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       # taz.de -- Land in Zentralasien: Kasachstan für Anfänger
       
       > Die ehemalige Sowjetrepublik wird derzeit von Unruhen erschüttert. Sie
       > ist reich an Bodenschätzen und hat einen Weltraumbahnhof. Ein Crashkurs.
       
   IMG Bild: Aufräumarbeiten im Rathaus von Almaty: Das Gebäude wurde bei den Protesten zerstört
       
       ## Kasachstan katapultierte sich zum Jahreswechsel in die Schlagzeilen. Aus
       Protesten gegen eine Verdoppelung der Preise für Treibstoff entwickelten
       sich in Windeseile [1][landesweite Unruhen mit mindestens 164 Toten] und
       Tausende Festnahmen. Gab es in der Geschichte des zentralasiatischen Landes
       bereits ähnliche Vorfälle? 
       
       Und ob. Bereits im Dezember 1986 und damit noch zu Sowjetzeiten gingen in
       Almaty (damals noch Alma-Ata) Tausende Demonstrant*innen auf die
       Straße. Der Protest richtete sich gegen die Ernennung des Russen Gennadij
       Kolbin zum neuen Chef der kasachischen KP durch Moskau. Bewaffnete Truppen
       setzten dem „Treiben“ ein Ende, schätzungsweise bis zu 170 Menschen wurden
       getötet. Im Dezember 2011 entlud sich in der westkasachischen Ölstadt
       Schanaozen nach monatelangen Streiks wegen miserabler Bezahlung und
       ebensolchen Arbeitsbedingungen der Zorn der Werktätigen in zweitägigen
       gewaltsamen Protesten. Am Ende waren mindestens 14 Tote zu beklagen
       
       ## Die Wut der Kasach*innen richtete sich bei den jüngsten Protesten vor
       allem gegen ihren autokratischen Ex-Langzeitherrscher Nursultan Nazarbajew
       und dessen Familie. Warum? 
       
       „Alter, hau ab!“, lautete einer der Slogans der Demonstrant*innen. Damit
       ist nicht nur der Umstand gemeint, dass Nazarbajew in der Politik auch nach
       seinem Rücktritt nach 28 Jahren als Staatspräsident 2019 die Fäden weiter
       in der Hand behalten hat. Vielmehr treiben die Menschen die sagenhaften
       Reichtümer von Nazarbajew und seinem korrupten Familienklan auf die Straße.
       Das Vermögen, das der Klan über ein weit verzweigtes Firmenimperium in
       Schlüsselbereichen der Wirtschaft angehäuft hat, wird auf 7 Milliarden
       US-Dollar geschätzt.
       
       Allein in Europa und den USA soll der engste Familienkreis Immobilien im
       Gesamtwert von 785 Millionen Dollar besitzen. Über eine Einkaufstour der
       besonderen Art [2][berichtete unlängst auch die britische Zeitung The
       Telegraph]. So soll Nazarbajews jüngste Tochter Aliya 300 Millionen
       US-Dollar außer Landes gebracht und unter anderem ein Haus in London, ein
       Anwesen in Dubai nebst Villa sowie einen Luxus-Privatjet erworben haben. Wo
       sich Nazarbajew und seine Angehörigen derzeit aufhalten, ist unklar. Der
       81-Jährige, den der Titel „Führer der Nation“ (Elbasy) nebst seinem Anhang
       vor lebenslanger Strafverfolgung schützt, hat sich seit dem 28. Dezember
       2021 nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt.
       
       ## Truppen des von Russland geführten Militärbündnisses Vertrag über
       kollektive Sicherheit (OVKS) sind in Kasachstan einmarschiert, um die Lage
       „zu stabilisieren“. Vor allem Russlands Absicht ist klar: farbige
       Revolutionen, wie in Georgien und der Ukraine, im Keim zu ersticken. Warum
       ist das Land für Moskau sonst noch von Interesse? 
       
       Im Süden Kasachstans befindet sich mit dem Kosmodrom Baikonur [3][der
       größte Raketenstartplatz der Welt]. 1959 schoss die Sowjetunion von hier
       aus den ersten Satelliten, Sputnik-1, in den Orbit. Zwei Jahre später trat
       der russische Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch seine Reise ins All
       an. Seit 1994 hat Russland das Gelände gepachtet, der Vertrag wurde im
       vergangenen Jahr bis 2050 verlängert. Den Spaß lässt sich Moskau jährlich
       mehr als umgerechnet 100 Millionen Euro kosten – und hat auch deswegen kein
       Interesse an Instabilitäten.
       
