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       # taz.de -- Bidens erstes Jahr als US-Präsident: Kein Traumstart
       
       > US-Präsident Joe Biden wollte sein Land versöhnen und wichtige Reformen
       > umsetzen. Nach einem Jahr im Amt ist er davon weit entfernt.
       
   IMG Bild: Schweres Erbe: US-Präsident Joe Biden am 6. Januar im US-Capitol
       
       Washington taz Die Amtszeit von US-Präsident Joe Biden begann mit dem
       Versprechen von Einheit. Er wollte nach vier turbulenten Jahren unter
       Donald Trump ein Präsident für alle Amerikaner:innen sein. Davon ist
       nach einem Jahr im Weißen Haus jedoch nur wenig übrig geblieben. Zu sehen
       war das zum Beispiel vergangene Woche.
       
       Biden hielt in Georgia eine Rede über das US-amerikanische Wahlrecht – und
       die Pläne seiner Partei, die republikanischen Angriffe auf die
       Wahlbeteiligung von Schwarzen und Hispanics beenden zu wollen. Diejenigen,
       die sich dagegenstellten, verglich er mit Rassisten aus der US-Geschichte.
       „Wollt ihr an der Seite von Abraham Lincoln oder Jefferson Davis stehen?“,
       fragte er. Die Rede in Georgia zeigt, wie es derzeit um Bidens
       Einheitsanspruch bestellt ist. Mit seinen anderen Versprechen sieht es
       nicht viel besser aus.
       
       Im US-Kongress stecken Bidens große Reformpläne trotz demokratischer
       Mehrheiten fest. Der chaotische Truppenabzug aus Afghanistan hat ihm Kritik
       eingebracht. Und wer hoffte, Biden würde eine Lösung für die Situation an
       der US-mexikanischen Grenze finden, wo Monat für Monat Hunderttausende
       Menschen ohne gültige Papiere einreisen wollen, hatte sich geirrt. Auch
       erholt sich die Wirtschaft nur schleppend von der Pandemie. Kein Wunder,
       dass Bidens Erfolge, wie das Covid-Hilfspaket oder die Investitionen in
       Infrastruktur, untergehen.
       
       Auch in der [1][Ukraine-Krise fehlt es Biden an Biss]. Die USA und die Nato
       drohen Russland und Wladimir Putin zwar mit verschärften Sanktionen, doch
       Biden hat einen Einsatz von US-Soldat:innen bereits so gut wie
       ausgeschlossen. Die USA laufen Gefahr, von Feinden nicht mehr gefürchtet
       und von Verbündeten nicht mehr ernst genommen zu werden.
       
       ## Unerfüllte Versprechen
       
       Nach einem ersten Jahr zum Vergessen wirkt Biden angeschlagen. Sollten die
       Demokraten bei den bevorstehenden Kongresswahlen im November ihre
       Mehrheiten im US-Repräsentantenhaus und im US-Senat verlieren, dann wäre
       dies das sichere Ende für seine politische Agenda.
       
       Mit einer Zustimmungsrate von aktuell 42 Prozent gehört Biden zu den
       unpopulärsten Präsidenten in der Geschichte der USA. Nur Trump hatte zu dem
       Zeitpunkt im Amt noch schlechtere Werte. Ein Grund für diese
       niederschmetternden Umfragewerte: Bidens Regierung tut sich äußerst schwer,
       ihre politischen Versprechen umzusetzen.
       
       Das liegt auch an der Sitzverteilung im Parlament. Im Senat konnten die
       Demokraten zwar zulegen, doch für mehr als eine ausgeglichene
       Sitzverteilung reichte es dann doch nicht. Soll heißen: Ohne Kompromiss
       zwischen Demokraten und Republikanern bringt Biden auch die Mehrheit im
       Abgeordnetenhaus wenig.
       
