Tagen hoch. In den Wohnungen lebte
       der Autoschlosser neben der Schauspielerin, der Professor neben der
       alleinerziehenden Mutter. Nicht nur die soziale Durchmischung und
       zahlreiche Grünflächen waren garantiert, sondern auch die nötigste
       Infrastruktur: Kitas, Schulen, Polikliniken, Mehrzweckhallen mit Kneipe und
       Diskothek, eine „Kaufhalle“ als Einkaufsmöglichkeit.
       
       Stellt sich Klara Geywitz das so oder ähnlich vor? Lösen solche
       Großsiedlungen das Wohnungsproblem in Ballungsgebieten wie Berlin, Hamburg,
       München?
       
       Der westdeutsche Architekt Philipp Meuser, 52, erkennt in der Platte eher
       einen politischen als ästhetischen Reiz: Sie ermöglicht, rasch bezahlbaren
       Wohnraum für viele Menschen zu schaffen. Das lobt auch der 1982 im
       brandenburgischen Eisenhüttenstadt geborene Architekt und Dokumentarist
       Martin Maleschka: „Wir können uns von der damaligen Bauweise eine Platte
       abschneiden.“
       
       Der Berliner Architekt Jan Große indes sagt: „Klara Geywitz’ Gedanke ist
       richtig, die Idee nicht neu, die Umsetzung kurzfristig nahezu unmöglich.“
       Große, 58, baut seit mehr als 30 Jahren in Berlin und Brandenburg
       Wohnhäuser, Kitas, Schulen, öffentliche Gebäude. Er kommt aus dem Osten,
       hat den Plattenbauboom miterlebt und früher selbst in einem solchen Neubau
       gewohnt.
       
       Plattenbauten gibt es in nahezu allen Großstädten: Köln, Paris, Brüssel,
       Stockholm, Moskau, New York. Allein in Berlin leben heute mehr als 100.000
       Menschen in Neubauten, in Fünf- und Sechsgeschossern, in Zehnetagenblöcken,
       die sich wie Schlangen durch die Straßen winden, in Hochhäusern mit bis zu
       23 Stockwerken.
       
       ## Groß geratenes „Arbeiterschließfach“
       
       Die Neubaugebiete in der DDR lösten das Wohnungsproblem zwar nicht
       komplett, aber sie linderten es. Fragten Mitarbeiter:innen der KWV,
       der Kommunalen Wohnungsverwaltung, in den 80er Jahren Wohnungssuchende, ob
       sie lieber in eine – Achtung: Ostvokabular – [2][Zweiraumwohnung] in
       Berlin-Prenzlauer Berg oder in eine Einraumwohnung in Marzahn ziehen
       würden, lautete die Antwort häufig: Marzahn.
       
       Heiner Müller, der berühmteste Dramatiker der DDR, nannte die Platte
       „Fickzellen mit Fernheizung“. [3][Müller] wusste, wovon er sprach, er lebte
       bis 1993 selbst in einer. Am 16. Dezember 1979 unterschrieb er einen
       Mietvertrag für eine Wohnung im 14. Stock in der Erich-Kurz-Straße 9 in
       Lichtenberg. 166 Quadratmeter, unzählige Zimmer, Balkon mit Blick auf den
       Tierpark. Mit dem Fahrstuhl kam er bis in den 13. Stock, die letzte Treppe
       musste er laufen. 207,85 Ostmark zahlte Müller für dieses groß geratene
       „Arbeiterschließfach“, wie die Platte auch genannt wurde.
       
       Müllers 166 Quadratmeter in der DDR waren selbstredend eine Ausnahme.
       Gewöhnlich maß eine Dreizimmerneubauwohnung zwischen 55 und 65
       Quadratmeter. Durch die Vorfertigungsbauweise und den dadurch gleichen
       Grundriss der Wohnungen war die Platte in Verruf geraten. Küchen und Bäder
       sahen gleich aus, auch hieß es, eine Schrankwand passe nur an eine
       bestimmte Wand, das Bett an eine andere.
       
       Heiner Müller hatte dazu eine sehr eigene Theorie. „Das ganze Problem bei
       dieser Architektur war – haben Statiker errechnet –, dass man das Bett
       immer nur in die eine Ecke stellen konnte in diesen 10-, 12-,
       14-Etagenhäusern. Wenn die alle gleichzeitig gefickt hätten, wäre die
       Statik ernsthaft gefährdet worden.“ So jedenfalls sagte Müller es in einem
       Interview mit dem Regisseur Alexander Kluge.
       
       Das Bett immer an derselben Stelle widerspricht dem heutigen Anspruch der
       Menschen an Freiheit und Individualität, sagt Jan Große. Wer will schon so
       wohnen wie der Nachbar und der Nachbar und der Nachbar? Das Bestreben nach
       Unverwechselbarkeit auch bei der Wohnung sei aber gar nicht der Knackpunkt
       an der Idee der Bauministerin, sagt Architekt Große.
       
       Es ist viel komplizierter: „Vorfertigung ist nichts, was man mal eben auf
       die Beine stellt und nächstes Jahr baut man los. Das braucht komplexe
       Vorbereitung, Planung, Technologie, Infrastruktur, Vergaberecht.“ Eine
       Legislatur reiche da nicht aus. Und: „Serielles Bauen geht nur in großen
       Einheiten, also auf der grünen Wiese“, sagt Große. Nicht „seriell“ bebaut
       werden können komplizierte kleinere Standorte wie Baulücken in den
       Innenstädten, also dort, wo die meisten Menschen bezahlbare Wohnungen
       suchen.
       
