URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Das Fressketten-Mikado
       
       > Der Vogel und der frühe Wurm am Montagmorgen: Verrichtungen zweier
       > Gestalten, die sich einfach nie früh begegnen.
       
   IMG Bild: 14 Uhr nochwas: Er hier hat an der Uhr gedreht!
       
       Als der Wecker des frühen Vogels klingelt, ist es draußen noch stockdunkel.
       Schließlich herrscht Winter, doch das ist dem frühen Vogel piepegal:
       „Rabota, rabota“, tschilpt er so laut, dass auch die Kinder wach werden und
       sofort anfangen zu sperren: Sie wollen ihr Frühstück. War ja klar. Hätte
       der Idiot sie nicht geweckt, würden sie alle noch selig schlummern.
       
       Auch die Frau vom frühen Vogel, oder der Mann – die Rollen sind bei den
       Piepmätzen nicht in Stein gemeißelt – steht längst senkrecht im Nest. An
       ihrer (oder seiner) Stelle würde ich mich ja schön bedanken. Doch der
       Partnervogel ist noch viel zu müde, um sich aufzuregen. Es ist doch
       praktisch noch mitten in der Nacht. Wie betäubt sitzt er vor einer
       dampfenden Tasse Vogelkaffee und kriegt nicht den Schnabel auf und nicht
       die Augen.
       
       Der frühe Vogel putzt derweil schon gurgelnd seinen Schnabel, spitzt ihn
       sorgfältig an und springt dann sportlich federnd und energiegeladen aus dem
       Nest: Dem mickrigen Wurm wird er es heute früh aber mal so richtig zeigen!
       Am Vogelkiosk kauft er noch die Bird-Zeitung, ein Boulevardschmierblatt mit
       großen Buchstaben: „Eilmeldung, ihr Ficker! Früher Vogel fängt den Wurm!“,
       hetzt, lügt, brüllt es ihm wie jeden Tag von der Titelseite entgegen. Na,
       wenn die das schreiben, kann es ja nur stimmen, denkt er. Er hat es doch
       gewusst!
       
       Frohgemut macht er sich auf die Suche nach dem Wurm. Das ist nicht leicht,
       denn immerhin ist es noch zappenduster. Und Vögel sind nun mal Augentiere.
       Der frühe Vogel guckt mal in die eine Ecke, mal in die andere. Nüscht.
       Zunehmend hektisch durchsucht er bald jeden Winkel. Kein Wurm, nirgends.
       
       ## Vogel müde
       
       Der Wurm macht sich rar. Hoffentlich ist er nicht in einem Wurmloch
       verschwunden, dann hätten ihn die Gezeitenkräfte der Singularität in
       einzelne Atome zerrissen und das würden die Vogelkinder in der Form nie und
       nimmer essen wollen, von der praktischen Servierbarkeit mal ganz abgesehen.
       Irgendwann wird es wenigstens hell, doch noch immer ist weit und breit kein
       Wurm zu sehen. Der frühe Vogel ist längst scheißmüde. Er flattert nur noch
       ganz schwach. In seiner Performance ist jetzt ganz schön der Wurm drin,
       aber leider nur da. Sein Magen knurrt. Zu Hause sperren hungrig die Kinder.
       Hätte er die nicht aus dem Schlaf gerissen, würde der noch immer seinen
       gnädigen Mantel über die nagenden Hungergefühle decken.
       
       Wir schalten um – zur etwa selben Zeit im Wurmhaus (Apfel oder so): Der
       Wurm gähnt und streckt sich ausgiebig. Das dauert lange, denn der Wurm ist
       nun mal lang. Er muss jedes seiner hundert Wurmglieder ausgiebig knacken
       lassen. Aber kein Problem, er hat ja Zeit. Solange da draußen der frühe
       Vogel rumturnt, zieht es ihn sowieso nicht gerade unwiderstehlich ins
       Freie. Dass er ein Wurm ist, heißt ja nicht, dass er blöd wäre.
       
       Ganz im Gegenteil. Deshalb macht er es sich noch mal so richtig locker in
       seinem Wurmbett, oder sie, beziehungsweise sie beide – bei den fluiden
       Würmern weiß man ja nie so genau, und es ist ja auch egal. Für Tierarten,
       denen es wichtig ist, wer oben liegt oder wer überhaupt wen begattet, haben
       sie nur Mitleid übrig, das an schlechten Tagen durchaus auch mal leicht
       über die Grenze zur Verachtung hinaus schwappen kann.
       
