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       # taz.de -- Litauen kriminalisiert Flüchtlingshilfe: Sanktionen gegen Hilfsgruppen
       
       > Litauens Regierung hält den humanitären Einsatz an der Grenze zu Belarus
       > für staatsfeindliches Handeln. Sie besteht auf illegale Pushbacks.
       
   IMG Bild: Wenig einladend: Stacheldraht an der litauisch-belarussischen Grenze
       
       Stockholm taz | „Ich sitze hier seit zwei Tagen im Wald. Ich kann nicht
       stehen oder laufen. Ich bin sehr krank.“ So lautete der Hilferuf eines
       syrischen Flüchtlings, den die MitarbeiterInnen von „Sienos Grupė“
       (Grenz-Gruppe) am Heiligabend über ihr Hilfstelefon erreichte.
       
       Die aus rund 30 Personen bestehende humanitäre Organisation versucht
       Menschen zu helfen, die an der [1][litauisch-belarussischen Grenze] in Not
       geraten sind. „Wir haben ihn dann zusammengesackt an einem Baum sitzend
       gefunden“, berichtete Mantautas Šulskus von Sienos Grupė im litauischen
       Fernsehen, ihn mit warmem Tee, etwas zu essen und neuer warmer Kleidung
       versorgt und außerdem Ärzte ohne Grenzen alarmiert.
       
       Drei Mediziner von Ärzte ohne Grenzen untersuchten den Mann und
       entschieden, er müsse dringend in einem Krankenhaus behandelt werden. Der
       Grenzschutz wurde eingeschaltet, der Flüchtling wurde erst im grenznahen
       Druskininkai behandelt und dann ins 130 Kilometer entfernte Vilnius
       verlegt.
       
       Gegen die Vertreter von Ärzte ohne Grenzen und die HelferInnen von Sienos
       Grupė wurden letzte Woche Geldbußen von jeweils 100 Euro wegen unerlaubten
       Aufenthalts im Grenzgebiet verhängt, außerdem wurde ein Verfahren wegen des
       Verdachts des Menschenschmuggels eingeleitet.
       
       ## Keine Erlaubnis zum Helfen vor Ort
       
       „Mit allem Respekt vor den Ärzten: Auch sie müssen sich an die Vorschriften
       halten“, begründete Grenzschutzsprecher Giedrius Mišutis das im
       Fernsehsender LRT: Denn zum Betreten der Grenzzone bedürfe es eben einer
       Erlaubnis.
       
       Die Erlaubnispflicht war vor einigen Monaten im Rahmen einer umstrittenen
       Ausnahmegesetzgebung eingeführt worden und mit der gebe es leider ein
       kleines Problem, sagt Mantautas Šulskus: „Nach unserer Erfahrung wird eine
       solche Erlaubnis nie erteilt.“
       
       Indirekt bestätigt das der stellvertretende litauische Innenminister
       Kęstutis Lančinskas. Nur VertreterInnen des Roten Kreuz, der UNHCR und der
       UN-Migrationsorganisation IOM hätten das Recht, die Grenzzone zu betreten.
       Was die Sienos Grupė mache, seien „staatsfeindliche Aktivitäten, die das
       Vertrauen in litauische Institutionen untergraben“.
       
       Das Innenministerium bestätigte in der vergangenen Woche
       Medieninformationen, wonach das Fundamental Rights Office (FRO) der
       EU-Grenzschutzagentur Frontex Litauens Umgang mit den Flüchtlingen unter
       verschiedenen Gesichtspunkten bemängelt hat. Etwa, weil man keine Routinen
       habe, um „schutzbedürftige Flüchtlinge“ wie Kinder, schwangere Frauen, alte
       und kranke Menschen und Trafficking-Opfer zu identifizieren und diese
       keinen Pushbacks zu unterziehen. Die gegenwärtige Pushback-Praxis an der
       Grenze zu Belarus verstoße insgesamt gegen internationales Recht.
       
       ## Regierung besteht auf Praxis illegaler Pushbacks
       
       Diese illegalen Pushbacks, die mittlerweile die Regel sind, rechtfertigt
       Vilnius mit einem gerade vom Parlament um weitere sechs Monate verlängerten
       [2][Ausnahmegesetz]. Danach werden keine Asylanträge akzeptiert, die nicht
       an offiziellen Grenzübergangsstellen gestellt werden.
       
       FRO empfiehlt nun konkret, Flüchtlinge, die die „grüne“ Grenze
       überschreiten, vom Grenzschutz zu diesen Grenzübergängen bringen zu lassen,
       damit sie dort legal einen Asylantrag stellen können, statt sie einfach
       nach Belarus zurückzuzwingen.
       
       Das Innenministerium reagierte empört. Man werde, „jedenfalls bis eine
       physische Grenzbarriere errichtet ist“, keinesfalls die jetzige Praxis
       ändern, erklärte Vizeinnenminister Arnoldas Abramavičius. Das käme nämlich
       einer Grenzöffnung gleich. Und laut der Tageszeitung „Diena“ betonte
       Abramavičius außerdem, der Dissens zwischen Litauen und der FRO könne
       letztendlich die Konsequenz haben, „dass die Frontex-Mission ganz
       ausgesetzt werden muss“.
       
       2 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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