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       # taz.de -- Vorbereitung auf die Winterspiele 2022: Trügerische Idylle
       
       > In Yanqing ist für die Olympischen Spiele in China scheinbar alles
       > bestens organisiert. Probleme gibt es aber nicht nur wegen eines
       > Omikron-Ausbruchs.
       
   IMG Bild: Schmuckstück: der „fliegende Schneedrache“, Chinas erste Bobbahn
       
       Wer die Olympischen Winterspiele innerhalb Chinas verfolgt, der meint
       manchmal, einem perfekt funktionierenden Schweizer Uhrwerk zuzuschauen:
       Alles läuft auf Spur, nichts kann die Pläne der Organisatoren
       durcheinanderbringen. Und nun hat auch Chinas mächtiger Staatschef Xi
       Jinping dem olympischen Großereignis seinen Segen gegeben: „Wir werden
       keine Mühen scheuen, der Welt großartige Spiele zu präsentieren. Die Welt
       richtet ihre Augen auf China, und China ist bereit“, sagte Xi bei seiner
       Neujahrsansprache im holzvertäfelten Arbeitszimmer.
       
       [1][Dabei wird wohl kaum ein anderes Sportereignis aus der jüngeren
       Geschichte kontroverser debattiert als die Olympischen Winterspiele in
       Peking.] Während sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen längst als
       endgültige Krönung einer aufstrebenden Weltmacht zelebriert werden, geht es
       im internationalen Diskurs vor allem um Chinas Menschenrechtsverbrechen und
       einen möglichen Boykott. Egal, wie man es dreht und wendet: Peking 2022
       legt schonungslos die auseinanderklaffenden Gräben zwischen China und dem
       Westen offen.
       
       Wer sich auf Spurensuche begibt, wird im Pekinger Diplomatenviertel im
       Chaoyang-Bezirk fündig – eine Gegend, in der die Kontraste der chinesischen
       Hauptstadt frontal aufeinanderprallen: Prachtvolle Botschaftsvillen grenzen
       an eine stalinistische Militärkaserne, vor mediterranen Edelrestaurants
       marschieren Soldatenpatrouillen im Gleichschritt und aus praktisch jedem
       der großgewachsenen Ginkgobäume lugen unzählige Überwachungskameras hervor.
       
       Nachdem die Smartphones vorm Botschaftseingang in einen Tresor weggesperrt
       wurden, redet ein hochrangiger europäischer Diplomat Klartext: „Die
       Sommerspiele 2008 waren rückblickend ein Höhepunkt für China, auch weil sie
       mit vielen Hoffnungen verbunden waren. Die Winterspiele hingegen werden ein
       absoluter Tiefpunkt sein“. Es habe sich die endgültige Gewissheit
       durchgesetzt, dass China unter Xi Jinping seinen nationalistischen
       Konfrontationskurs weiter fortsetzen wird.
       
       ## Weniger Ausländer als in Luxemburg
       
       In der Tat hat sich China seit der Pandemie radikal gewandelt. Die
       geschlossenen Landesgrenzen und strengen Quarantänebestimmungen haben dazu
       geführt, dass in Peking und Shanghai zusammengenommen weniger Ausländer
       leben als im kleinen Luxemburg.
       
       Gleichzeitig hat die digitale Überwachung ein Ausmaß erreicht, das für
       Außenstehende kaum mehr zu begreifen ist: Vor Pekings Wohnanlagen wachen
       Nachbarschaftskomitees mit roten Armbinden, an vielen Hauseingängen sind
       Kameras mit Gesichtserkennung montiert und selbst ein Supermarktbesuch ist
       nicht mehr möglich, ohne sich vorher mit seinem Smartphone digital zu
       registrieren. Das Vorzeigen des „grünen Gesundheitscodes“ ist derart
       essenziell für den chinesischen Alltag geworden, dass sich seit der
       Pandemie etliche Verbrecher, die Jahre zuvor ein Leben auf der Flucht
       führten, nun freiwillig der Polizei gestellt haben.
       
       Doch am Austragungsort selbst scheint die politische Debatte weit weg. Die
       Fahrt nach Yanqing führt zunächst an einförmigen Apartmentsiedlungen
       vorbei, die allmählich kargen Feldern und schließlich schroffen Bergen
       weichen. Die Landschaft ist atemberaubend schön, die Temperaturen sibirisch
       kalt und der Himmel blaut wie aus einem Malkasten. Und dennoch mag sich
       klassische Wintersportstimmung nicht so recht einstellen: Denn auch wenn
       Yanqing in den Fernsehberichten des Staatsfernsehens als weißes
       Winterwunderland porträtiert wird, ist in der Realität weit und breit kein
       Naturschnee zu sehen. Ganz im Gegenteil: Die Berghänge sind derart karg und
       trocken, dass man bei der dürren Landschaft das Gefühl hat, durch einen
       bräunlichen Retrofilter zu blicken.
       
       Für Abhilfe sorgen die 135 Schneekanonen, die bereits seit November auf
       Hochtouren laufen. Zehn Liter pro Sekunde sprühen sie in die Luft, das
       Wasser wird von umliegenden Stauseen Hunderte Meter in die Berge
       hochgeleitet. Allein für die alpine Skipiste werden wohl umgerechnet eine
       Million Kubikmeter benötigt.
       
