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       # taz.de -- Zentralasien-Experte über Kasachstan: „Nasarbajew-Ära endgültig zu Ende“
       
       > Durch die Proteste hat Kasachstans Präsident Tokajew seine Macht
       > konsolidiert, sagt Temur Umarow. Die Zukunft des Landes sieht er als
       > „Belarus-Kopie“.
       
   IMG Bild: Während der Proteste mit Schlamm beschmiert: Kunstwerk, das Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew zeigt
       
       taz: Herr Umarow, warum sind die Proteste der kasachischen Führung so
       entglitten, dass diese [1][um Hilfe aus Moskau] gebeten hat? 
       
       Temur Umarow: Dass die Demonstrationen, die im Westen des Landes mit
       sozioökonomischen Forderungen begannen, so ausarten, konnte niemand
       vorhersehen. Das hat alle, [2][in Kasachstan und sonst auf der Welt,
       überrascht]. Allerdings hat das autoritäre Regime in Kasachstan, wie das
       autoritären Regimes letztlich eigen ist, systematisch Fehler begangen. Die
       Verbindung zum Volk war nicht vorhanden. Die Herrscher hatten keine Kanäle,
       um die Stimmungen in der Gesellschaft zu erfassen. Die Radikalisierung auf
       den Straßen Kasachstans war präzedenzlos, und doch haben sich hier viele
       Elemente miteinander vermischt: die soziale Ungerechtigkeit, die
       Unzufriedenheit mit der korrupten Elite, der Wille zu politischer
       Beteiligung. Und plötzlich gesellten sich auch Schläger mit kriminellem
       Hintergrund hinzu. Es eskalierte.
       
       Sehen wir hier einen Kampf der Clans? 
       
       Innerhalb der kasachischen Elite hat es schon immer Konflikte gegeben. Dem
       jetzigen Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew war stets bewusst, dass er
       nicht von allen Gefolgsleuten Nursultan Nasarbajews als dessen Nachfolger
       getragen wird. Er wusste um den Druck, sprach auch öfter von Sabotage
       seiner Entscheidungen. Die Proteste kamen ihm geradewegs zupass. Er hat in
       ihnen eine Chance für sich gesehen und sie sofort für seine Zwecke genutzt:
       um seine Macht zu konsolidieren und um sich Nasarbajews und dessen
       mächtiger Umgebung zu entledigen. Es hat in diesen Tagen der Gewalt eine
       wirkliche Übergabe der Macht stattgefunden.
       
       Hat sich Tokajew von Nasarbajew freigeschwommen? 
       
       Eindeutig ja. Er hat mit seiner Entscheidung, die Nasarbajew-treue
       Regierung zu entlassen, mit dem [3][Schießbefehl], dem Hilferuf nach dem
       von Russland angeführten Militärbündnis ODKB sowie der Festnahme des
       Vize-Geheimdienstchefs Karim Massimow, eines Beraters von Nasarbajew,
       gezeigt, dass er nun der wirkliche Anführer Kasachstans ist. Ob wirklich
       Massimow hinter den gewaltsamen Aktionen steckt, lässt sich nicht mit
       Sicherheit sagen. Tokajew will aber alle glauben lassen, dass das Ganze
       sorgfältig geplant war. Eine Anklage wurde Massimow noch nicht präsentiert.
       Vielleicht will Tokajew seinem Vorgänger auch nicht allzu sehr auf die Füße
       treten. Nasarbajew aber sind jetzt alle Hebel der Macht genommen.
       
       Wo ist der Mann, der sich „Führer der Nation“ nennt? 
       
       Nasarbajew hat sich seit Ende Dezember nicht mehr in der Öffentlichkeit
       gezeigt. Man kann nicht einmal sagen, ob er noch im Land ist oder sich
       doch, wie einige Beobachter behaupten, in China oder in Dubai aufhält.
       Nasarbajews Ära ist endgültig zu Ende. Tokajews Ära aber hat noch nicht
       angefangen. In der Gesellschaft wird er weiterhin mit Nasarbajew
       assoziiert. Tokajews Popularität ist nicht groß im Volk.
       
       Sie dürfte kaum größer werden, jetzt, wo er Moskau zu Hilfe gerufen hat. 
       
       Tokajew hat das Land tatsächlich noch [4][abhängiger von Russland] gemacht.
       Er tut gerade viel dafür, um das Narrativ, dass Kasachstan von „Banden von
       außen“ angegriffen worden sei, in der Gesellschaft zu etablieren. Und gegen
       internationalen Terrorismus komme Kasachstan allein nicht an, lautet seine
       Lesart. Tokajew hatte offenbar wirklich Angst, dass die Sicherheitsleute
       nicht hinter ihm stehen könnten, dass es zu Ende gehen könnte mit ihm.
       Indem er russische Hilfe angefordert hat, zeigte er auch nach innen, dass
       er nicht machtlos ist.
       
       Wohin wird er Kasachstan führen? 
       
       Die Zukunft Kasachstans ist als eine Mischung der Gegenwart von Russland
       und Belarus zu sehen. Kasachstan dürfte eine Art Kopie von Belarus werden.
       Es wird Hunderte von Anklagen wegen Terrorismus geben, und das ist
       gefährlich. Diese Anklagen werden sich gegen alle richten: die
       Demonstranten, die Aktivisten, die Journalisten, die Menschenrechtler. Die
       kasachische Opposition hatte es schon immer schwer im Land, jetzt wird sie
       wohl endgültig ausgeschaltet werden.
       
       12 Jan 2022
       
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