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       # taz.de -- Kommunale Aufnahme von Geflüchteten: Ohne Seehofer alles gut?
       
       > Die Ampelregierung verspricht eine Kehrtwende in der Migrationspolitik.
       > Dürfen Kommunen bald freiwillig Menschen aufnehmen?
       
   IMG Bild: Simone Lange (SPD) ist Oberbürgermeisterin von Flensburg und im Bündnis „Städte Sicherer Häfen“
       
       Berlin taz | Auf den ersten Blick haben Simone Lange und Stephan Neher
       nicht viel gemein. Lange wuchs in der DDR auf, trat nach der Wende der SPD
       bei und ist nun seit fünf Jahren Oberbürgermeisterin von Flensburg. Neher
       ist Christdemokrat in Baden-Württemberg und seit 2008 Oberbürgermeister in
       der Kleinstadt Rottenburg am Neckar.
       
       Was die beiden verbindet: Sie wollen freiwillig Geflüchtete aufnehmen,
       unter ihrer Amtsführung haben Flensburg und Rottenburg das Bündnis „Städte
       Sicherer Häfen“ mitgegründet. Über zweihundert Städte, Kommunen und Kreise
       im ganzen Land haben sich bis heute angeschlossen. Sie alle haben Grund zur
       Freude. Und das liegt an der neuen Bundesregierung.
       
       SPD, Grüne und FDP nämlich versprechen [1][eine Kehrtwende in der
       Migrationspolitik]. Die Ampelkoalition will mehr Geflüchtete legal
       aufnehmen, mehr Familien zusammenführen – und Schutzsuchenden in
       Deutschland eine bessere Perspektive bieten. Was die
       Oberbürgermeister:innen Lange und Neher besonders freut: Die neue
       SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser wird das Engagement der Kommunen
       aller Voraussicht nach nicht mehr so ausbremsen wie ihr Vorgänger Horst
       Seehofer von der CSU.
       
       „Die Aufnahmebereitschaft in Deutschland und der EU wollen wir stützen und
       fördern“, verspricht die Ampel [2][im Koalitionsvertrag]. Die Kommunen
       werden an dieser Stelle zwar nicht explizit genannt. Fachpolitiker:innen,
       die den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt haben, versichern jedoch, dass
       es ein pauschales Nein wie unter Seehofer nicht mehr geben wird.
       
       ## Seehofer dagegen
       
       Wie viel Frust der Groko-Innenminister hinterlassen hat, kann
       Oberbürgermeisterin Lange berichten. 2018 schon fasste ihre Stadt den
       Beschluss, mehr Menschen in Not aufnehmen zu wollen. Dank der Stabsstelle
       Integration, die Lange im Rathaus angesiedelt hat, und den vielen
       ehrenamtlichen Helfer:innen konnte Flensburg einen Großteil der
       zugewiesenen Schutzsuchenden gut integrieren.
       
       In einem Brief an Seehofer teilte Lange mit, dass Flensburg locker 20
       weitere Geflüchtete versorgen könne. Als Antwort erhielt sie eine förmliche
       Absage. „Er ist überhaupt nicht auf unser Angebot eingegangen“, erinnert
       sich Lange. Auch [3][Bundesländer wie Berlin oder Thüringen], die
       freiwillig zusätzliche Menschen aufnehmen wollten, ließ Seehofer abblitzen.
       
       Das Aufenthaltsgesetz schreibt vor, dass die Bundesländer die Zustimmung
       des Bundesinnenministeriums (BMI) einholen müssen, wenn sie Menschen aus
       humanitären Gründen bei sich aufnehmen wollen. Von kommunalen
       Aufnahmeprogrammen ist dort gar nicht die Rede. Anträge der Grünen und
       Linken im Bundestag, die den Ländern und Kommunen mehr Spielräume
       verschaffen wollten, scheiterten in der vergangenen Legislaturperiode. Auch
       das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ hat vergeblich versucht, die vergangene
       Bundesregierung für sein Anliegen zu gewinnen. Für ein persönliches Treffen
       stand der zuständige Innenminister Seehofer aber nie zur Verfügung.
       
       „Natürlich fühlen wir uns in unserem Engagement nicht ernst genommen, wenn
       man so ignoriert wird“, sagt Lange am Telefon. Auch der CDU-Mann Stephan
       Neher ärgert sich über Seehofer. „Unsere Hilfe hat er mit dem Argument
       abgelehnt, dass der Bund die Kommunen nicht überfordern dürfe. Mit uns
       gesprochen aber hat er nie.“ Lange und Neher setzen jetzt große Hoffnungen
       darauf, dass die Ampel ihr Anliegen hört – und es bald direkte Gespräche
       geben wird.
       