       ## Umweltschutzgebiet neu definiert
       
       Einer der Männer, der für die weiße Kulisse sorgt, ist Li Xin. Vor der
       internationalen Presse rechtfertigt er den immensen Aufwand, Schnee in die
       Pekinger Berge zu bringen: „Wir verursachen keine chemische Verschmutzung
       bei der Schneegewinnung. Sämtliches Wasser kommt aus einem Stausee, nicht
       von unter der Erde. Und für den Strom benutzen wir nur grüne Quellen“, sagt
       Li. Die Organisatoren sprechen [2][gar von den „nachhaltigsten“ Spielen in
       der olympischen Geschichte]. Dass die alpinen Skipisten jedoch inmitten
       eines Umweltschutzgebiets platziert wurden, passt da wohl kaum ins Bild.
       Die Behörden reagierten prompt mit einer typisch chinesischen Lösung: Die
       Grenzen des Naturschutzparks wurden schlichtweg um die Piste herum
       verschoben.
       
       Und dennoch lässt sich ob der Infrastruktur nur staunen, in welch kurzer
       Zeit die Chinesen ganze Autobahnstrecken und Hochgeschwindigkeitsgleise in
       die Landschaft gesetzt haben. Die Skipisten wirken, als wären sie mit
       Sprengstoff und Betonguss aus den Berghängen gemeißelt. Das olympische Dorf
       in Yanqing wurde vollständig mit einer Fußbodenheizung ausgestattet, sodass
       die Athleten ihre Jacke auch beim Gang zwischen Fitnessstudio und Zimmer zu
       Hause lassen können.
       
       Gerade im Kontrast zur eher bescheidenen Bauweise im südkoreanischen
       Pyeongchang vor vier Jahren wirken die Anlagen in Yanqing hochmodern,
       geradezu monumental – jedoch in der menschenleeren Landschaft auch
       merkwürdig verloren. Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass
       die Austragungsstätten bereits in wenigen Jahren zu regelrechten
       Geisterstädten mutieren.
       
       Den absoluten Superlativ stellt der „fliegende Schneedrache“ dar: Chinas
       erste Bobbahn – und mit einer Strecke von 1,6 Kilometern weltweit die
       längste. Die kurvenreiche Strecke ist vollständig überdacht und beherbergt
       Sitzplätze für 2.000 Zuschauer, denen die Sportler quasi an der Nase
       vorbeirasen. „An sich hatten wir volle Ränge geplant, aber jetzt wird unser
       Konzept noch ausgearbeitet“, sagt Yang Jinkai, zuständig für den Betrieb
       und die Infrastruktur.
       
       ## Roboter als Dienstleister
       
       Spätestens mit dem jüngsten Omikron-Ausbruch in Tianjin, nur wenige
       Autostunden von Peking entfernt, werden sämtliche Pläne wohl ad acta
       gelegt. Ohnehin ist das Corona-Sicherheitskonzept auch im Vergleich zu
       Tokio deutlich strenger: Busse bringen die Athleten von ihren Hotels zu den
       Sportstätten; farblich markierte Zäune stellen sicher, dass die
       Olympiateilnehmer keinen Kontakt mit dem Rest der Bevölkerung aufnehmen.
       Zudem muss ausnahmslos jeder von ihnen täglich einen PCR-Test machen. Und
       1,50 Meter große, silbergraue Dienstleistungsroboter helfen dabei, den
       menschlichen Kontakt auf ein Minimum reduzieren.
       
       Einen unfreiwilligen Vorgeschmack auf die strenge Null-Covid-Politik hat
       der deutsche Rodler Tobias Arlt bereits im November bei einem Weltcuprennen
       in Yanqing erhalten. Ein offenbar fehlerhafter Coronatest wies den
       34-Jährigen fälschlicherweise als positiv aus. „Da ist dann auch schon der
       Krankenwagen vorgefahren, in den ich abgeführt worden bin“, erzählt Arlt
       später im ZDF-Sportstudio. Die nächsten 48 Stunden verbringt der
       Berchtesgadener in einem Kabuff mit mehreren Kakerlaken. Erst nach zwei
       negativen Testergebnissen kann er sein Quarantänezimmer wieder verlassen.
       Gewöhnliche Einreisende nach China haben nicht immer so viel Glück: In
       mehreren Fällen haben positive Coronatests zu mehrmonatigen
       Zwangsaufenthalten zwischen Spital und Quarantänezimmer geführt.
       
       Doch die Coronabestimmungen sind nur eine von mehreren Herausforderungen
       für die Spiele. Auch die politische Debatte hängt wie ein Damoklesschwert
       über der Veranstaltung. Aufgrund der Gräuel gegen die Uiguren in Xinjiang,
       der Repressionen in Hongkong und der immer aggressiveren Rhetorik gegenüber
       Taiwan haben bereits etliche Staaten entschieden, dass sie China auf der
       olympischen Bühne nicht politisch aufwerten wollen. Litauen hatte Anfang
       Dezember als erstes Land einen diplomatischen Boykott angekündigt, [3][es
       folgten die USA], Großbritannien, Australien und Kanada. Auch Japan wird
       laut eigener Aussage keine hochrangigen politischen Vertreter nach Peking
       entsenden. Die europäische Union ringt noch um eine gemeinsame Linie.
       
       Umso naiver wirken die einstigen Aussagen von IOC-Chef Thomas Bach von vor
       20 Jahren: Damals kommentierte der deutsche Sportfunktionär die Wahl
       Pekings als Gastgeber für Olympia 2008. „Zumindest ist eins erreicht: dass
       sich der Blick der Weltöffentlichkeit noch strikter auf China richtet als
       das ohnehin schon der Fall ist. Und diese strenge Beobachtung kann
       natürlich wieder auch zum Wandel beitragen“. Tatsächlich hat sich China
       gewandelt – allerdings anders, als es sich der Westen damals vorgestellt
       hatte.
       
       17 Jan 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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