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       # taz.de -- Klimaaktivist über Zukunftsangst: „Wir müssen uns selbst retten“
       
       > Im September trat Henning Jeschke mit sechs anderen KlimaaktivistInnen in
       > den Hungerstreik. Ein Gespräch über persönliche und globale Kipppunkte.
       
   IMG Bild: Henning Jeschke bei einer Aktion von Extinction Rebellion vor der Universität in Lüneburg
       
       taz: Herr Jeschke, wie geht es Ihnen? 
       
       Henning Jeschke: Ich bin sehr beschäftigt und viel unterwegs, um dafür zu
       kämpfen, dass die planetare Hülle, die uns am Leben hält, erhalten bleibt.
       Es geht für uns alle um Leben und Tod.
       
       [1][Um Leben und Tod ging es während Ihres Hungerstreiks auch für Sie.] Am
       Ende lagen Sie auf der Intensivstation. Hatten Sie Angst zu sterben? 
       
       Diese Frage wird uns oft gestellt. Klar, ich hatte Angst vor den schwer
       absehbaren Folgen. Aber vergessen wir nicht, was KlimaexpertInnen wie Sir
       David King sagen: Wir haben nur drei bis vier Jahre, um das fossile System
       zu beenden. Sonst erleben wir wohl eine unumkehrbare Massenvernichtung für
       hunderte von Generationen. Das macht mir noch mehr Angst.
       
       Sie sprechen viel von globalen Kipppunkten. Gab es für Sie einen
       persönlichen Kipppunkt, wo Sie entschieden haben, sich ganz dem Engagement
       gegen den Klimawandel zu widmen? 
       
       Ich engagiere mich schon lange gegen Artensterben und für die Regenwälder.
       Die Erkenntnis, dass wir auf das Aussterben zusteuern, kam mir vor etwa
       zwei Jahren. Das ist das Gesamtbild, das sich aus den Puzzleteilen ergibt.
       Ich habe dann FreundInnen und Verwandten gesagt, dass ich alles andere
       stehen und liegen lassen werde, um etwas gegen dieses Verbrechen zu tun.
       
       Sie haben Politikwissenschaft und Nachhaltigkeitswissenschaft an der
       Leuphana Universität Lüneburg studiert. Diese Uni gilt als Think Tank für
       Nachhaltigkeit. 
       
       Naja, es ist eine Doppelmoral. Die Uni hat 40 Millionen Euro bei der
       Landesbank Nord LB angelegt, die in Gaspipelines investiert. Vor
       zweieinhalb Jahren haben Studierende die Unileitung deshalb aufgefordert,
       die Bank zu wechseln, auch mit einer Petition. Sie hat versprochen, das
       Thema auf die Agenda zu setzen. Als nichts geschehen ist, habe ich im
       letzten Sommer das Zentralgebäude der Uni mit Farbe besprüht. Deswegen habe
       ich jetzt Campus-Verbot. Die Diskussion schwappte erneut in die Uni, die
       jetzt zu handeln verspricht.
       
       Das sind drastische Mittel. Glauben Sie, dass Sie die Mehrheit Ihrer
       Generation dabei hinter sich haben? 
       
       Umfragen zeigen, dass 50 Prozent aller jungen Leute täglich Angst vor der
       Zukunft haben, der Kaiser ist ja nackt: In den nächsten drei bis vier
       Jahren entscheidet sich, ob es eine für die Menschheit gibt.
       
       Sie schildern eine düstere Zukunft. Ist es Angst, die Sie antreibt? 
       
       Einerseits habe ich Angst. Andererseits treibt mich auch mein
       Gerechtigkeitssinn an und Wut, Empörung darüber, dass hier eine riesige
       Ungerechtigkeit passiert. Ich will später noch in den Spiegel schauen
       können.
       
       In Ihrem Gespräch mit Olaf Scholz kündigten Sie ab Januar Straßenblockaden
       an, wenn die Klimapolitik sich nicht grundlegend ändert. Schwächt es nicht
       die Bewegung, wenn Sie damit viele Menschen gegen sich aufbringen? 
       
