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       # taz.de -- Meine Hühner und ich im Pandemie-Alltag: Gemeinsam warten auf bessere Zeiten
       
       > Unsere Autorin hält es für wenig achtsam, ausgelutschte Sinnsprüche auf
       > farbigen Hintergründen herumzuposten. Da spricht sie lieber mit ihren
       > Hühnern.
       
   IMG Bild: Das waren noch Zeiten: Als Hühner nicht zwangskaserniert waren
       
       Wenn ich aus dem Fenster schaue, ist alles nass und grau. Es fühlt sich an,
       als wäre es seit drei Monaten November. Zwischendurch haben ein paar Wochen
       Lichter geblinkt, als wäre die Welt eine Autobahn-Baustelle, und jetzt
       liegen an der Straße tote Tannenbäume.
       
       Als noch unsere Hühner durch den Garten laufen durften, war es schöner, aus
       dem Fenster zu schauen. Es macht mich ein bisschen glücklich, wenn ein
       kleiner Trupp Hühner durchs Bild stakst. Hätte ich eine
       Achtsamkeitsgeschwurbel-Liste, auf der ich jeden Abend nach dem Yoga drei
       schöne Momente des Tages notiere, dann hätte „weiße Hühner im grünen Gras“
       oft draufgestanden.
       
       Aber ich habe so eine Liste nicht, Yoga mache ich nie, und die Hühner
       dürfen auch nicht mehr raus. Sie sind seit Oktober im harten Lockdown – der
       sich bei ihnen Stallpflicht nennt. Vor ihrer Hütte haben sie nur noch einen
       kleinen vergitterten Unterstand, damit sie sich im Freien nicht mit
       Vogelgrippe anstecken. Da stehen sie jetzt tagsüber deprimiert herum,
       rauchen eine Zigarette nach der anderen und warten so wie wir auf das Ende
       der Pandemie. Nur rauchen wir gar nicht. Ich beneide die Hühner, dass sie
       schon um 15 Uhr schlafen gehen dürfen. Dafür haben sie weder Netflix noch
       alkoholische Getränke, nicht mal Kaffee!
       
       Was auch noch auf meiner Glücksliste stünde, wären die Eier. Im Moment
       produzieren die Hühner zwar mehr Kacke als Eier, aber immerhin liegt noch
       jeden zweiten Tag so ein kleines Wunder im Nest. Wenn ich ein Ei finde,
       fühle ich mich wie als Kind an Nikolaus oder Ostern. Das motiviert mich, in
       den Regen rauszugehen, um Kot aus dem Stall zu schaben und den enttäuschten
       Hühnern mitzuteilen, dass sie immer noch nicht spazieren gehen dürfen. Sie
       müssen aushalten, bis die Geflügelpest verschwindet.
       
       Vielleicht ist es behämmert, mit Hühnern zu sprechen, aber immerhin geht’s
       mal nicht um Corona. Hühner sagen einem auch nicht, dass man positiv denken
       oder meditieren muss. Und ich schicke ihnen dafür keine
       WhatsApp-Nachrichten mit Sinnsprüchen. Was sollen sie auch im Winter bei
       geschlossener Stalltür mit einem Effektfilter-Kitsch-Kornfeld, auf dem
       steht: „Lebe jeden Tag, als sei es Dein letzter“?
       
       Zugegeben, ich bin im Moment nicht so gut drauf, aber mein Leben ist mit
       Sicherheit nicht so schrecklich, als wäre mein letzter Tag! Den würde ich
       ja wohl kaum genießen. Ich würde durchgängig weinen, weil ich meine Kinder
       noch lange nicht oft genug geküsst und umarmt habe. Und ich hätte ein
       schrecklich schlechtes Gewissen, weil ich so blöd zu meinem Mann war und
       weil ich all meine Lieben auch traurig machen würde. Und ich hätte
       wahnsinnige Angst!
       
       Jeden Tag wie den letzten meines Lebens zu leben, hat für mich wirklich
       nichts inspirierendes, nicht mal, wenn der Satz auf den schönsten
       Karibikstrand aller Zeiten gedruckt ist. Viel schöner fände ich ein Bild
       von meinem Schreibtisch mit den Worten: „Lebe jeden Tag, als sei es der
       letzte, an dem Deine Kinder zur Schule gehen können“. Das würde ich mir
       vielleicht als Wandtattoo in die Küche kleben.
       
       Gerade gilt für unsere Kinder nämlich wegen Corona auch wieder
       Stallpflicht. Aber immerhin hat das Gesundheitsamt nicht angeordnet, alle
       Kinder der Schule vorsorglich zu keulen, wie sie es bei Geflügel tun. Das
       ist positives Denken.
       
       21 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Birte Müller
       
       ## TAGS
       
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