       ## Geld direkt von der EU
       
       Darauf baut auch Gesine Schwan. Die Vorsitzende der
       SPD-Grundwertekommission und zweimalige Bewerberin um das
       Bundespräsidentenamt wirbt schon lange für eine stärkere Einbindung der
       Kommunen bei der Aufnahme von Asylsuchenden – und zwar EU-weit. „Wir
       erleben seit Jahren, dass die Nationalstaaten die Aufnahme und Verteilung
       von Geflüchteten blockieren“, sagt Schwan. „Wir brauchen deshalb eine
       demokratische Wiederbelebung von unten.“
       
       Die Idee, dass die Kommunen das Verteilungsproblem der Europäer lösen
       könnten, hat sie von der portugiesischen EU-Parlamentarierin Maria João
       Rodrigues. „Die Grundidee bei ihr war: Jeder Staat, der Geflüchtete
       aufnimmt, soll direkt von der EU Geld erhalten. Ich habe das dann auf die
       Kommunen übertragen.“ So sollten Schutzsuchende auch in den
       Mitgliedsstaaten, in denen die Nationalregierungen eine verbindliche
       Aufnahme ablehnen, Schutz finden können.
       
       Das Projekt, das Schwans Idee in den vergangenen drei Jahren konkretisiert
       hat, heißt Kommunale Integrations- und Entwicklungsinitiative (Midi).
       Angesiedelt ist es an der Humboldt-Viadrina Governance Platform, deren
       Präsidentin Schwan ist. „Das Modell, das wir dort entwickelt haben, will
       ich möglichst bald der neuen Bundesinnenministerin vorstellen“, sagt
       Schwan. Nancy Faeser ist zwar Parteifreundin, aber noch keine Verbündete.
       
       Das Modell, von dem Schwan Faeser überzeugen möchte, besteht aus vier
       Bausteinen: einem Europäischen Integrations- und Entwicklungsfonds, aus dem
       aufnahmebereite Kommunen bezahlt werden. Kommunale Entwicklungsbeiräte, die
       die demografischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Gemeinde mit der
       Integration von Schutzsuchenden zusammendenken. Ein Matching-System, das
       die Wünsche der Geflüchteten mit der Situation vor Ort abgleicht. Und ein
       Netzwerk, über das sich die beteiligten Kommunen austauschen.
       
       ## Kampf gegen Stereotype
       
       Entwickelt haben das Modell Malisa Zobel, die die Kommunale Integrations-
       und Entwicklungsinitiative von Beginn an geleitet hat, und ihr Team. „Wir
       wollen damit auch dem negativen Bild von Migration entgegentreten“, sagt
       Zobel. Noch dominiere in Teilen der Bevölkerung das Narrativ, Geflüchtete
       seien eine Belastung. Die kommunale Aufnahme könne helfen, dieses
       stereotype Bild geradezurücken.
       
       Voraussetzung dafür aber sei, so Zobel, dass der vorgeschlagene EU-Fonds
       nicht allein die Kosten für die Unterbringung und Versorgung der Menschen
       bezahlt. „Es muss auch zusätzliche Gelder geben, die die Kommune flexibel
       einsetzen kann – und die bestenfalls allen zugutekommt“, fordert Zobel.
       Etwa für eine neue Turnhalle, mehr Personal für die Kita oder neuen
       Wohnraum.
       
       Konkret schlägt die Politikwissenschaftlerin vor, die Pro-Kopf-Pauschale
       von rund 10.000 Euro im Jahr, die die EU heute schon bei der Umverteilung
       von Geflüchteten über Relocation-Programme an die Aufnahmeländer zahlt, zu
       verdoppeln – und direkt der entsprechenden Kommune zu überweisen. Nähme
       Flensburg beispielsweise hundert Menschen auf, hätte die Stadt jährlich
       eine Million Euro für deren Versorgung auf dem Konto. Und eine weitere
       Million für Integrationsprojekte.
       
       „Wenn das Matching-Programm dann noch dafür sorgt, dass Menschen dahin
       kommen, wohin sie möchten und wo die Kommune ihnen gute Perspektiven bieten
       kann, hätten wir eine Win-Sitution für alle Beteiligten“, so Zobel.
       