       Es geht nicht darum, als Akteur beliebt zu sein. Den AktivistInnen von
       Fridays for Future haben am Anfang auch alle gesagt, sie sollen zur Schule
       gehen. Wenn wir Straßen blockieren, machen wir uns erst einmal unbeliebt
       bei einem großen Teil der AutofahrerInnen, aber das Thema bekommt so die
       Aufmerksamkeit, die es braucht. Ich würde gern andere Mittel ergreifen,
       aber wir müssen die Physik ernst nehmen. Mit Molekülen lässt sich nicht
       verhandeln.
       
       Gerade haben Sie eine Vortragsreise gegen Lebensmittelverschwendung
       gemacht. Was hat das mit Klimawandel zu tun? 
       
       2050 wird es wegen des Klimawandels Dürren und Überflutungen und dadurch
       weltweit 30 Prozent weniger Ernteerträge geben. 75 Prozent der globalen
       essbaren Pflanzen hängen ab von der Bestäubung der Insekten, die gefährdet
       sind. Uns drohen Hungersnöte. Unser Ziel ist, die 19 Maßnahmen umzusetzen,
       die der Bürgerrat Klima 2021 zum Thema Ernährung und Landwirtschaft
       vorschlägt. Ein Schritt wäre ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung,
       wie Frankreich es schon hat.
       
       Die meisten von uns wissen, wie ernst die Lage ist. Die Frage ist ja: Wie
       kommen die Menschen ins Handeln? 
       
       Die Leute müssen verstehen, dass sie nicht nur etwas tun müssen, sondern
       das auch können. Es braucht einen Impuls wie damals, als die Alliierten
       beschlossen, Europa nicht Hitler zu überlassen. Nur: Niemand wird kommen
       und uns retten, das müssen wir selbst tun.
       
       Kann Politik etwas erreichen? 
       
       In der Vergangenheit eher nicht. Die COP-Konferenzen waren bisher
       hauptsächlich Greenwashing. Seit 1995, also etwa in meiner Lebenszeit, sind
       die CO2-Emissionen nicht weniger geworden, sondern haben sich mehr als
       verdoppelt.
       
       Trotzdem war das Ziel Ihres Streiks ein Gespräch mit PolitikerInnen. 
       
       Die Verantwortlichen sollen verstehen: Klima ist keine Verhandlungsmasse.
       Das ist das Problem, warum die Grünen nicht mehr glaubwürdig sind.
       
       Ihnen wurde vorgeworfen, PolitikerInnen zu erpressen. Ist [2][Erpressung]
       ein angemessenes Mittel? 
       
       Wir wollen nur, dass sich die PolitikerInnen an Recht und Gesetz halten.
       Wenn die Folgen der Klimakatastrophe unser Land treffen, werden auch die
       Gesundheitssysteme und die Wirtschaft zerstört.
       
       Ich spreche ja nicht von Ihrem Szenario, sondern von den Mitteln, die Sie
       für Ihren Protest wählen. 
       
       Die kann man ja gerne kritisieren, aber was sollen wir machen, wenn nichts
       passiert? Wir wählen drastische Mittel, ohne andere zu verletzen, wir
       setzen die eigene Gesundheit ein. Und unsere Bewegung ist weltweit: In
       Australien wird gerade ein großer Kohlehafen blockiert, in Italien,
       Großbritannien und Kanada gibt es Blockaden. In der Schweiz hat ein Vater
       nach 39 Tagen Hungerstreik erreicht, dass das Parlament eine Sondersitzung
       über die Klimakatastrophe macht.
       
       Sie haben ja auch erreicht, dass Olaf Scholz sich mit Ihnen und Lea
       Bonasera traf. [3][Scholz wirkte zunehmend genervt, weil Sie ihn keinen
       Satz zu Ende sprechen ließen.] Wie lief das Gespräch aus Ihrer Sicht? 
       
       Wir wollten Olaf Scholz die Frage stellen: Können Sie der Bevölkerung die
       Wahrheit über das Massensterben sagen? Und: Lässt es Sie kalt, dass ihr
       Kurs uns auf vier Grad Plus führt, was Milliarden Menschen vertreibt und
       die junge Generation umbringt? Das hat geklappt. Eine Reaktion auf die
       Forderung nach einem sofortigen Essen-Retten-Gesetz gab es seitdem nicht.
       Für uns geht es also auch auf die großen Verkehrswege, um friedlich zu
       stören.
       
       28 Dec 2021
       
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