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       # taz.de -- Jazzsaxofonistin Lotte Anker: Traumhaftes Timing
       
       > Wie hat sich die dänische Saxofonistin Lotte Anker von Helden und
       > Konventionen gelöst? Durch Improvisation. Porträt einer radikalen
       > Virtuosin.
       
   IMG Bild: Sehnen, Jaulen, Jauchzen: Lotte Anker ist ganz schön rumgekommen
       
       Es geht für mich darum, jede musikalische Situation, in der ich mich
       befinde, zu erforschen und zu überwinden“, erklärt die dänische
       Saxofonistin Lotte Anker. Genrebegrenzungen sind ihr eher suspekt, die
       63-Jährige bezeichnet sich als improvisierende Musikerin. Sie vereint in
       ihrem Spiel Elemente mehrerer Richtungen: Neue Musik, Experimentalmusik,
       Rock, aber auch Zitate aus dem Free Jazz. Dadurch bricht die Künstlerin
       eingefahrene Klangvorstellungen auf. Angesichts dessen, was alles schon
       einmal dagewesen sei, schwebe Jazz grundsätzlich immer in Gefahr, in
       Konventionen zu erstarren, sagt Anker der taz.
       
       Sehnen, Jaulen, Jauchzen: Lotte Ankers Klangpalette auf dem Saxofon verfügt
       über das gesamte Register an Emotionen und Stimmungen, mit allen
       unberechenbaren Zwischentönen und Grauzonen. Man kann das gerade wieder auf
       dem Doppelalbum „Road“ hören, dass Anker zusammen mit dem Trio des
       US-Gitarristen Fred Frith eingespielt hat.
       
       An ihrem Sound wird sofort klar, Anker bewegt sich abseits aller Klischees
       skandinavischer Meditationsübungen. Auf dem ersten der beiden Alben
       überraschen Bassist Jason Hoopes, Jordan Glenn (Schlagzeug) und Frith mit
       dichten Funk- und Rockpassagen, die sich zwischen die ruhigeren, suchenden,
       neoavantgardistischen Klangpanoramen schieben, und für den zweiten Teil
       holen sie Lotte Anker dazu. Die das Tempo souverän variierende Dänin passt
       hervorragend zu den ausschweifenden Sounderkundungen des Trios, und sie
       landet inmitten eines der spannendsten Feldversuche, den es in der
       Improvisationsmusik derzeit gibt.
       
       ## Begegnung mit John Tchicai
       
       Anker studierte eigentlich Literatur, parallel dazu verbrachte sie viel
       Zeit damit, Saxofon zu spielen und Konzerte zu besuchen. Bereits als Kind
       hatte sie Klavier gelernt. Der Kick kam dann durch die frühen Alben der
       US-Band Weather Report und die elektrische Periode von Miles Davis. Lotte
       Anker besuchte verschiedene Musikschulen, entscheidend war dabei die
       Begegnung mit dem [1][Altsaxofonisten John Tchicai].
       
       Tchicai, als Kind kongolesisch-dänischer Eltern in Dänemark aufgewachsen,
       war als einziger europäischer Musiker beim Free-Jazz-Aufbruch in New York
       Mitte der 1960er Jahre dabei gewesen: Tchicai ist an [2][John Coltranes]
       Jahrhundertaufnahme „Ascension“ beteiligt, spielt mit Archie Shepp etwa auf
       „Four for Trane“ und mit Albert Ayler auf „N. Y. Eye and Ear Control“ –
       mythische Musik aus jener Zeit.
       
       In den 1980ern veranstaltete Tchicai in Kopenhagen Jamsessions mit jungen
       Musiker:innen. „An diesen Sonntagabenden konnte alles passieren“, sagt
       Lotte Anker, im Rückblick sei klar, dass sich dadurch ihr Leben verändert
       habe. Sie begann, in einem frei improvisierenden Trio mit dem Gitarristen
       Hasse Poulsen und dem Bassisten Peter Friis Nielsen zu spielen. Oft
       diskutierten und hörten sie vor allem solche Musik, die in der dänischen
       Hauptstadt damals nicht gefragt war.
       
       ## Provozierende Experimente
       
       „Historisch war Kopenhagen stets am US-Mainstream und Modern Jazz
       orientiert, experimentellere Musik blieb dagegen eine überschaubare Szene.
       Unsere Musik wurde von einigen Konservativen sogar als provokant
       wahrgenommen.“ Im Establishment rezipierte man improvisierte Musik vor
       allem als altmodische Reminiszenz an den Free Jazz.
       