       Opfer der Pattsituation ist Bidens großes Sozialreformpaket „Build Back
       Better“. Knapp zwei Billionen Dollar würden in Bildung, Gesundheitswesen,
       Kinderbetreuung und Klimaschutz investiert. Es wäre die größte Investition
       in das US-amerikanische Sozialnetz seit Roosevelts „New Deal“ in den
       1930ern.
       
       ## Biden glaubt an Kompromisse
       
       Doch ohne Unterstützung von republikanischer Seite ist das Paket zum
       Scheitern verurteilt. Auch Bidens jahrzehntelange Erfahrung als US-Senator
       hilft ihm wenig. Der jetzige Senat ist schlichtweg ein anderer als der, dem
       Biden für mehr als 30 Jahre angehörte. Die Zeiten, als
       Kompromissbereitschaft noch hoch gehandelt wurde, sind vorbei.
       
       Neben dem Sozialpaket hat die US-Regierung auch bei der Bekämpfung der
       Pandemie die Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllt. Bereits im Juli
       erklärte Biden, dass Covid zwar noch nicht besiegt sei, jedoch nicht mehr
       das Leben der Menschen kontrollieren werde. Ein Trugschluss. Delta und
       Omikron sorgen in den USA weiter für steigende Fallzahlen, und in manchen
       Bundesstaaten gehen in den Krankenhäusern sogar die Betten aus.
       
       Auch Bidens Versuch, eine Impfpflicht für große Firmen mit 100 oder mehr
       Mitarbeiter:innen durchzusetzen, wurde jüngst vom Obersten Gericht der
       USA gestoppt. Und dass die Regierung erst jetzt auf Corona-Heimtests setzt,
       gilt vielen als zu spät. Vergangene Woche verkündete die Regierung, dass
       sie eine Milliarde Schnelltests für den Eigengebrauch kaufen und der
       Bevölkerung kostenfrei zur Verfügung stellen werde.
       
       Selbst eine Gruppe demokratischer Senator:innen bezeichnete die
       Covid-Maßnahmen der Regierung in einem Schreiben ans Weiße Haus als
       „reaktiv anstelle von vorausschauend“. Kein Wunder, dass Bidens
       Umfragewerte mit dem Aufkommen der Delta-Variante im vergangenen Sommer
       rapide sanken.
       
       ## Kipppunkt Kabul
       
       Ebenfalls im Sommer blamierten sich die USA auf ganzer Linie mit einem
       [2][chaotischen Truppenabzug aus Afghanistan]. Nach 20 Jahren zog Biden
       alle US-Truppen aus dem Land ab. Was folgte, war die erneute Machtübernahme
       durch die Taliban, begleitet von haarsträubenden Szenen am Flughafen von
       Kabul.
       
       Ein Anschlag außerhalb des Flughafengeländes forderte zudem das Leben von
       13 US-Soldaten und Dutzenden Zivilist:innen. Erneut erfüllte Biden nicht
       die Erwartungen, die an ihn und seine Regierung gestellt wurden. Und das,
       obwohl der Truppenabzug selbst von einer großen Mehrheit der
       US-Amerikaner:innen befürwortet wurde.
       
       Das Versprechen, viele von Trumps Entscheidungen rückgängig zu machen,
       hielt Biden in weiten Teilen aber ein. Während seiner ersten 100 Tage im
       Amt erließ er 52 Dekrete, ein Großteil davon, um die Anordnungen seines
       Vorgängers zu korrigieren. Dazu gehörte unter anderem der Wiedereintritt
       der USA in das Pariser Klimaabkommen, die Aufhebung des Einreiseverbots für
       Menschen aus mehreren islamischen Ländern und der Finanzierungsstopp einer
       Grenzmauer zu Mexiko. Doch an der eigentlichen Situation an der US-Grenze
       hat sich seit Bidens Amtsantritt nur wenig getan.
       