       ## Mittagspause
       
       Die Wurmkinder spielen leise in ihren Bettchen, um ihre Eltern nicht in
       deren verdientem Vormittagsschlaf zu stören. Sie müssen nicht zur Schule.
       Wer sollte das auch kontrollieren? Was sollten sie auch lernen? Kriechen
       können sie schon, und mehr braucht es nicht zum Leben, mehr braucht es
       nicht zum Glücklichsein.
       
       Es ist mittlerweile vierzehn Uhr, und der frühe Vogel hat bereits
       Feierabend. Die Rechnung ist einfach: fünf Uhr dreißig bis vierzehn Uhr,
       inklusive einer halben Stunde Mittagspause. Erfolglos macht sich unser
       dummer, gefiederter Freund auf den Heimweg. Was soll er dort sagen, wie
       wird es weitergehen, von was soll seine Familie leben? Er weiß es nicht.
       
       Es naht die Stunde des Wurms. Behäbig erhebt er sich, und öffnet noch im
       Morgenmantel einen Spaltbreit die Tür seines Wurmhauses. Überlegen und doch
       nicht völlig ohne Sympathie blickt er dem mit hängenden Schultern davon
       schlurfenden Vogel hinterher. Der Tag kann beginnen.
       
       ## Raum für Notizen
       
       Man möchte meinen, das alles wäre eine Parabel auf eine entfremdete und
       überkapitalisierte Tretmühle hier, und einen entschleunigten und
       selbstbestimmten Lebensstil dort, aus der sich unschwer eine wenig subtile
       Parteinahme für ein stressfreies, im ureigensten Sinne lebenswertes Leben
       herauslesen ließe, das den natürlichen Biorhythmus des Individuums
       respektiert und diesem Raum zur freien Entfaltung lässt. So würde
       kompromissloses Slackertum in einen protoreligiösen Rang erhoben, mit dem
       späten Wurm als allwissenden Heiland.
       
       Aber das ist Quatsch. Man muss gar nicht immer so viel in die Dinge
       hineininterpretieren, das ist hier nicht das Philosophie Magazin, sondern
       ganz einfach nur 1 Lifehack für 1 Vogel, Service, Coaching, wenn man so
       will. Die Botschaften lauten: „Weniger ist mehr“, „Chill doch mal“, „Spät
       ist das neue Früh“, und „Spiel das gute alte Fressketten-Mikado doch
       einfach mal nach seinen naturgegebenen Spielregeln: Wer sich zuerst bewegt,
       hat verloren.“
       
       Entspannt bleiben, antizyklisch agieren. Irgendwann muss der Wurm ja mal
       raus aus seinem Loch, und seine kleinen Wurmbesorgungen verrichten,
       respektive Wurmverrichtungen besorgen. Dann gilt es für den Vogel, hellwach
       und ausgeruht zu sein. Und keinen Moment früher.
       
       17 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
       ## TAGS
       
   DIR Frühstück
   DIR Vogel
   DIR Bundeswehr
   DIR Katholische Kirche
   DIR Artensterben
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Demokratie
   DIR Kolumne Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: „Bitte nicht schießen!“
       
       Krieg ist kein Ponyhof, doch Ponyhof ist Krieg: Ein aktuell nötiges Traktat
       gegen Maulhelden und Schreibtischtäter jeglicher Couleur.
       
   DIR Die Wahrheit: Teuflischer Taufunfall
       
       Nachdem ein katholischer Falschtäufer in den USA seine Verfehlung gestanden
       hat, sind die Folgen nun kaum abzusehen.
       
   DIR Die Wahrheit: Sauteure Hamsterfahrten
       
       Das aktuelle Mittel gegen das animalische Artensterben: Tiertaxis ganz auf
       Staatskosten. Die Lachse klatschen begeistert in die Flossen.
       
   DIR Die Wahrheit: Dürfen, können, müssen
       
       Menschen „mit viel Zeit und wenig Lebensmut“ und „einschlägigen Problemen“
       sehen frühabends nur wegen der Werbung fern. Ein Erfahrungsbericht.
       
   DIR Die Wahrheit: Der Tod in der Spielstraße
       
       Kommt der Zeitreisende in der Gegenwart des Jahres 2022 an, wünscht er sich
       rasch in die Steinzeit mit ihren klaren Köpfen zurück.
       
   DIR Die Wahrheit: Der Versteher
       
       „Sorry, dass ich so glotze. Ich kann mir ja vorstellen, wie sehr das nervt,
       von wegen male gaze und so; ich mein das hier aber echt nicht so …“