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       # taz.de -- Neues Album der Band Tocotronic: Kräuter der Provinz
       
       > Liebe schaltet dich stumm: Auf dem neuen Album von Tocotronic trifft sehr
       > viel Gefühl auf kratzigen Garagenrock. Es heißt „Nie wieder Krieg“.
       
   IMG Bild: Flirt mit dem Lyrischen: die Band Tocotronic und ihr neues Album „Nie wieder Krieg“
       
       Im Videoclip zum titelgebenden Song des neuen Tocotronic-Albums „Nie wieder
       Krieg“ verfolgt eine junge Frau ihre Doppelgängerin durch die unwirtliche
       Berliner Stadtlandschaft. Oder ist es umgekehrt? In anderen Szenen sieht
       man, wie sie mit bloßen Händen auf Walnüsse eindrischt, so lange und so
       brutal, bis Blut über Handrücken und -flächen fließt.
       
       Es ist eine elegische Einheit aus Sound und Bildern – Regisseur Maximilian
       Wiedenhofer taucht die Szenerie in Fassbinder-Licht, spielt mit
       rätselhaften und schwer deutbaren Symbolen, die dennoch unmissverständlich
       klarmachen, worum es sich bei jenem Krieg handelt, der nie wieder
       stattfinden soll.
       
       Es ist ein anderer als der, gegen den Käthe Kollwitz vor fast 100 Jahren
       ihr kämpferisches Plakat gestaltete. Nicht der wortwörtliche, der
       militärische, der mit Bomben und Raketen ist gemeint, zumindest nicht
       direkt.
       
       „Nie wieder Krieg“ handelt vom inneren Krieg, von Selbstverletzung und
       Selbsthass, der sich in den auf andere verwandelt, von Verwundbarkeit und
       Vereinzelung, von einem zynischen Blick auf Welt und Umwelt, von Kämpfen,
       die sich in der Psyche zutragen – und von den Gefahren, die sich aus all
       dem ergeben. „Nie wieder Krieg in dir / In uns / In mir“, so endet der
       Song.
       
       ## Psychologische Sphäre
       
       Im Gespräch mit der taz beschreibt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow „Nie
       wieder Krieg“ als den Versuch, „ein politisches Statement auf die
       psychologische Sphäre zu überführen“. Es ginge darum, den Zustand einer
       Gesellschaft zu zeichnen, dominiert von der Feindschaft aller gegen alle,
       einer Gesellschaft, die sich laut dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl
       in einer Art Vorkriegsmodus befindet.
       
       Düster klingt das selbst für Tocotronic, eine Rockband, der schon seit
       ihrer Gründung 1993 in Hamburg eine grüblerische, kritische Weltsicht
       anhaftet – aber die auch dafür bekannt ist, diese in sprachlich
       ausgeklügelte, hintersinnige Texte zu verpacken.
       
       Lange haben Tocotronic ihre Fans auf neue Songs warten lassen. „Die
       Unendlichkeit“ erschien vor vier Jahren. Ein spezielles Album war auch das,
       persönlich und autobiografisch. Von Lowtzow packte darin [1][seine
       Jugenderinnerungen aus, erzählte vom Aufwachsen in der Schwarzwaldprovinz]
       und vom Ankommen in Hamburg, über das Dasein als jugendlicher Außenseiter
       und die Sozialisation durch Musik.
       
       Ein subjektiver Blick zurück zum 25. Bandjubiläum, ein Zwischenakkord in
       der – aus Sicht der Band – fein austarierten Dramaturgie der Albumfolge.
       Überhaupt erst möglich [2][gemacht habe „Die Unendlichkeit“] ein Album wie
       „Nie wieder Krieg“, erklären Schlagzeuger Arne Zank und Sänger von Lowtzow.
       
       ## Entwaffnend persönlich
       
       Persönlich ist auch „Nie wieder Krieg“, aber in anderem Sinne als „Die
       Unendlichkeit“. Da wird nicht aus dem Nähkästchen geplaudert. Es geht
       tiefer hinein in die Psyche, in die Traumata, aber auch in die Träume;
       innerlicher wirkt es, verweist dabei aber stets auch auf das, was außen
       herum geschieht. Als „entwaffnend persönlich“ beschreibt die Band das neue
       Album im selbst verfassten Pressetext. Eine allgemeine Subjektivität ist
       es, die „Nie wieder Krieg“ prägt und das Persönliche ist hier ganz klar
       politisch.
       
       Das Album schließt damit weniger an seinen direkten Vorgänger an als
       vielmehr an „Kapitulation“, das Tocotronic-Album aus dem Jahr 2007. Am
       Sound macht sich das ebenfalls bemerkbar. „Nie wieder Krieg“ ist kein
       Popalbum, sondern eins voll schrammeligem Garagenrock, kratzig und
       polternd, mit dröhnenden Gitarren.
       
       „Nie wieder Krieg“ ist aber auch eine Rückbesinnung auf etwas anderes, die
       alte Liebe Tocotronics zur griffigen Formulierung, die zum Slogan wird, zum
       Flirt mit dem Lyrischem – vor allem typisch für die Frühphase der Band. In
       Titeln zeigt sich das, die man sich gerne auf T-Shirts drucken würde. Den
       Albumtitel „Nie wieder Krieg“ zum Beispiel oder auch „Komm mit in meine
       freie Welt“ oder und vielleicht vor allem „Jugend ohne Gott gegen
       Faschismus“, ein gitarrenlastiger Rocksong, der ebenfalls vorab als Single
       erschien.
       