       ## „Wie Parship“
       
       Ein Matching-Verfahren fände auch Oberbürgermeister Stephan Neher aus
       Rottenburg gut. Dann stünden die Chancen besser, dass die Menschen
       längerfristig an dem Ort bleiben. Die Betriebe in seiner Stadt haben schon
       einige Geflüchtete ausgebildet, erzählt Neher nicht ohne Stolz. Der
       Oberbürgermeister erzählt aber auch von einem gewissen Frust. „Nicht alle
       Azubis wollen nach der Ausbildung in Rottenburg bleiben.“
       
       Malisa Zobel stellt sich eine Art digitale Kontaktbörse vor, auf der sich
       Schutzsuchende die Kommune aussuchen können, die ihnen am meisten zusagt.
       „Wie Parship“, sagt sie. „Es wäre ein erster Schritt, wie sich Menschen
       möglichst frei in Europa bewegen können – wie EU-Bürger:innen auch.“ Doch
       lässt sich dieses Modell in die Praxis umsetzen? In einem Europa, in dem
       viele Staaten die humanitäre Aufnahme von Menschen am liebsten weiter
       beschränken möchten und immer mehr Geld in den [4][Schutz der Außengrenzen]
       fließt?
       
       Malisa Zobel und Gesine Schwan gehen davon aus, dass eine EU-weite Aufnahme
       durch Kommunen nur mit einer Koalition der Willigen machbar wäre. Die
       europäischen Verträge zumindest lassen zu, dass sich eine Gruppe von
       EU-Staaten in einer „verstärkten Zusammenarbeit“ gemeinsame Regeln setzt.
       
       In einem aktuellen Rechtsgutachten kommt die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)
       zu dem Schluss, dass die EU auch einen Integrations- und Entwicklungsfonds
       einrichten könne, sofern daraus tatsächlich Integrationsmaßnahmen für
       Schutzsuchende bezahlt würden. Ob eine Kommune Gelder bei dem Fonds
       beantragen darf, läge aber in der Hand der einzelnen Mitgliedsstaaten.
       „Noch fehlt dazu der politische Wille“, beobachtet Zobel.
       
       ## Europaweite Vernetzung
       
       Was ihr aber Hoffnung macht: Immer mehr Kommunen wollen der
       Abschottungspolitik der EU etwas entgegensetzen. So haben sich im Sommer 33
       europäische Städte zur „Internationalen Allianz der Sicheren Häfen“
       zusammengeschlossen – darunter Palermo, Barcelona, Amsterdam, Athen und
       Marseille. Auch Flensburg und Rottenburg am Neckar sind vertreten. Mehr als
       600 Kommunen in Europa haben sich bereit erklärt, Geflüchtete aufzunehmen.
       Auch polnische Städte sind dabei.
       
       Oberbürgermeisterin Simone Lange hofft, dass von der neuen Bundesregierung
       eine Signalwirkung in die Nachbarländer ausgeht. „Wenn die anderen sehen,
       dass Kommunen in Deutschland bei der freiwilligen Aufnahme vorangehen,
       machen sie vielleicht eher mit.“ Bis zum Sommer, hofft Lange, bekommt sie
       grünes Licht von der Ampelregierung in Berlin. Im Juni nämlich lädt
       Flensburg die anderen „Städte Sicherer Häfen“ zum Bündnis-Treffen an die
       Ostsee. Da würde sie am liebsten einen Erfolg vermelden.
       
       Ob es so weit kommt, ist allerdings offen. Auf Anfrage der taz heißt es aus
       dem nun SPD-geführten Innenministerium, dass das BMI „keine Veranlassung“
       für die Schaffung einer gesetzlichen Möglichkeit für kommunale
       Aufnahmeprogramme sehe. „Bei aller Wertschätzung für das humanitäre
       Engagement der Kommunen können Migrationsfragen nicht auf kommunaler Ebene
       gelöst werden.“
       
       Selbst die Grünen geben sich bei der freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten
       zurückhaltend. „Wir wollen ja zeigen, dass der Bund wieder selbst
       Verantwortung übernimmt“, sagt die grüne Migrationspolitikerin Filiz Polat,
       die den Koalitionsvertrag mitverhandelt hat. Dieser Anspruch sei in der
       Migrationspolitik der Ampel auch klar erkennbar. Deshalb sei sie mit dem
       Ergebnis „sehr zufrieden“.
       
       Oder anders formuliert: Die Ampel will selbst agieren, um mehr
       Schutzsuchende aufzunehmen – die Kommunen braucht sie dazu nicht.
       
       10 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Pauli
       
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