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       # taz.de -- Schul-Beauftragter über Antiziganismus: „Viele outen sich nicht“
       
       > Als Roma- und Sinti-Beauftragter der Hamburger Schulbehörde kämpft Marko
       > Knudsen gegen Antiziganismus. Er hat noch viel zu tun.
       
   IMG Bild: Versucht, Welten zusammen zu bringen: Marko Knudsen am Gedenkort Hannoverscher Bahnhof
       
       taz: Herr Knudsen, Sie sind im Hamburg der 1980er-Jahre aufgewachsen. Haben
       Sie in Ihrer Jugend Antiziganismus erlebt? 
       
       Marko Knudsen: Ich habe dazu zwei Erfahrungen im Gepäck. Die eine ist: Die
       meisten hat es nicht interessiert, dass ich Rom bin. Das Gefühl hatte ich
       auch bei meinen Lehrern.
       
       Und die andere Erfahrung? 
       
       An meiner Schule gab es zwei junge Skinheads, wie man sie sich vorstellt:
       rasierte Köpfe, Bomberjacken, Springerstiefel. Ich war zwölf oder 13 Jahre
       alt, als ich an denen vorbei gegangen bin und gesagt habe: „Scheiß Nazis!“
       Als Resultat habe ich dann auf die Fresse gekriegt und habe mich anderthalb
       Jahre über den Zaun in die Schule geschlichen. Irgendwann hat meine Mutter
       herausgefunden, dass da irgendetwas nicht stimmt. Dann habe ich es ihr
       gebeichtet. Sie besprach es mit dem Schulleiter und das Ergebnis war, dass
       ich mich bei den Skinheads entschuldigen musste.
       
       Und danach? Welche Vorurteile begegnen Ihnen immer wieder? 
       
       Die beiden größten Vorurteile, die uns auferlegt werden, sind zum einen,
       dass wir asozial und kriminell seien. Das andere böse Vorurteil ist, dass
       wir Nomaden sind und dass man uns deshalb auch nirgendwo tolerieren braucht
       und uns weiter vertreiben kann.
       
       Was entgegnen Sie darauf? 
       
       Wir sind keine Nomaden. Wir leben da, wo wir leben können. Das Problem ist,
       dass ganz viele nicht den Mut haben zu sagen, sie gehören dazu. Sie haben
       [1][Angst vor den Diskriminierungen] und outen sich nicht, weil sie sonst
       nicht erfolgreich sein können. Das zeigt sich zum Beispiel auch an Marianne
       Rosenberg oder Sido: Die haben sich zwar auch geoutet, aber eben als sie
       Stars waren und nichts mehr zu verlieren und keine Existenzängste mehr
       hatten.
       
       Warum kommt das hier in den Köpfen nicht an? 
       
       Das sind diese zwei unterschiedlichen Welten, die nicht zusammen kommen.
       Die eine Seite verweigert sich, um die Vorurteile nicht aufgeben zu müssen,
       die seit 600 Jahren in Europa herrschen. Und die wurden ja nochmal
       hochstilisiert und verfeinert von den Nationalsozialisten. Wie auch die
       Juden wurden Roma und Sinti in der NS-Zeit mit Tiervergleichen und anderen
       entmenschlichenden Vergleichen belegt, um diese Vernichtungsmaschinerie
       gegen sie überhaupt erst möglich zu machen.
       
       Wie ist die Entwicklung seit 1945? 
       
       Die Berichterstattung über uns ist rein negativ. Man hat als Gesellschaft
       immer noch nicht für die Taten in der NS-Zeit Verantwortung übernommen. Es
       wird noch immer darüber geschwiegen. Da sehe ich massive Defizite. Das ist
       ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, an dem noch Generationen arbeiten
       werden müssen, damit wir das Schweigen überwinden.
       
       Sie haben schon früh mit der Arbeit gegen den Antiziganismus begonnen. 
       
       Mit 14 habe ich angefangen bei uns in der „[2][Rom und Cinti Union]“
       mitzuarbeiten. Den Verein hatte mein Vater in den 1980er-Jahren gegründet.
       Da war ich auch knapp 20 Jahre im Vorstand. Ich habe auch einen eigenen
       Jugendverband gegründet. Ziemlich früh, mit 16, war ich schon unterwegs in
       Europa mit Jugendorganisationen.
       