       ## Der Anti-Trump
       
       Zwischen Oktober 2020 und September 2021 griff die US-Grenzschutzbehörde
       mehr als 1,7 Millionen Menschen auf, die versuchten, [3][„illegal“ in die
       USA zu gelangen]. Dies war ein neuer Rekord. Auch in den Wintermonaten ist
       die Zahl der Migrant:innen an der US-Grenze unvermindert hoch. Ein Grund
       für die höhere Anzahl von Aufgriffen könnte laut Experten die
       Gesundheitsrichtlinie „Title 42“ sein. Diese ermöglicht es,
       Migranten:innen umgehend zurück nach Mexiko zu schicken.
       
       Kritiker:innen sehen in dieser von Trump erlassenen Richtlinie einen
       Gesetzesverstoß, da er Migranten:innen die Chance auf Asyl verwehrt.
       Trotz der Kritik hält die Biden-Regierung aber an der Richtlinie fest und
       bezieht sich (wie Trump) auf die von Covid ausgehenden Gesundheitsgefahren
       für die US-Bevölkerung. Für viele Menschenrechtler in den Grenzgebieten war
       Biden ein Hoffnungsträger. Nach einem Jahr sind diese Hoffnungen so gut
       wie verschwunden. „Wir glauben der Regierung nicht, dass sie wirklich alles
       Mögliche tut, um das Asylrecht wiederherzustellen“, sagte etwa ein
       Mitarbeiter des Catholic Legal Immigration Network, Luis Guerra.
       
       ## Die Wiederwahl wackelt
       
       Für Biden und die Demokraten geht es mit Blick auf die Kongresswahlen vor
       allem darum, die politischen Siege in den Vordergrund zu stellen. Mit dem
       [4][Covid-Hilfspaket], das vergangenen März verabschiedet wurde, hat die
       Regierung Millionen von US-Amerikanern:innen, die während der Pandemie
       ihren Arbeitsplatz verloren, über die Runden geholfen.
       
       Auch enthalten im Gesetzespaket war eine Erweiterung der steuerlichen
       Berücksichtigung von Kindern. Laut Studien könnte dies zur Halbierung der
       Kinderarmutsrate in den USA führen. Eine Verlängerung dieser
       Steuervergünstigung ist in Bidens Sozialpaket vorgesehen.
       
       Darüber hinaus haben es die Demokraten geschafft, ein historisches
       Infrastrukturpaket durch den Kongress zu bringen. Darin enthalten sind 7,5
       Milliarden Dollar für ein Ladenetzwerk für Elektrofahrzeuge, 66 Milliarden
       Dollar für den Bahnverkehr und mehr als 65 Milliarden Dollar für
       erneuerbare Energien.
       
       Eine Lösung für das aktuelle Problem der steigenden Inflation und eines
       stagnierenden Arbeitsmarkts ist jedoch in keinem der beiden Pakete
       enthalten. Und genau darin liegt das Problem. Die beiden großen politischen
       Erfolge sind nicht direkt für die Wähler:innen spürbar oder im Fall der
       Rettungspaket-Zahlungen schon wieder zu Ende.
       
       ## Kritik aus den eigenen Reihen
       
       Eine Klatsche in den kommenden Kongresswahlen würde den Stimmen derer, die
       schon jetzt gegen eine zweite Amtszeit Bidens sind, Gewicht verleihen. „Er
       ist unpopulär. Er ist stinkend alt. Und bisher sehr unwirksam“, sagte
       Corbin Trent, der ehemalige Kommunikationsdirektor der Linkspolitikerin
       Alexandria Ocasio-Cortez.
       
       Sollte Biden trotz aller Kritik an seiner Person kandidieren, muss er mit
       ernsthafter Konkurrenz aus der eigenen Partei rechnen. Vizepräsidentin
       Kamala Harris wird hier oft als möglich Alternative gehandelt, doch Harris
       selbst hat sich bislang noch nicht wirklich für das höchste Amt im Land
       empfohlen.
       
       So oder so: Im Moment sieht es so aus, als ob Biden – wie Trump vor ihm –
       nach vier Jahren das Weiße Haus wieder verlassen muss.
       
       19 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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