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       # taz.de -- Stadträtin zur Verkehrswende: „Vieles geht nicht schnell genug“
       
       > Die Grüne Annika Gerold ist neue Stadträtin in Friedrichshain-Kreuzberg.
       > Zur Verkehrswende zählt für sie, Parken kostenpflichtig zu machen.
       
   IMG Bild: In der Bergmannstraße muss es langsam gehen, schneller als 10 ist nicht mehr
       
       taz: Frau Gerold, Sie sind jetzt als Stadträtin verantwortlich für die
       Umsetzung der [1][Mobilitätswende in Friedrichshain-Kreuzberg]. Wie sehen
       Sie sich dafür gewappnet? 
       
       Annika Gerold: Gut. Ich setze mich seit Jahren für die Mobilitätswende im
       Bezirk und in der Stadt ein. Zusammen mit vielen engagierten Menschen vor
       Ort und aus zahlreichen Initiativen habe ich als Bezirksverordnete und
       Fraktionssprecherin für die Verkehrswende gekämpft. Ich freue mich jetzt
       auf die Aufgabe, als Stadträtin die praktische Umsetzung voranzutreiben.
       Und ich weiß ein gut aufgestelltes Amt an meiner Seite, das in den letzten
       Jahren gezeigt hat, wie die Verkehrswende umgesetzt werden kann. Ich bin
       froh, dass es in der Vergangenheit bereits gelungen ist, Personal
       aufzustocken und Strukturen leistungsfähiger zu machen. Zum Beispiel wurde
       im Fachbereich Straße eine neue Gruppe gegründet, die sich gezielt mit dem
       Thema Mobilitätswende befasst. Das ist ein großartiger Ausgangspunkt, auch
       wenn es noch lange nicht reicht.
       
       Unter der Zuständigkeit von Florian Schmidt und Monika Herrmann, beide wie
       Sie von den Grünen, und mit Felix Weisbrich als Leiter des Straßen- und
       Grünflächenamts ist ja schon eine Menge bewegt worden in den letzten
       Jahren. 
       
       Ja, in den letzten zwei Jahren ist viel passiert. Es wurden ja nicht nur
       Pop-up-Radspuren eingerichtet, sondern auch Fahrradstraßen, Spielstraßen
       und Fußgänger*innenzonen. Für den Bergmannkiez gibt es ein umfangreiches
       [2][Konzept zur Verkehrsberuhigung] und für mehr Flächengerechtigkeit. In
       der künftigen Fußgänger*innenzone Bergmannstraße wird es eine ganz
       neue blau-grüne Infrastruktur geben – das geht viel weiter, als jetzt in
       der vorläufigen Gestaltung sichtbar ist. Auf all das kann ich aufbauen.
       Hinzu kommt, dass mit den Pop-up-Streifen im Bezirk eine neue Methodik
       entwickelt wurde: Infrastruktur wird vorläufig eingerichtet und dabei
       getestet. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen kann sie dann verstetigt
       werden. Den Großteil der temporären Anlagen haben wir 2021 in dauerhafte
       Infrastruktur umgewandelt.
       
       Und das bringt einen zeitlichen Vorteil. 
       
       Genau, Infrastrukturplanung dauert in Deutschland insbesondere angesichts
       der notwendigen Transformationen und der Klimanotlage einfach zu lange. Wir
       müssen da unbedingt schneller vorankommen und den klimagerechten Umbau der
       Stadt vorantreiben. Und auch wenn die Zusammenarbeit mit der
       Senatsverwaltung in der vergangenen Legislaturperiode sehr gut funktioniert
       hat, ist es mir wichtig zu betonen: Das Bezirksamt braucht mehr Ressourcen,
       um seine Aufgaben erfüllen zu können. Um den künftigen klimatischen
       Herausforderungen gerecht zu werden, müssen wir die Flächengerechtigkeit
       weiter vorantreiben, Flächen entsiegeln und im Zuge der Schwammstadt dafür
       sorgen, dass das Wasser bei Starkregenereignissen vor Ort versickern kann.
       
       Was sind für Sie in den kommenden Jahren die vordringlichsten Projekte? 
       