       ## Kasachstan ist siebeneinhalb mal so groß wie Deutschland. Ein Drittel
       des Landes besteht aus Steppe, mehr als die Hälfte aus Wüsten und
       Halbwüsten. Was gibt es da zu holen?
       
       So einiges. Denn Kasachstan ist eines der rohstoffreichsten Länder der
       Welt. Es besitzt die weltweit größten Chrom- und die zweitgrößten
       Uranreserven, belegt Platz 12 der Länder mit den größten Ölreserven und
       Platz 15 bei den größten Gasreserven. Allein das Ölfeld Kashagan gilt als
       das weltweit größte Ölvorkommen, das in den vergangenen 30 Jahren entdeckt
       wurde, die geschätzte Kapazität liegt bei 18 Milliarden Barrel Öl.
       Kasachstan besitzt außerdem größere Vorkommen an Gold, Zink, Eisenerz und
       Kupfer.
       
       ## Leben in Kasachstan nur Kasach*innen?
       
       Kasachstan hat rund 18,7 Millionen Einwohner*innen. Mit 66 Prozent stellen
       die Kasach*innen die größte der insgesamt etwa 130 ethnischen Gruppen.
       Größte Minderheit sind mit knapp 19 Prozent Russ*innen, 13 Prozent stellen
       Ukrainer*innen, Usbek*innen, Deutsche und Tatar*innen. Unter dem Vorwurf,
       mit dem Feind kollaboriert zu haben, wurden unter Stalin viele Minderheiten
       nach Kasachstan deportiert – allein in der Wolgadeutschen Republik waren
       über 400.000 Menschen betroffen. Zwischen 1999 und 2018 reduzierte sich der
       russische Bevölkerungsanteil von 30 auf rund 20 Prozent. Dieser Trend
       scheint mittlerweile gestoppt.
       
       ## Aqmola, Astana, Nur-Sultan. Wie viele Hauptstädte hat Kasachstan?
       
       Offiziell nur eine, und zwar Nur-Sultan. Den Hauptstadtstatus hat
       Nur-Sultan erst seit 1997, da hieß die Stadt allerdings noch Aqmola, bevor
       sie ein Jahr später in Astana (auf Deutsch Hauptstadt) umbenannt wurde. Ein
       Grund für die Verlegung der Hauptstadt in den Norden des Landes war die
       Hoffnung der kasachischen Regierung, etwaigen separatistischen Bestrebungen
       der mehrheitlich von Russ*innen bewohnten Gebiete im Nordosten des Landes
       besser begegnen zu können.
       
       Die Umbenennung in Nur-Sultan zu Ehren des früheren Präsidenten Nursultan
       Nazarbajew erfolgte 2019 auf Initiative seines Amtsnachfolgers
       Kassim-Schomart Tokajew, der damit den großartigen „Führer“ unsterblich
       machen wollte. Ob er das jetzt, wo er begonnen hat, den Nazarbajew-Klan zu
       entmachten, immer noch will? Die wichtigste Stadt bleibt jedoch nach bis
       1997 tatsächliche Hauptstadt Almaty, hier spielt die Musik. Daher ist es
       auch nicht erstaunlich, dass es gerade hier im Januar zu den
       gewalttätigsten Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und
       Demonstrant*innen kam.
       
       ## Wer ist international die bekannteste Persönlichkeit Kasachstans?
       
       Der Fernsehreporter Borat Sagdijev alias Sacha Baron Cohen. Der britische
       Komiker spielte die Hauptrolle in dem Film „Borat – Kulturelle Lernung von
       Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen“ aus dem
       Jahr 2006. Die Satire zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild Kasachstans,
       entsprechend humorfrei reagierte die kasachische Regierung. Zur
       Besänftigung schickte 20th Century Fox 2007 mehrere Journalist*innen
       aus Europa nach Almaty, um „das wahre Kasachstan“ zu zeigen. Ein
       Einheimischer empfahl den Besucher*innen damals, sich zum Platz der
       Unabhängigkeit zu begeben, wo Nursultan Nazarbajews mit Gold ausgegossener
       Handabdruck in Stein verewigt ist. Ihn zu berühren soll Glück bringen.
       Gesagt, getan. Die Einlösung dieses Versprechens steht leider noch aus.
       
       15 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Unruhen-in-Kasachstan/!5826995
   DIR [2] https://www.telegraph.co.uk/world-news/2022/01/08/kazakh-despots-daughter-went-london-spending-spree-moving-300m/
   DIR [3] /Raketenstart-in-Baikonur/!5615871
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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