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       # taz.de -- Nach Tod von 39 Vietnames*innen: Lange Haft für Schleuser
       
       > In Brügge sind Mitglieder eines Menschenschmuggel-Rings zu
       > Gefängnisstrafen verurteilt worden. Belgiens Hauptstadt Brüssel gilt als
       > Schleuserzentrum.
       
   IMG Bild: Untersuchungen nach dem Unglück: Für 39 Menschen endete die Suche nach einem neuen Leben tödlich
       
       Amsterdam taz | Mehr als zwei Jahre nach dem [1][Tod von 39
       Vietnames*innen] in einem Kühl-Lkw hat ein Gericht im belgischen Brügge
       18 Angeklagte wegen Beteiligung an Menschenschmuggel verurteilt. Ein 45
       Jahre alter Vietnamese, den das Gericht als Chef des Schleusernetzwerks
       ansieht, wurde zu 15 Jahren Haft und einem Bußgeld von 920.000 Euro
       verurteilt. Die übrigen, ebenso vorwiegend Vietnamesen oder Belgier
       vietnamesischer Herkunft, müssen ein bis zehn Jahre in Haft.
       
       In der Begründung sprach die Geschworenenjury von einer „selten gesehenen
       Ernsthaftigkeit der Tatsachen“ sowie der „Missachtung der Menschenwürde und
       körperlichen Unversehrtheit der Opfer“. Monatelang soll das Netzwerk
       täglich [2][Dutzende Menschen transportiert haben]. Pro Person hätten diese
       knapp 25.000 Euro bezahlt, berichten belgische Medien.
       
       Unter den Verurteilten befanden sich unter anderem Besitzer sogenannter
       Safe Houses in Brüssel und mehrere Taxifahrer aus der belgischen
       Hauptstadt. Einer von ihnen, der laut Gericht mehr als 50 Fahrten für das
       Netzwerk ausführte und die anderen Fahrer rekrutierte, wurde zu sieben
       Jahren Gefängnis verurteilt. Ein weiteres wichtiges Mitglied des Netzwerks,
       das nach dem Tod der 39 Vietnames*innen weiterhin Menschen nach
       Großbritannien schmuggelte, erhielt eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren.
       Fünf Angeklagte, darunter vier Taxifahrer, wurden freigesprochen.
       
       Der als „Essex-Drama“ bekannte Fall sorgte im Oktober 2019 weltweit für
       Aufsehen. Zum einen, weil er ein Licht auf das Ausmaß unmenschlicher
       Umstände warf, welche die im besagten Kühlcontainer erstickten Personen das
       Leben kosteten. Dass ihr Todeskampf mittels Textnachrichten an Angehörige
       letztendlich offenbar wurde, unterstrich diesen Effekt noch.
       
       Hinzu kommt, dass durch den Fall etliche Details über Transporte von
       Vietnames*innen bekannt wurden, die in der Regel getrennt von anderen
       Menschenschmuggel-Operationen über den Ärmelkanal verlaufen und weitgehend
       auf eigenen, geschlossenen Netzwerken basieren.
       
       ## Prekäre Arbeit in Brüsseler Nagelstudios
       
       Auch die [3][taz recherchierte in der Folge zu diesen Praktiken] und stieß
       auf Routen, die über Russland entlang unterschiedlicher Routen nach
       Westeuropa verlaufen, wobei Berlin und Brüssel Knotenpunkte bilden.
       
       Staatsanwältin Ann Lukowiak, die auf belgischer Seite die Ermittlungen
       leitete, sagte damals, dass die Betroffenen je nach Route 25.000 bis 40.000
       Euro bezahlten, die sie unterwegs in extrem ausbeuterischen
       Arbeitsverhältnissen verdienen müssen. Insbesondere in Brüssel spiegelt
       sich dies in der starken Zunahme billiger Nagelstudios wider, in denen
       junge Vietnames*innen vielfach ohne Schutz schädlichen Chemikalien
       ausgesetzt sind.
       
       Die 39 Opfer des „Essex- Dramas“, 8 Frauen und 31 Männer im Alter zwischen
       15 und 44 Jahren, wurden in der Nacht zum 23. Oktober 2019 tot auf einem
       Industriegelände nahe dem Themse-Hafens Purfleet gefunden. Am Nachmittag
       zuvor war ihr Container im belgischen Zeebrugge verschifft worden. Anders
       als in anderen Häfen werden Container dort nicht mit Lkws transportiert,
       sondern von diesen nur an den Kai gebracht und auf der anderen Seite von
       einem anderen Lkw abgeholt.
       
       ## Urteile in Großbritannien und Vietnam
       
       Der Fahrer, der den betreffenden Container in Purfleet abholte, wurde, wie
       drei andere Beteiligte auf britischer Seite, bereits vor einem Jahr in
       London verurteilt. Die Strafen lagen zwischen 13 und 27 Jahren. Weitere
       sieben Beteiligte wurden im September in Vietnam verurteilt. Weil das
       Schiff in Belgien ablegte, leitete die dortige Staatsanwaltschaft
       unmittelbar danach ihre eigenen Ermittlungen ein.
       
       Luc Arnou, der als Anwalt die Opfer vertrat, zeigte sich mit dem Urteil des
       Gerichts in Brügge zufrieden: „Es ist ein deutliches Signal, dass es nicht
       funktioniert, Menschen auszubeuten, die auf der Suche nach einem besseren
       Leben sind, und sie unter unmenschlichen Umständen, die bis zum Tod führen,
       zu transportieren.“ Es sei nun klar, dass solche Taten hart bestraft
       würden.
       
       Fraglich ist unterdessen, inwiefern ein solches Urteil strukturell
       Auswirkungen auf Schleusernetzwerke hat. Die belgische, auf Brüssel
       spezialisierte Website bruzz.be berichtet dieser Tage, das betroffene
       Netzwerk habe bereits seit 2018 operiert. Die belgische Hauptstadt sei
       darin „ein zentraler Punkt“, wird Stef Janssens zitiert, Experte beim
       staatlichen belgischen Migrationszentrum Myria.
       
       19 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Leichenfund-in-Grossbritannien/!5633650
   DIR [2] /Migration-von-Vietnam-nach-Europa/!5650332
   DIR [3] /Migration-von-Vietnam-nach-Europa/!5650332
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
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