       Ganz wichtig ist mir die Einrichtung von Radverkehrsanlagen an allen
       Hauptverkehrsstraßen, wie sie das Mobilitätsgesetz vorgibt. Auch in
       Friedrichshain-Kreuzberg ist das ja noch längst nicht überall umgesetzt.
       Die Zuständigkeit dafür soll laut Koalitionsvertrag an die Senatsverwaltung
       übergehen, aber wir haben als Bezirk den politischen Auftrag
       sicherzustellen, dass es auch umgesetzt wird. Ein weiterer Schwerpunkt ist
       mehr Verkehrssicherheit für die schwächeren Verkehrsteilnehmer*innen, also
       Radfahrer*innen und Fußgänger*innen, ganz besonders natürlich Kinder.
       Genauso wie Verkehrsberuhigung in den Wohnkiezen. Hier gibt es ja bereits
       viel Engagement aus der Bürger*innenschaft vor Ort, die sich für
       Kiezblocks einsetzen und entsprechend Anträge in der BVV eingebracht haben.
       Auch die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung auf den gesamten Bezirk
       muss in den nächsten Jahren umgesetzt werden.
       
       Die sollte ja berlinweit längst viel weiter sein. 
       
       Richtig, schon im Koalitionsvertrag von 2016 stand die flächendeckende
       Parkraumbewirtschaftung innerhalb des S-Bahn-Rings. Mein Ziel ist, dass
       Parken bis zum Ende dieser Wahlperiode im ganzen Bezirk kostenpflichtig ist
       – es ist einfach eine sehr wirkungsvolle Maßnahme. Wenn Parkplätze im
       öffentlichen Straßenland nicht kostenlos zur Verfügung stehen, überlegen
       Menschen eher, wie sie ihre Wege zurücklegen. Ich finde auch, dass die
       Anhebung der Gebühren, die nach der neuen Koalitionsvereinbarung vorgesehen
       ist, in die richtige Richtung geht. Allerdings könnten die Gebühren aus
       meiner Sicht noch höher sein. Verglichen mit anderen europäischen
       Metropolen ist das Anwohnerparken in Berlin auch nach der Erhöhung recht
       günstig.
       
       Noch mal fünf Jahre ist aber ganz schön lange. 
       
       Das ist schon die Beschleunigungsvariante, bei der wir die Effekte der
       Digitalisierung nutzen werden. Wir werden die Kontrolle der Zonen
       digitalisieren – und das erfordert andere Schritte, kommt aber anders als
       die analogen Ansätze, bei der sehr viel Personal zu gewinnen wäre,
       überhaupt in akzeptablen Zeiträumen zum Ziel. Es fängt damit an, dass ganz
       andere Automaten zum Einsatz kommen. Da stellt sich aktuell also die Frage,
       ob wir diese herkömmlichen Geräte überhaupt noch beschaffen sollten.
       
       Digital kontrollieren heißt, dass Kameras die Autokennzeichen regelmäßig
       scannen und dabei abgeglichen wird, ob die FahrerInnen bezahlt haben. Wozu
       braucht man das? 
       
       Ohne eine hohe Kontrolldichte erfüllt eine Parkraumbewirtschaftung nicht
       ihren Zweck, weil es sonst schnell zu Verstößen kommt. Und weil es uns auch
       im Ordnungsamt an Personal fehlt, wird eine Ausweitung der Parkzonen nach
       dem heutigen Prinzip immer schwieriger. Die digitale Kontrolle von
       Verstößen ist dagegen nicht so personalintensiv. Ein Modellprojekt soll
       2023 starten, vorher brauchen wir noch eine Änderung der
       Straßenverkehrsordnung, damit Halter*innen verpflichtet werden können,
       ihr Kennzeichen anzugeben. Die sollte allerdings bald kommen, denn die
       digitale Parkraumkontrolle steht auch im Koalitionsvertrag auf Bundesebene.
       
       Sie sagten, auch das Ordnungsamt ist unterbesetzt. Aber immerhin ist es
       jetzt auch unter Ihrer Zuständigkeit, vorher war es lange SPD-Domäne. Ist
       das eine Chance? 
       
