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       # taz.de -- Theaterstück über geflüchtete Kinder: Mimits Kampf mit den Monstern
       
       > Nikolaus Habjan inszeniert „Fly Ganymed“ in Stuttgart. Puppen übernehmen
       > ästhetisch überzeugend die Rollen von minderjährigen Geflüchteten.
       
   IMG Bild: Adeline Rüss und Anniek Vetter leihen den Puppenköpfen von Mädchen und Jungen Körper und Stimme
       
       „Der Mond fällt nicht vom Himmel. Die Sterne laufen nicht davon.“ Es sind
       Merksätze wie diese, die der Neunjährige wie ein Mantra wiederholt. Sein
       Opa hat sie ihm mit auf die Reise gegeben. Sie versprechen und simulieren
       Stabilität. Doch am Ende muss der Junge feststellen: Sie sind vielleicht
       falsch!
       
       In Paulus Hochgatterers Stück „Fly Ganymed“ ist er da bereits irgendwo in
       Europa gestrandet. Vermutlich in Deutschland – oder in Österreich, wo der
       Autor wie auch der Regisseur [1][Nikolaus Habjan] leben. In einem Land
       jedenfalls, in dem die Toiletten lächerlich sauber sind. Und doch geschieht
       das, was sonst nur in Computerspielen passiert, wenn man seine Endgegner
       nicht packt: Die ganze Welt stürzt zusammen.
       
       Die Geschichte eines Kindes auf der Flucht hat Hochgatterer bereits vor
       zehn Jahren geschrieben. Vor der „Flüchtlingskrise“ von 2015 und [2][vor
       den Berichten aus Lesbos], in denen Ratten an schlafenden Kindern nagen.
       Die Pandemie hat uns nicht empathischer gemacht, wie zu Beginn einige
       hofften, sondern nur das Mitgefühl mit uns selbst aufgeblasen. In diese
       Bubble stößt der Abend im Kammertheater des Schauspiel Stuttgart hinein.
       
       Wie Schlaglichter hüpfen die Szenen durch die Zeit und zwischen drei
       Pipeline-Rohren und drei Autositzen hin und her (Bühne: Denise Heschl). Der
       Text deutet in knappen Worten vieles nur an: Die 52 Einschusslöcher im
       Schulgebäude und dass in der Polizeistation keine mehr sind – weder Löcher
       noch Polizisten – nennt der Großvater als Grund dafür, den Jungen aus dem
       Land zu schicken.
       
       ## Gewalt wird nicht gezeigt, aber man ahnt sie
       
       Erst ganz am Schluss finden Grenzbeamte ein Handyvideo bei ihm, das
       offenbar eine Hinrichtung zeigt. In Stuttgart gehen die Schauspieler, die
       sie verkörpern, daraufhin betreten ab und man hat zumindest eine Ahnung
       davon bekommen, was mit dem Vater des Jungen passiert sein mag. In dessen
       Erinnerung sind da nur Stiefelschritte, das Geräusch eines Motors, eine
       knallende Tür. Gezeigt wird nichts.
       
       Nikolaus Habjans Inszenierung fokussiert ganz auf die Kinder auf der
       Flucht. Während ihm die Nebenfiguren etwas scherenschnitthaft geraten –
       Gábor Biedermann ist als Schlepper ein Cowboy der Landstraße, mit länglich
       ausbuchstabiertem Auto-Fetisch, Gabriele Hintermaier ist eine
       Sozialarbeiterin mit Instant-Feuereifer –, geht die szenische wie
       psychologische Feinarbeit in den Jungen und das Mädchen, mit denen sich die
       Puppenspieler:innen in den Stahlrohren verstecken.
       
       Denn Junge und Mädchen sind lebensgroße Klappmaulpuppen, das Markenzeichen
       des Schauspielers, (Opern-)Regisseurs und Kunstpfeifers. Habjan, das
       Multitalent, baut und spielt sie oft auch selbst. Hier hat er die
       Charakterköpfe plus Oberkörper den Stuttgarter Figurentheater-Studentinnen
       Adeline Rüss und Anniek Vetter anvertraut. Und die machen das toll!
       
       ## Teenagertrotz und Salven von nervenden Fragen
       
       Dem von Vetter geführten Mädchen strömen der Teenagertrotz und die
       Pseudoabgeklärtheit einer vermutlich mehrfach Missbrauchten aus allen
       Poren. Sie keift und zischt, wenn der Schlepper seinen Klammergriff um
       ihren Oberschenkel nicht löst, und sie ist herablassend-genervt von dem
       Kleinen, der mit der penetranten Energie eines Neunjährigen Fragensalven
       abfeuert und angibt, wo er nur kann. In seinem Kopf lebt er allein [3][mit
       dem „Zelda“-Helden Link], den Elektrofischen und gelben Rubinen.
       
       Hochgatterer, der auch Kinderpsychiater ist, hat die kindliche Psyche hier
       exakt eingefangen und mit Mimits (so heißt er in seinem falschen Pass)
       Besessenheit vom Nintendo-Universum zugleich eine Brücke gebaut zu den
       Zuschauern im Globalen Nord-Westen. Dass die Monster, die Link bekämpft,
       für ein Kind aus einer Bürgerkriegsregion noch weitere Zweit- und
       Drittbedeutungen haben, drängt er den Eltern und Großeltern vordergründig
       ähnlich tickender Kinder nicht auf. Obwohl Mimit mit seiner Ziege spricht,
       die er zurücklassen musste, scheint alles an ihm vertraut.
       
       Vor allem, weil Adeline Rüss die Klappmaulpuppe, die ja keinerlei Mimik
       hat, so herrlich schmollen und sich schämen lassen kann. Die junge
       Puppenspielerin leiht dem Jungen ihre Stimme, arbeitet aber auch mit ihrem
       ganzen Körper darauf hin, der den der Puppe bewegt und teilweise ersetzt.
       Während ihr Kopf oft hinter dem größeren der Puppe verschwindet, sind vor
       allem ihre Beine und Füße permanent in Aktion, verknoten sich verlegen und
       tippeln nervös. Die Illusion der polyrhythmisch-sprunghaften kindlichen
       Grundgestimmtheit ist perfekt.
       
       [4][Habjan, der seit seinem bewegenden Abend über das „erbbiologisch und
       sozial minderwertige“ NS-Opfer Friedrich Zawrel] zumindest in Österreich
       und Deutschland ebenso bekannt sein dürfte wie sein famoser
       Puppenspiel-Mentor Neville Tranter, spricht gerne von der Puppe als reine
       Projektionsfläche, in die sich der Zuschauer selbst einschreibt. Eine
       vergleichbare empathische Identifikation mit einer Figur ist man im
       deutschsprachigen Theater inzwischen so wenig gewohnt, dass man sie
       stellenweise fast als zu dick aufgetragen empfindet, obwohl der Abend mit
       expliziten Gewaltszenen geizt. Schon wenn der Junge zum Sichausziehen
       gezwungen und vermeintlich neckisch mit dem falschen Pass auf den Kopf
       geschlagen wird, tut das beim Zuschauen weh. Und soll es auch.
       
       20 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Umstrittenes-Gemaelde-Amor-als-Sieger/!5479499
   DIR [2] /Gefluechtete-auf-griechischen-Inseln/!5818361
   DIR [3] /Archiv-Suche/!762049&s=Legend+of+Zelda&SuchRahmen=Print/
   DIR [4] /Werner-Schwab-an-Wiener-Theater/!5553129
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Leucht
       
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