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       # taz.de -- Notfallsanitäter über Triage: „Im Spannungsfeld der Medizin“
       
       > Die Kliniken geraten an ihre Grenzen. Als Notfallsanitäter und Berater
       > für klinischen Katastrophenschutz weiß Philipp Polster, was Triage
       > bedeutet.
       
   IMG Bild: Präventiv-Triage bedeutet: Keinen Patienten aufnehmen, um Betten freizuhalten
       
       taz: Herr Polster, das [1][Bundesverfassungsgericht hat vergangene Woche
       den Bundestag verpflichtet], Menschen mit Behinderung im Fall einer Triage
       vor Diskriminierung zu bewahren. Wie verändert das die tägliche Arbeit in
       den Krankenhäusern? 
       
       Philipp Polster: Es gibt einen entscheidenden Satz, und da zitiere ich
       einmal die [2][Pressemeldung]: Es müsse sichergestellt sein, dass „allein
       nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit
       entschieden wird“. Das heißt, die akute klinische Betrachtung wird in den
       Vordergrund gehoben, und das ist ganz essenziell.
       
       Sie können nicht sagen, der Mensch hat eine Behinderung, vielleicht eine
       Komorbidität, und deswegen bekommt er keinen Platz. Dass das nicht geht,
       ist [3][absolut zu befürworten]. Falls aber akute Symptome, wie zum
       Beispiel Nierenversagen bei Diabetes, die Überlebenswahrscheinlichkeit in
       diesem Moment senken, dann dürfen die auch berücksichtigt werden. Ich bin
       mir allerdings nicht sicher, ob man das komplexe Thema Triage in ein Gesetz
       packen kann. Da habe ich wirklich Angst vor.
       
       Inwiefern könnte das schwierig sein? 
       
       [4][Triage ist immer] eine sehr, sehr dynamische Situation. Wir arbeiten
       hier in einem absoluten Spannungs- und Grenzfeld der Medizin. Wenn die
       Oberärztinnen und Oberärzte der Intensivstationen im Triageprozess eine
       Fehlentscheidung treffen, dann haben wir nicht einen Toten, sondern zwei
       Tote. Das ist eine Aufgabe, die zu den fürchterlichsten gehört, die Sie
       haben können.
       
       Sie sind selbst in der Politik bei den Linken aktiv. Auf wen sollte bei der
       Gesetzgebung gehört werden, damit das Gesetz der Realität angemessen ist? 
       
       Die müssen auf die Fachverbände hören, wie die Divi, [5][die Deutsche
       Gesellschaft für Intensivmedizin]. Das sind Praktiker. Aber ich befürchte,
       dass man zu viele Interessengruppen in die Entscheidung einbindet und damit
       sehr viele Sonderlösungen einbaut. Das könnte dann zu einem Gesetz führen,
       das die Kliniken eben nicht schnell anwenden können. Dann besteht die
       Gefahr, dass sie mehr Fälle ablehnen als bisher. Hauptsache, man kann ihnen
       keine Übertretung an anderer Stelle nachweisen.
       
       Wie viel Zeit haben die verantwortlichen Ärzt*innen, um zu entscheiden, wen
       sie behandeln und wen nicht? 
       
       Zur Triage lässt sich das nicht so einfach sagen, denn es gibt nicht die
       eine Triage. Im Notfall haben sie unter 10 Minuten. Typisches Beispiel: Wir
       sind im Rettungsdienst irgendwo draußen und haben einen Patienten
       übernommen, der wird beatmet. Dann können wir keine Stunde warten, bis sich
       das Krankenhaus überlegt hat, ob es den Patienten nimmt. In dem Moment
       müssen die Kliniken sehr schnell entscheiden.
       
       Was meinen Sie damit, dass es nicht „die eine Triage“ gibt? 
       
       Vereinfacht können wir von drei Arten sprechen: Ex-ante-, Ex-post- und
       Präventiv-Triage. Bei der Ex-ante-Triage haben Sie zum Beispiel nur für
       fünf Patienten Behandlungsmöglichkeiten, aber müssten zehn Patienten
       behandeln. Dann müssen Sie entscheiden: Wer kriegt jetzt diese fünf
       verfügbaren Plätze? Diese Situation ist aber gar nicht so häufig, wie man
       denkt. Es ist selten, dass so viele Patienten zeitgleich ein Intensivbett
       brauchen.
       
       Was passiert bei der Ex-post-Triage? 
       
       Da sehe ich die viel größere Gefahr der Benachteiligung. Es geht nicht um
       einen Akutfall, sondern Sie haben zum Beispiel einen Patienten seit 14
       Tagen auf der Intensiv und ihm geht es eigentlich schon wieder ganz gut.
       So, und jetzt kriegen Sie einen jungen Patienten rein, von einem
       Verkehrsunfall. Er wird sicher sterben, wenn Sie ihn jetzt nicht aufnehmen.
       
