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       # taz.de -- Kunstprojekt für Obdachlose: Ein schön gedeckter Tisch
       
       > In Neukölln organisiert eine Rentnerin ein Nachbarschaftsprojekt für
       > Obdachlose. Besuch bei einer Kunstinstallation, die auch Helfenden etwas
       > bringt.
       
   IMG Bild: Konstruktionskünstlerin Anneliese vor ihrem Werk „Tischlein-Deck-Dich für Obdachlose“
       
       Berlin taz | Nachts, wenn die Lichterketten blinken, ist der rote
       Sonnenschirm mit Melonenaufdruck schon von Weitem zu sehen. Seit
       Weihnachten steht er am Neuköllner Ufer des Landwehrkanals neben der
       Hobrechtbrücke, bunte Plastikgirlanden hängen daran wie Zöpfe, auf dem
       Tisch darunter stehen mit Lametta verzierte Obsttragen, daneben eine gelbe
       Warmhaltebox.
       
       Rechts vom Tisch grinst ein mit Luft gefüllter Schneemann samt schwarzer
       Wollmütze die Passanten an; links auf einer Kommode stehen Thermoskanne,
       Pappbecher und Milchkarton. Daneben eine 60er-Jahre-Etagere mit
       Schokokugeln und Butterkeksen. Ein Schildchen, das am Sonnenschirm baumelt,
       verrät in schnörkeliger Handschrift, worum es sich hier handelt: „Tischlein
       deck dich – für Obdachlose“.
       
       Es ist zwölf Uhr mittags. Eine kleine Frau im Leopardenmantel, pinkfarbenem
       Kunstpelz-Hut und ausgebeulter Cordhose wischt mit einem
       Desinfektionsmittel die freien Flächen ab, holt ein paar belegte Stullen
       aus ihrem Einkaufstrolley und legt sie in eine der Lametta-Boxen. Ein Mann
       in zerknitterter Kleidung nimmt sich Kaffee und setzt sich wenige Meter
       weiter an die Ecke auf ein Stück mitgebrachte Plane. „Er kommt fast jeden
       Tag. Kürzlich ist er hier zusammengebrochen, kam mit Lungenentzündung ins
       Krankenhaus“, erzählt die Frau.
       
       „Anneliese“ nennt sie sich für die Journalistin, ihren Nachnamen will sie
       nicht sagen, auch sonst nicht groß über sich reden, nur dass sie 74 ist und
       um die Ecke wohnt. „Ich bin nicht Mutter Teresa.“ Sie möchte über ihre
       Installation sprechen, die sie aus Sperrmüll, Spenden, Gefundenem und
       Gebasteltem gebaut hat. „Kunst mit sozialem Effekt“ nennt sie das Werk –
       einen liebevoll gestalteten Freiluftort, an dem Obdachlose etwas zu essen
       bekommen, manchmal Schuhe, Kleidung oder einen Schlafsack. Eben das, was
       die Menschen vorbeibringen.
       
       ## Nachbarn kochen, bringen Essen
       
       In der Nachbarschaft hat sich das herumgesprochen. Rund 20 bis 25
       Obdachlose kommen täglich vorbei, schätzt Anneliese – viele von ihnen
       schliefen in den Zelten entlang der schrägen Uferböschung, die diesen
       Winter fast wie Pilze aus dem Boden sprossen. „Die meisten sind Junkies“,
       sagt sie.
       
       Auch auf der Helfer*innenseite scheint sich die Sache zu etablieren.
       Gerade kommt eine ältere Dame mit rotbraun gefärbten Haaren mit zwei Tüten
       und packt zwei Kilo Bananen in die Boxen unterm Schirm. Sie schaue mehrmals
       jeden Tag vorbei, erzählt Anneliese. Die Dame gesellt sich dazu, ihren
       Namen will auch sie nicht sagen, aber gerne erzählen, dass sie jeden
       Nachmittag selbst Gekochtes in Gläsern vorbeibringt.
       
       Gestern waren es Nudeln mit Gulasch. „Je nachdem, was ich günstig kaufen
       kann bei Penny oder auf dem Wochenmarkt. Ich spar mir das vom Munde ab, hab
       nur ne kleine Rente“, erzählt sie. Aber die Leute täten ihr leid, sie habe
       selber als Jugendliche auf der Straße gelebt. „Sie werden als Dreck
       behandelt. Manche sind auch sehr aggressiv, aber auch das kann ich
       verstehen“, sagt sie.
       