       Wie ging das los mit Ihrem Engagement? 
       
       Damals hatte mein Vater Streikaktionen organisiert, mit denen sie eine
       Bleiberechtsregelung erstritten haben. Es wurde das ehemalige
       Konzentrationslager Neuengamme besetzt und ein Hungerstreik im Hamburger
       Michel gemacht. Ich habe damals geholfen, Papiere auszufüllen und bin in
       die Büroarbeit gerutscht. Es gab einfach nicht genügend Menschen, die lesen
       und schreiben konnten. Da habe ich alles von der Pike auf gelernt – von der
       Verwaltung über das Dolmetschen bis zur Sozialarbeit.
       
       Welche Sprachen sprechen Sie denn? 
       
       Mein Vater war mit seinen Eltern aus Polen und Großeltern aus Rumänien und
       der Slowakei mit vier Jahren nach Hamburg gekommen. Ich habe daher noch
       einen Rucksack voller Sprachen, auch Romanes, mitgekriegt. Meine
       Muttersprache ist aber Deutsch.
       
       Und heute machen Sie diese Arbeit noch immer. 
       
       Als Roma- und Sinti-Beauftragter arbeite ich eng mit Hamburger Schulen
       zusammen, konkret mit den regionalen Beratungs- und Bildungszentren. Da
       geht es um Absentismusfälle und um die Frage, wie Bildungsteilhabe durch
       Inklusion gelingen kann.
       
       Was wissen die Schüler denn von Sinti und Roma? 
       
       Das, was sie von Zuhause mitkriegen und was in den Medien wiedergegeben
       wird: also hauptsächlich Stereotype.
       
       Sie lernen in der Schule nichts über Roma? 
       
       In der Schule lernt man nichts über Roma. Höchstens noch einen Satz zum
       Holocaust, dass die Vernichtungsmaschine auch gegen uns gefahren worden
       ist. Die Roma- und Sinti-Kinder, die in der Schule sind, finden sich
       nirgends wieder in der Schule. Deshalb habe ich eine Ausstellung
       erarbeitet, [3][eine Wanderausstellung durch Hamburger Schulen], in der im
       Komplettpaket Informationen ausgestellt werden. Diese Kinder erkennen: „Da
       ist etwas über mich, über meine Menschen, mein Volk. Ich finde plötzlich
       statt in der Schule.“ Und auf der anderen Seite ist es ein
       Öffnungsmechanismus bei den Lehrkräften: „Guck mal, wir wissen so wenig
       darüber.“ Die Stereotype muss man aufbrechen. Das geht vor allem über
       persönliche Begegnungen. Wenn die Menschen mich dann erleben, bricht ein
       „Zigeunerbild“ zusammen.
       
       Helfen dabei auch [4][Gedenkstätten wie das Denkmal „Hannoverscher
       Bahnhof“] in der Hamburger Hafencity? 
       
       Das ist ein wunderbares Beispiel, dass auch an uns vorbeigegangen wäre,
       wenn wir 2003 nicht lauthals aufgeschrien hätten, dass es uns genauso
       betrifft wie die Juden.
       
       Was ist besonders an diesem Gedenkort? 
       
       Dieser Gedenkort war der erste, der gemeinsam für Roma, Sinti und Juden
       erstellt worden ist. Ansonsten ist alles immer auseinander dividiert
       worden. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um uns aus dieser zweiten Reihe
       der Opfer herauszukriegen. Dieses Denkmal ist ein ganz großes Signal und
       ein aufklärerisches Element, das sehr wichtig ist: Wir haben so wenige
       Orte, die überhaupt mit uns in Verbindung gebracht werden.
       
       Warum? 
       
       Weil die ganze NS-Aufarbeitung, was Roma und Sinti angeht, sehr lange
       vernachlässigt worden ist. Die ersten seriösen Arbeiten gab es erst in den
       1980er-Jahren. Es war ja auch erst 1982, dass der damalige Bundeskanzler
       Helmut Schmidt als erster deutscher Nachkriegspolitiker vom Völkermord
       gegenüber den Roma und Sinti sprach. Davor wurden alle Wiedergutmachungen,
       die Menschen beantragten, abgelehnt, weil die, die uns in die
       Konzentrationslager gebracht hatten, später vor Gericht als Experten saßen.
       Da sagten sie, wir seien nicht aus der Ethnie heraus vernichtet worden,
       sondern aus kriminalpräventiven Gründen. Nach dem Prinzip: „Ich stecke dich
       ins KZ, damit du nicht mehr klauen kannst.“
       
       Und warum ging es nicht über die ethnische Ebene? 
       