       Unumwunden gibt von Lowtzow im Gespräch zu, Ödön von Horváth, von dessen
       gleichnamiger Novelle die erste Hälfte des Titels ausgeborgt ist, nie
       gelesen zu haben und dass ihm einfach nur der Titel gefallen habe. „Der Gag
       ist dann natürlich, dass man etwas zusammenführt, was nicht zusammengehört,
       dieses ‚Youth against Fascism‘, was klingt wie ein Hardcore-Punk-Titel und
       ‚Jugend ohne Gott‘.“
       
       ## Chillen im Park
       
       Dass sich dabei der Horváth’sche Sinn des „ohne Gott“ umdreht, aus dem
       Mangel ein Gewinn wird, ergibt in diesem Zusammenhang wieder Sinn: Die
       Jugend, die Tocotronic betrachtet, ist eine, die jedwede patriarchale
       Ordnung ablehnt. Wie auch Konsum: „Auf der Straße siehst du Dinge / Die du
       alle nicht besitzt / Diamanten, Silberringe / Die du mit Füßen trittst“. Im
       Videoclip sieht man junge Leute, die mit dem Skateboard durch Parkhäuser
       rollen, durch den Tag driften. Solche Hänger sehe er tagsüber am Berliner
       Landwehrkanal beim Chillen und durch die Parks skaten. Tocotronic selbst
       sind der Jugend freilich längst entwachsen, aus erster Hand kommen da keine
       Erfahrungen mehr.
       
       „Kinematisch“ nennt von Lowtzow die Art und Weise, wie er diese heute aus
       der Distanz betrachte. „Vielleicht idealisiere ich sie, aber das ist ja
       auch schön“, sagt er und dass ihr Blick auf diese jungen Leute sehr von
       Zärtlichkeit und Liebe geprägt sei. Überhaupt ist da sehr viel Gefühl auf
       „Nie wieder Krieg“. Einiges kann man auch pathetisch finden, eventuell
       sogar kitschig. Andererseits: Ist nicht genau jetzt ein guter Zeitpunkt
       dafür, können wir etwas mehr Pathos, etwas mehr Seele und Gefühl nicht ganz
       gut gebrauchen?
       
       Voller Sehnsucht und dabei irre schön jedenfalls ist das Duett mit der
       österreichischen Künstlerin Anja Plaschg alias Soap&Skin. „Ich habe dich
       noch nie gesehen / Oben bei den Lebewesen / Hier bist du nie gewesen / Nur
       gelesen / Hab’ ich von dir“. So schön, dass es sich allein deswegen schon
       lohnt, sich der Musik auf dem Album zu widmen. „Ich tauche auf“ ist das
       erste Duett, das Tocotronic jemals aufgenommen haben, und eine bessere
       Gesangspartnerin als Plaschg hätte von Lowtzow wahrlich nicht finden
       können.
       
       Wie die beiden Stimmen sich umspielen, wie sie miteinander harmonisieren,
       das hat eine Zartheit und Tiefe, die einen berühren muss. Bisweilen
       erinnert es an Nick Caves und PJ Harveys „Henry Lee“ – an sich schon keine
       schlechte Referenz –, hat dabei aber etwas sehr Eigenes, ebenso Intensives
       wie Zerbrechliches. Die Liebenden in „Ich tauche auf“ haben keine Chance,
       die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, sind unüberwindbar, nur
       eine Viertelstunde können sie im „Schlund“, der sie zusammenführt,
       überstehen.
       
       ## Unglückliche Liebe
       
       „Ich hasse es hier“, die Single, die zeitgleich mit dem Album erscheint,
       ist indes der vielleicht typischste Tocotronic-Song auf dem Album, schon
       der Titel schrammt am Selbstzitat. Oder wer denkt da nicht an „Aber hier
       leben, nein danke“? Der Song erzählt von Gitarrenriffs umspielt von einer
       unglücklichen Liebe, vom Verlassenwerden und davon, wie man danach nichts
       mit sich anfangen kann.
       
       Von der Situation, wenn alles so wirkt wie der hoffnungslose Versuch, eine
       Tiefkühlpizza mit den Überresten aus dem eigenen Vorratsschrank zu
       verfeinern: „Mit Kräutern der Provence / hab ich keine Chance“.
       
       Auch die Veröffentlichung von „Nie wieder Krieg“ wurde coronabedingt
       mehrfach verschoben. Fertig sei es, so erzählen es Zank und von Lowtzow bei
       jenem Gespräch Ende November, bereits seit über einem Jahr. Nach der Logik
       des Musikbusiness kann ein Album jedoch nicht erscheinen, wenn keine Tour
       im Anschluss möglich ist.
       
       Die Songs entstanden alle vor der Pandemie, [3][auch „Hoffnung“, derjenige,
       den Tocotronic im April 2020 spontan vorab veröffentlichten] und der damals
       so gut in die Zeit der Isolation des ersten Lockdowns passte. In erster
       Linie ist „Hoffnung“ aber ein Song über die Kraft der Musik, das politische
       Potenzial von Popmusik. Und das ist zugleich die versöhnliche, aufmunternde
       Botschaft des Albums.
       
       „Nie wieder Krieg“ endet mit der „Liebe“, einem hymnischen Stück auf das
       größte der Gefühle. Happy End also? Nicht wirklich. Auch die Liebe hat bei
       Tocotronic bei all ihrer positiven Energie, ihrer Fähigkeit, einen mit
       seinem inneren Feind zu vereinen, etwas Dunkles, Gefährliches. Sie hält
       einen im Griff, fasst einen an, dreht einen um, schaltet einen auf stumm.
       „Sie wird euch kriegen“, heißt es immer wieder, was dann doch eher nach
       einer Drohung als nach Verheißung klingt.
       
       21 Jan 2022
       
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