       Auch Anneliese berichtet von Problemen mit manchen Obdachlosen. Einer sei
       verrückt, habe sie mit einer Eisenstange angegriffen, andere würden sie als
       „Bettelkonkurrenz“ begreifen und wollten sie deshalb vertreiben. Aber die
       meisten seien friedlich und dankbar, einige würden selbst mit Hand anlegen,
       aufräumen, fegen, solche Dinge. Wie zum Beweis kommt ein älterer Herr
       vorbei, stellt still einen Karton mit vier neuen Kaffeebechern ab und geht.
       „Der ist selbst obdachlos“, flüstert Anneliese und packt die Tassen in
       ihren Trolley. „Die muss ich erst zu Hause spülen.“ Gegen 17 Uhr, wenn sie
       zurückkommt und den täglichen Eimer Suppe in die Warmhaltebox packt, wird
       sie die Tassen zurückstellen.
       
       ## Helfen stiftet Gemeinschaft
       
       Eine Frau um die 50 mit Fahrrad stoppt und stellt eine Einkaufstüte auf die
       Kommode. Wie von Anneliese bestellt, enthält sie eine Packung Kaffee,
       Margarine, Marmorkuchen, „die haltbaren Landjäger habe ich noch
       dazugepackt“. Warum sie das mache? Sie arbeite in einem Seniorenheim,
       erzählt sie, dort habe sie auch die kürzlich verstorbene „Schrippenmutti“
       versorgt. Unter diesem Namen war in den 90er Jahren eine Frau bekannt
       geworden, die geschmierte Brote und Buletten an Nachtschwärmer verkaufte
       und den Erlös Obdachlosen spendete.
       
       Kaum ist die eine Helferin weg, kommt die nächste, bringt „gerette
       Backwaren“ von einem türkischen Bäcker aus der Elsenstraße, wie sie sagt.
       Anneliese sichtet die Tüten, packt einiges in die Lametta-Boxen, anderes
       kommt in ihren Trolley, den sie gleich nach Hause ziehen wird. „Hiervon
       haben alle etwas – ich auch, ich habe ja auch nur 300 Euro Sozialhilfe und
       Rente.“ Dass sie sich mit den Spenden auch ein wenig selbst versorge, stehe
       aber nicht im Vordergrund, betont sie. „Es geht darum, dass die Leute hier
       was Schönes finden“, sagt sie und bricht den Marmorkuchen in Stücke, die
       sie liebevoll auf der Etagere drapiert. Auch dass Helfen Gemeinschaft
       stiftet und Geselligkeit bringt, spielt eine Rolle.
       
       „Ich möchte das hier keinen Augenblick missen“, sagt Anneliese – und lässt
       zufrieden die Anfänge ihrer Aktion Revue passieren. Im zweiten Lockdown im
       November 2020 hatte sie [1][das erste Tischleindeckdich] aufgebaut, 200
       Meter weiter östlich am Kanal. Es gab Tische, Stühle, Lichterketten, ein
       Zelt mit Krippe und Jesus-Puppe. Jeden Tag kamen Menschen mit und ohne
       Obdach zusammen, es gab reichlich Sachspenden, es wurde viel getrunken,
       gelacht, gegessen. „Es war wie zwei Monate Weihnachten, wunderschön“,
       erinnert sich Anneliese.
       
       Allerdings hätten „Räuber“ nachts Dinge geklaut, die „Drogis aus dem
       Görlitzer Park“ hätten versucht, sich breitzumachen. Kurz: der Treffpunkt
       sei zunehmend vermüllt worden. Da habe sie die Sache selber beendet. „Das
       war nicht mehr schön für die Anwohner“, erklärt sie.
       
       ## Andere sollen weiter machen
       
       Vorigen Sommer ging es auf der Hobrechtbrücke wieder los, erst ein
       Sperrmülltisch, dann mehr Möbel, man traf sich, „es war sehr lustig“. Kurz
       vor Weihnachten habe aber das Ordnungsamt von Friedrichshain-Kreuzberg
       erklärt, so gehe es nicht weiter. „Da haben wir die Sachen schnell auf die
       Neuköllner Seite ans Ufer gebracht.“
       
       Hier lässt man Anneliese bislang machen. Aber so schön es ist: Lange will
       sie nicht mehr. Sie müsse sich mehr um sich selbst kümmern, habe Ärger
       wegen ihrer Wohnung, „mehr will ich nicht sagen“. Nur dass sie sich als
       „Konstruktionskünstlerin“ weiterentwickeln möchte, am liebsten auf einer
       Waldlichtung. Ihr Tischlein, so hofft sie, deckt sich dann ohne ihre Hilfe.
       „Die Leute haben ja gesehen, wie es geht.“
       
       18 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aktion-fuer-Obdachlose-in-Berlin/!5735190
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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