       Weil wir ein indoarisches Volk sind und darum wäre es für die Nazis
       schwierig geworden, auf der ethnischen Ebene zu argumentieren, dass man als
       Arier die Indoarier vernichten möchte. Deshalb hat man dieses Konstrukt des
       asozialen kriminellen „Zigeuners“ hochstilisiert. Im Gegensatz zum
       Antisemitismus, der 1945 einen Bruch erlitt durch jüdische amerikanische
       Forscher, die das Thema aufgriffen und publik machten, hatten wir diese
       Möglichkeit nicht.
       
       Wann ging es mit der Antiziganismusaufklärung los? 
       
       So richtig begann sie erst 2003 mit der Gründung des Europäischen
       [5][Zentrums für Antiziganismusaufklärung] von mir hier in Hamburg. Damals
       haben wir angefangen, Antiziganismusforscher aus ganz Europa
       zusammenzuholen, um die Forschung anzutreiben und überhaupt erst als Thema
       zu etablieren. Was wir auch hingekriegt haben, aber nur wegen [6][Borat] –
       diesem idiotischen Film.
       
       Eine Satire aus den USA von Sascha Baron Cohen aus dem Jahr 2006. 
       
       Da gab es eine antiziganistische Werbekampagne. Das kann man sich gar nicht
       vorstellen. Von dem Werbefilm bis hin zu der Webseite, wo Sachen
       draufstanden wie: „Willst du schönen Goldschmuck haben, musst du ihn dir
       aus dem Mund vom toten Zigeuner rausbrechen“. Wir haben es geschafft, dass
       Reuters in den USA auf Englisch berichtete. Damit kam dann international
       hoch, dass wir [7][in Hamburg gegen den Film klagen] wegen Volksverhetzung
       und Antiziganismus. Wir haben es hinbekommen, dass die Werbekampagne nach
       massiver Auseinandersetzung mit 20th Century Fox [8][gestoppt worden ist].
       Das hat dazu geführt, dass Antiziganismus als Begriff eingeführt wurde.
       
       Reicht die Antiziganismusaufklärung aus? 
       
       Nein, es ist noch sehr viel nachzuholen. Wir müssen überhaupt erst mal als
       Menschen gesehen werden, die man wahrnimmt wie sich selber.
       
       Wie sieht es bei staatlichen Institutionen aus? Der Polizei zum Beispiel? 
       
       Eine schöne Veranstaltung gab es bei einer Abschlusszeremonie der Hamburger
       Polizeischule. Da saß Emil Weiss, Sprecher der Sinti-Siedlung in
       Wilhelmsburg, auf der Bühne und erzählte 300 Polizeischülern: „Wissen Sie,
       ich habe noch nie was mit der Polizei zu tun gehabt. Nur einmal, als Sie
       mich aus der Wohnung herausgeholt haben und zum KZ begleitet haben.“ Das
       sind solche Sachen, die müssen junge Beamte erfahren, um zu wissen, wie sie
       mit solchen Menschen umgehen müssen.
       
       Gibt es deshalb auch ein großes Misstrauen von Roma und Sinti gegenüber
       staatlichen Institutionen? 
       
       Die meisten Leute sind bis heute transgenerational traumatisiert, weil die
       Täter auch nie ihre Schuld eingestanden haben. Dann kann man das Trauma
       nicht aufarbeiten. Das ist der Rucksack, den Sinti in Deutschland tragen:
       Da hat jeder jemanden verloren. Dann gibt es Triggerängste, zum Beispiel
       vor der Polizei, die einen ja in die Konzentrationslager verbracht haben.
       Die Juden wurden von der Gestapo deportiert, wir von der Polizei vor der
       Tür, die dann nach 1945 weiter auf der Wache saß.
       
       16 Jan 2022
       
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