       Eigentlich wollten Sie den ersten Patienten noch zwei Tage auf der
       Intensivstation lassen, aber schieben ihn jetzt früher auf die
       Normalstation und hoffen, er wird es schon machen. Und wenn nicht, dann
       nehmen Sie ihn wieder auf und schieben wen anders auf die Normalstation. Da
       können sich ganz krasse Bettenkarusselle entwickeln. Diese Ex-post-Triage
       könnte auch dazu führen, dass Therapien eingestellt werden. Das wäre aus
       meiner Sicht ein unfassbar unethischer Vorgang, auch wenn ich ihn moralisch
       verstehen kann. Aber das ist zum Glück auch schon mit der derzeitigen
       Gesetzeslage nicht machbar.
       
       Sie sprachen noch von einer dritten Art der Triage? 
       
       Die sogenannte Präventiv-Triage. Das sind die Fälle, in denen Sie gar
       keinen zweiten Patienten haben, sondern Sie sagen vorher: Den 85-Jährigen
       nehme ich gar nicht auf, damit ich noch ein Bett habe, falls im Haus etwas
       passiert oder Ähnliches. Offiziell gibt es das in Deutschland nicht. Ich
       kann Ihnen aber sagen, ich habe selbst schon Fälle erlebt, wo das
       vorgekommen ist. Das ist natürlich ein ganz massives Problem.
       
       Wie hat sich das Thema Triage durch die Pandemie verändert? 
       
       Oft haben wir keinen schnellen Plan B mehr, weil es zu wenige Plätze gibt.
       Wenn wir früher eine Absage von einem Krankenhaus bekamen, dann haben wir
       das nächste angerufen. Das war dann zwar schlecht für die Patienten, weil
       wir vielleicht eine halbe Stunde länger fahren mussten.
       
       Aber jetzt bekommen wir von mehreren Krankenhäusern die Antwort: „Wir
       können eure Patienten nicht aufnehmen.“ Mein persönlicher Rekord sind neun
       Krankenhäuser. Da reden wir nicht mal von Intensivpflegepatienten, sondern
       von normalen Patienten. Der Patient mit den neun Krankenhäusern hatte eine
       ganz normale Oberschenkelfraktur, wie sie jeden Tag hunderte Male in
       Deutschland vorkommt.
       
       Ich hatte das eigentlich so verstanden: Solange im Schnitt mehr als zwei
       Intensivbetten pro Standort frei sind, können alle Notfälle behandelt
       werden. Aktuell liegen wir doch darüber? 
       
       Auch das kann man so pauschal nicht sagen. Ein neurologisches Bett auf
       einer Intensivstation wird Ihnen für den chirurgischen Patienten wenig
       bringen. Oder Sie können keinen Covid-Patienten mit einem
       Nicht-Covid-Patienten in ein Zweibettzimmer reinlegen.
       
       Weil der sich anstecken könnte? 
       
       Genau. Unter Umständen hat der Nicht-Covid-Patient noch einen anderen Keim.
       Dann haben Sie wieder ein Problem. Oder Sie haben kein Beatmungsbett für
       einen beatmungspflichtigen Patienten. Nicht jedes Intensivbett kann als
       Beatmungsbett betrieben werden, dafür fehlt oft einfach das Personal.
       
       Gerade die letzten Betten sind häufig keine Beatmungsbetten. Ein Beispiel
       aus dem aktuellen Alltag: 55 Jahre alt, Herzinfarkt bekommen vor
       Weihnachten, erfolgreich wiederbelebt. Was machen Sie mit dem? Der ist
       beatmungspflichtig. Da ist es schlecht, wenn Sie im Landkreis zwar noch
       fünf Intensivbetten haben, aber keins davon Beatmungsmöglichkeiten hat. Wir
       sollten uns [6][nicht ausschließlich an freien Betten orientieren]. Es ist
       immer ein ganz, ganz schwieriges Spiel, das richtige Bett zu finden.
       
       4 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /BVerfG-zu-Menschen-mit-Behinderung/!5821967
   DIR [2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-109.html
   DIR [3] /Ral-Krauthausen-ueber-BVerfG-Urteil/!5821966
   DIR [4] /Corona-in-den-Kliniken/!5818729
   DIR [5] https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-intensiv-und-notfallmediziner-aktualisieren-klinisch-ethische-empfehlungen-zur-priorisierung-und-triage-bei-covid-19
   DIR [6] /Auslastung-der-Intensivstationen/!5812065
       
       ## AUTOREN
       
   DIR David Muschenich
       
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