       Große erklärt: Die Baumodule müssen, wenn sie in großer Stückzahl und damit
       schnell und preisgünstig produziert werden sollen, dieselben Maße haben.
       Mit diesen genormten Maßen passen die Teile nicht ohne individuelle
       Ergänzungselemente in innerstädtische Baulücken. „Da gibt es schräge
       Häuserecken, dreieckige Grundstücke, Abstandsvorgaben zur nächsten Wand“,
       sagt Große. Kurz: Jede Baulücke muss individuell bebaut werden. „Das
       erfordert eine jeweilige Anpassung an den Bauplatz und kann mit serieller
       Bauweise nicht gelöst werden.“ Oder nur mit sehr kleinteiligen Zusatzteilen
       in großer Vielfalt.
       
       ## Verkehrskonzept muss mitgedacht werden
       
       Könnte man nicht verschiedene Module entwerfen, die je nach Baulücke
       verwendet werden? „Unrealistisch“, sagt der Architekt, „wie groß soll die
       Variantenvielfalt sein? Das braucht eine Vielzahl von Elementen, die
       wiederum nicht in großen Stückzahlen gefertigt werden, was das Bauen nicht
       schneller und billiger macht.“ Er verweist auf ein Kitabauprogramm in
       Berlin, das 2017 unter dem Kürzel Mokib, Modulare Kita-Bauten für Berlin,
       beschlossen wurde.
       
       Das Modulbauprogramm sah etwa 30 Kitaneubauten vor, 2019 war der Plan auf
       neun neue Kitas runtergedimmt, 2021 wurden zwei Häuser eröffnet. Die DDR,
       gibt Große zu bedenken, habe immerhin 20 Jahre gebraucht, um die
       Plattenbauweise zu entwickeln. Trotzdem kann „serielles Bauen“ eine Lösung
       sein. „Aber eben nur an den Stadträndern“, sagt der Architekt. Oder in
       Innenstädten auf sehr großen Freiflächen. Diese aber sind rar gesät und
       sollen wie beispielsweise auf dem Tempelhofer Feld in Berlin nur teilweise
       oder gar nicht bebaut werden, sondern als Freizeit- und Sportflächen
       dienen.
       
       Ein Dilemma: „Um den Wohnungsmangel zu beseitigen, muss in den nächsten
       Jahren in vielen Großstädten und in deren Umland deutlich mehr als bisher
       gebaut werden“, sagt der Immobilienökonom Ralph Henger vom Institut der
       deutschen Wirtschaft in Köln. Geschieht dies aber – unabhängig davon, ob es
       sich um Großraum- oder Eigenheimsiedlungen handelt –, entstehen neue
       Probleme: zunehmender Verkehr von der Peripherie in die Innenstadt am
       Morgen und nach Feierabend wieder zurück.
       
       Schon jetzt schieben sich in den Morgenstunden Autoschlangen über die
       Ausfallstraßen, meist sitzt eine Person im Wagen. „Das ist komplett
       unökologisch und unökonomisch“, sagt Architekt Große: „Will man wirklich
       Satellitenstädte bauen, muss das Verkehrskonzept mit Bahnen und Bussen von
       Beginn an mitgedacht werden.“ Aber auch dieser Prozess dauert und kostet
       viel Geld. Der Ausbau der S-Bahn- und Straßenbahnstrecke in die
       Neubaugebiete Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen brauchte viele
       Jahre. Heute erweist sich der gut ausgebaute ÖPNV als Glück für die
       Bewohner:innen dort.
       
       ## Ist Geywitz' Plan eine Schnapsidee?
       
       Und dann ist da noch das Problem mit der Lebensqualität und der sozialen
       Monokultur in den Plattenbauvierteln. Will man eine soziale Monokultur
       verhindern und die Diversität der Bewohner:innen fördern – so wie einst
       im Osten –, muss man dafür sorgen, dass die Plattenbauviertel eine eigene,
       gut funktionierende Infrastruktur haben. „Mit Arbeitsplätzen,
       Dienstleistungen, Kultur, Einkaufsmöglichkeiten, medizinischen
       Einrichtungen. Alle Komponenten einer Altstadt im Neubaugebiet“, sagt
       Große. Die Stadt in der Stadt. „Das erfordert eine gute und genaue
       Stadtplanung.“ Und die braucht – wieder – Zeit.
       
       Ist Geywitz’ Plan also eine Schnapsidee? „Wer das Wohnungsproblem lösen
       will, muss beim Bauen komplett umdenken“, sagt Jan Große. Das heißt: Alle
       zur Verfügung stehenden Technologien und Bauweisen nutzen, Standards senken
       (auch im Anspruchsdenken), kompakt bauen. Intelligente Grundrisse für
       kleinere Wohnflächen, niedrigere Geschosshöhen, um mehr Etagen in einem
       Haus unterzubringen. Und familienfreundliches Wohnen mit grünen Höfen und
       Holzbauelementen ermöglichen – solche Dinge.
       
       Das Problem mit dem geringen Spielraum für architektonische Improvisation
       dürfte allerdings bestehen bleiben.
       
       Heiner Müllers Statikthese indes ist nicht belegt.
       
       9 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/wirtschaft/lexikon-wohnungsbau-plattenbau-neubaugebiete-100.html
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=2wkekZpikbY
   DIR [3] https://www.tagesspiegel.de/berlin/anklopfen-bei-heiner-mueller/480464.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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