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       # taz.de -- Ausweg aus der Corona-Matrix: Aus der Dies-topie in dat Topie
       
       > Unsere Autorin hatte gemischte Gefühle angesichts der Covid-Impfung. Und
       > hat sich doch umgehend für die rote Pille entschieden – also die Impfung.
       
       Die rote Pille oder die blaue Pille? Das ist keine Anmache der Dealer, die
       im Görlitzer Park, am Kottbusser Tor oder in der Schlange vorm Berghain
       herumlungern. Es ist eine Grundsatzfrage an die gesamte Gesellschaft, die
       nun im dritten Kalenderjahr des nach wie vor tödlichen Virus Covid-19 an
       Relevanz gewinnt.
       
       Kenner*innen der Kinoreihe „Matrix“ wissen, worum es geht: Der
       Protagonist Neo, ein Programmierer und heimlicher Hacker, seit 1999 von
       Keanu Reeves verkörpert, wird vom Rebellenführer Morpheus vor die Wahl
       gestellt: „Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in
       deinem Bett auf, und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du
       die rote Kapsel, bleibst du in Wunderland, und ich führe dich in die
       tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.“
       
       Ja, des Kaninchenbaus. Da liegt der Hase im Pfeffer. Ist es jener Hase, der
       von nichts weiß? Ein Versuchskaninchen im Labor der pandemisch
       expandierenden Pharmaindustrie? Oder die Titelfigur aus „White Rabbit“von
       Jefferson Airplane? Oje, ich verrate schon wieder mein Alter, wa?
       
       Anfang der sechziger Jahre wurde ich geboren, nun bin ich Anfang sechzig.
       Der Kreis schließt sich, der Kreis erweitert sich. Solche geistigen
       Glissandos begleiteten mich, als ich an einem frostigen Winternachmittag
       vom Kotti zum Görli latschte, kreuz und quer durch die Freiluft-Apotheke.
       Derweil lasse ich mir „White Rabbit“ auf der Zunge zergehen. Nur das
       geniale Lied. Denn: Zeitlebens habe ich noch keine Narko-Erfahrungen am
       eigenen Leibe gesammelt. Sechs Dekaden lang ist es mir gelungen, einen
       Bogen um Psychedelika und Psychopharmaka zu machen.
       
       ## Gras nur unter den Füßen
       
       Um Sportverletzungen oder Rückenbeschwerden zu lindern, greife ich zu
       pflanzlichen Mitteln. Gras wiederum bleibt mir unter den Füßen, auch wenn
       ich die Cannabis-Legalisierung befürworte. Eine seelische
       Schmerzunempfindlichkeit strebe ich jedenfalls nicht an. Die emotionalen
       Schmerzen, die Makro- und Mikroaggressionen, die mich heimsuchen, will ich
       nicht betäuben, wenn die Ursachen wie Rassismus, Misogynie und Transphobie
       eher extern und strukturell bekämpft werden sollten.
       
       Dabei möchte ich weder prahlen noch predigen. Ich erwähne es, weil die
       Frage der Corona-Impfung auch für mich ein potenzielles Dilemma darstellte.
       Als eine Person mit afroamerikanischen Wurzeln kann ich die
       menschenverachtende, an Schwarzen Probanden durchgeführte Tuskegee-Studie
       (1932–1972) nicht übertünchen. Als eingefleischte Veganerin bin ich nicht
       begeistert, dass die Corona-Impfstoffe aus tierischen Zellenkulturen
       gewonnen und in tödlichen Tierversuchen getestet werden.
       
       Trotzdem habe ich mich umgehend dafür entschieden, die „rote Pille“ der
       Wahrheit zu schlucken – und bin nun geimpft und geboostert. Ich habe mich
       von Fakten überzeugen lassen, nicht von unfundierten Verschwörungstheorien.
       Weitere Impfungen würde ich bei Bedarf genauso bereitwillig nehmen. Aus
       Rücksicht auf mein eigenes Überleben und auf die Gesundheit anderer.
       
       Ach so, ja. Der Gang durch den Görli führte mich ins Kino. In den teilweise
       in Babelsberg gedrehten vierten Film der „Matrix“-Serie. Mit Keanu Reeves,
       der übrigens rund 80 Millionen Euro an die Krebsforschung gespendet hat.
       Laurence Fishburne, der in den ersten drei Filmen Morpheus gespielt hat,
       wird von Yahya Abdul-Mateen II ersetzt.
       
       Die Handlung enttäuscht aber. Pillepalle mit Piffpaff. Ohne Spannung. Der
       Weg aus der Misere wird vom Exit-Schild im Kinosaal gezeigt, es führt aus
       der Dies-stopie in dat Topie. Zurück in die alptraumhafte Welt, in der
       militante Impfverweigerer laut und lustvoll dazu beitragen, dass unsere
       Freiheit mit gestiefelten Füßen getreten wird.
       
       Es sind diese Aluhutträger*innen, die dafür mitverantwortlich sind, dass
       Verkäufer*innen und Sicherheitsleute überall Einlasskontrollen
       durchführen. Es sind diese entsolidarisierten, empathielosen
       Wahrheitsverweiger*innen, die dafür Sorge tragen, dass geimpfte Patienten
       mit kritischen Verletzungen aus der Notaufnahme vertrieben werden.
       
       Es sind diese Demagogen, die lieber die blauen Pillen einnehmen, um nicht
       aus ihrem Ewiggestrigtum zu erwachen. Sie begegnen der Pandemie mit
       Panikmacherei. Wie schön wäre es, eine Pille gegen die Propaganda von
       Q-Anon und Querdenkenden zu entwickeln. Sonst heiße es: „Game over“.
       
       11 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michaela Dudley
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Frau ohne Menstruationshintergrund
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Transgender
   DIR Kolumne Frau ohne Menstruationshintergrund
       
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