       Ja, weil sich dadurch viele Synergien und Schnittstellen ergeben – und die
       möchte ich nutzen. Aber auch in der Vergangenheit sind Straßen- und
       Grünflächenamt und das Ordnungsamt zum Beispiel bei der Verstetigung der
       Pop-up-Spuren auf dem Kottbusser Damm konzertiert vorgegangen.
       
       Täuscht denn der Eindruck, dass der Bezirk bislang viel zu wenig Druck etwa
       auf FalschparkerInnen ausübt? Wie auf der Oranienstraße, da schert sich oft
       niemand um das Parkverbot. 
       
       Leider erlebe ich das Problem von rücksichtslosen Falschparker*innen, die
       mit ihrem Verhalten häufig andere Verkehrsteilnehmer*innen gefährden,
       in der ganzen Stadt. Hier brauchen wir einen stärkeren Fokus und mehr
       Kontrollen, um zu mehr Verkehrssicherheit zu kommen. Das Ordnungsamt kann
       mit seinen Personalkapazitäten im Allgemeinen Ordnungsdienst, also den
       Kolleg*innen, die Falschparken ahnden, leider nicht überall gleichzeitig
       sein. Aktuell sind im Bezirk im Allgemeinen Ordnungsdienst 34 Personen im
       Schichtdienst beschäftigt, die neben Falschparken auch die
       Infektionsschutzverordnung, das Grünanlagengesetz, illegales Müllabladen
       und viele andere Ordnungswidrigkeiten überprüfen sollen.
       
       Aber es wird doch hier und da abgeschleppt … 
       
       Die Kolleg*innen führen regelmäßig sogenannte Schwerpunkteinsätze mit
       einem Abschleppunternehmen durch, das die falsch abgestellten Fahrzeuge
       umsetzt – gerade auch im Bereich der Oranienstraße. Aber leider sind solche
       Einsätze nicht nachhaltig. Sobald die Kolleg*innen weg sind, wird
       schnell wieder falsch geparkt. Ich habe erfreut zur Kenntnis genommen, dass
       die Koalition auf Landesebene den Ordnungsämtern den Rücken stärken wird.
       Die konkreten Maßnahmen müssen jetzt schnell benannt und umgesetzt werden.
       Auch die im Koalitionsvertrag angekündigte Prüfung einer digitalen Lösung
       zur Ahndung von Verkehrsdelikten im ruhenden Verkehr sowie die Ankündigung,
       die Schwerpunkteinsätze der Polizei im Sinne der Verkehrssicherheit zu
       verstärken, begrüße ich ausdrücklich.
       
       Als Verkehrspolitikerin laufen Sie in Berlin Gefahr, dass die
       Mobilitätsverbände und -aktivistInnen Sie vor sich hertreiben. Keine sehr
       angenehme Position. 
       
       Natürlich ist es so, dass es eine hohe Erwartungshaltung gibt. Vieles geht
       ja auch nicht schnell genug, das empfinden wir in der Verwaltung doch
       genauso. Aber wir haben angefangen, wir werden schneller und wollen unser
       Bestes geben. Trotzdem wird der Druck nicht ausbleiben, das ist mir schon
       klar. Den gilt es auszuhalten. In gewisser Weise ist dieser Druck ja auch
       Motivation und Ansporn für uns. Denn er macht klar, dass es in der
       Zivilgesellschaft einen starken Willen zur Veränderung gibt – hin zu einer
       flächengerechteren Stadt.
       
       Teilweise kommt er auch noch von der anderen Seite: Im Bergmannkiez und am
       Lausitzer Platz, wo Parkplätze weggefallen sind, protestieren etliche
       AnwohnerInnen. 
       
       Das ist richtig, es sind ja auch eingewöhnte Alltagsroutinen der Menschen,
       die durch das Verwaltungshandeln verändert werden. Aber für uns spricht,
       dass wir nicht nur durch unser Wahlergebnis legitimiert sind, sondern auch
       durch Umfrage- und Beteiligungsergebnisse. Da gibt es Zuspruch auf vielen
       Ebenen. Und die Erfahrung aus Städten, die schon weiter sind bei der
       Verkehrswende, zeigt, dass auch die Skeptiker*innen nach einer
       Übergangszeit die Vorteile stärker sehen als gegebenenfalls vorhandene
       Nachteile.
       
       13 Jan 2022
       
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