       Um 1990 wurde Anker klar, dass sie sich in erster Linie von offenen,
       grenzüberschreitenden Versuchen angezogen fühlte und sich für sie
       „allmählich die Tür zum modernen Jazz schloss“. Sie hatte das Gefühl, ihr
       „Interesse an Neuer Musik mit dem offenen Feld zwischen Free Jazz und
       Improvisation verbinden zu können“. Selbstverständlich war Lotte Anker
       zunächst im Banne von Coltranes Saxofonstil, aber sie erkannte schnell das
       Problem, das in ihrer Ehrfurcht lag.
       
       Sie musste eine eigenständige musikalische Sprache finden – viele
       Saxofonist:innen seien im gewaltigen „Coltrane-Ozean“ untergegangen.
       Anker arbeitete mit Eigenkompositionen und setzte in ihnen konkrete
       strukturelle Vorstellungen um. Allmählich fasste sie international Fuß.
       Einige Jahre spielte sie im Quartett mit Johannes Bauer, Clayton Thomas und
       Paul Lovens, „mehr noisig“ war das Duo mit Fred Lonberg-Holm. Und im Trio
       mit den beiden US-Jazzern Craig Taborn (Piano) und [3][Drummer Gerald
       Cleaver] stand das Grooven zwar im Vordergrund, aber es ging auch „um
       abstrakte Klänge und Harmonien“ und um „oft sehr dichte Energie“.
       
       ## Begegnung mit Marilyn Crispell
       
       Wichtig ist ihr bei alldem das Gespür für „Timing, egal, ob es sich klar um
       pulsbasierte Musik oder Musik ohne hörbaren Puls handelt.“ Um 1997 begann
       Lotte Anker, gemeinsam mit der Pianistin Marilyn Crispell aufzutreten, die
       beiden absolvierten mehrere Tourneen durch die USA und Kanada. Zugleich
       wurde Anker in Kopenhagen Teil eines Musiker- und
       Komponist:innen-Kollektivs, das auch Improvisatoren und
       Freejazzer:innen aus Europa einlud und mit ihnen kollaborierte.
       
       So lud das Trio mit ihr, Nielsen und Poulsen Mitte der 1990er die
       Wuppertaler Free-Jazz-Ikone [4][Peter Brötzmann] zur Tournee ein: „Für mich
       war das eine schöne Erfahrung – vor allem, als ich nach dem ersten Gig
       herausgefunden habe, wie ich Brötzmanns Energy-Playing begegnen kann. Ich
       hatte ihn zwar mehrmals auf Konzerten erlebt, aber direkt neben seinem
       hochvolumigen Sound zu stehen, war noch mal umwerfender.“
       
       Sie erinnert sich, dass solche Aktivitäten allmählich dabei halfen, „eine
       Gemeinschaft in Kopenhagen aufzubauen“. Inzwischen gehören freiere
       Spielweisen in Dänemark, wo es zudem vergleichsweise viele öffentliche
       Subventionen gibt, absolut zum Jazzalltag und werden auch auf großen
       Festivals akzeptiert, weit selbstverständlicher als etwa in Deutschland.
       
       Seit vielen Jahren unterrichtet Lotte Anker am Rhythmic Music Conservatory
       in Kopenhagen und stellt fest, dass es sich mittlerweile „zu einer
       Kunstschule entwickelt“ habe, mit „großer Vielfalt an Genres und
       multidisziplinärer Arbeit“. Und sie betont, wie wichtig das sei: „gerade in
       den stark individualisierten, fragmentierten SoMe-orientierten westlichen
       Gesellschaften der Gegenwart.“
       
       ## Unbekannte Landschaften
       
       Fred Frith, mit dem sie am häufigsten zusammengespielt hat, traf sie
       erstmals 2009. Im Oktober jenes Jahres gingen sie auf „Soundtrips“-Tour in
       Nordrhein-Westfalen, und obwohl bei solchen Konzerten die Gefahr besteht,
       dass man in Gewohnheiten verfällt, waren die Auftritte mit Frith für sie
       nie vorhersehbar. „Jedes Konzert öffnet Türen zu unbekannten und
       überraschenden neuen Klanglandschaften.“ Auf dem aktuellen Album wird das
       deutlich. Die Stücke „The Trees Speak“ und „Sinking In“ wurden live im
       Alten Kino im oberbayerischen Ebersberg aufgenommen.
       
       Lotte Ankers energetisch aufgeladene lange Linien sowie ihre wechselnden
       Tonmodulationen gehen unmittelbar auf die Nervenkunst des Trios um Fred
       Frith ein. „Sinking In“ ist ein sehr sprechendes Bild für das, was während
       der Musik geschieht: aus einer geheimnisvollen, suchenden Grundstimmung
       entsteht langsam eine Energieverdichtung, und das setzt offenkundig genau
       das um, was Lotte Anker als eine ihrer Lieblingsdefinitionen nennt:
       „Improvisation ist Komponieren im Jetzt!“ Man darf gespannt sein, zu
       welchen Volten diese interessante Musikerin auch weiterhin ansetzen wird.
       
       11 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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