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       # taz.de -- Streit um Gräber aus der Nazizeit: Die Stadt, die Bahn und der Tod
       
       > Archäolog*innen haben in Bremen Skelette sowjetischer
       > Zwangsarbeiter:innen entdeckt – genau dort, wo eine Bahnwerkstatt
       > entstehen soll.
       
   IMG Bild: Ausgrabungsstätte in in Bremen-Oslebshausen: Gerade wurden hier noch Skelette gefunden
       
       Bremen taz | In einer menschengroßen Grube hockt eine junge Frau und
       befreit behutsam einen skelettierten Arm von Erde. Das Grab ist eines von
       ganz vielen auf der Reitbrake im Bremer Stadtteil Oslebshausen. Die Brache,
       ein gedrungenes Tal zwischen Bahnschienen und Industrieanlagen, ist von
       aufgeschütteten Erdhügeln und herumstehenden Güterwaggons gezeichnet. Der
       Nieselregen hat all das mit großen, schlammigen Pfützen bedeckt, zwischen
       denen weiße Zelte stehen. In der Nazizeit war hier ein [1][Friedhof für
       sowjetische Kriegsgefangene].
       
       Wer bis zu der Ausgrabungsstätte vordringt, kommt an einem Mahnmal vorbei:
       ein russisch-orthodoxes Kreuz mit einer Infotafel zur Geschichte dieses
       Ortes. Die hier beerdigten Kriegsgefangenen starben in einem nahegelegenen
       nationalsozialistischen Lager, ermordet durch Zwangsarbeit. Auf der Tafel
       ist von 1.000 Toten die Rede, die Bremer Landesarchäologin Uta Halle
       vermutet, dass es 446 waren.
       
       Sie ist damit betraut, hier nach sterblichen Überresten zu suchen. Zwar
       sollten alle Opfer schon 1948 umgebettet worden sein. Gemeinsame Recherchen
       des [2][Bremer Friedensforums] und der [3][Bürgerinitiative „Oslebshausen
       und umzu“] stellten das aber in Frage: Ein Oslebshauser Polizist schrieb
       1946 in einem Bericht von 742 Gräbern – zwei mit Namen, 280 mit Nummern und
       460 ohne nähere Informationen. Die Zahlen fanden sich jüngst in einem
       [4][Archiv zu Opfern und Überlebenden des NS-Regimes] in Bad Arolsen. Doch
       auf dem Friedhof in Bremen-Osterholz, wo es einen Ehrenhain für die Opfer
       des Nationalsozialismus gibt, werden nur 446 unbekannte Leichname
       aufgeführt. Wo sind die anderen fast 300 Kriegstoten?
       
       Die Reitbrake ist schon seit jener Exhumierung kurz nach Kriegsende keine
       völkerrechtlich geschützte Kriegsgräberstätte mehr. Das aber könnte sich
       ändern, falls hier noch immer sterbliche Überreste liegen. Sie könnten
       zugleich die Pläne des rot-grün-roten Bremer Senats vereiteln, auf dem
       sogenannten Russenfriedhof eine Bahnwerkstatt des französischen Konzerns
       Alstom anzusiedeln.
       
       ## Politik ist gespalten
       
       Die geplante Ansiedlung sorgt auch innerhalb der Landesregierung für
       heftigen Streit – die mitregierende Linke ist landesweit, die SPD zumindest
       vor Ort gegen die Bahnwerkstatt. Hier sollen neue Doppelstockzüge gewartet
       werden, mit denen Bremen und Bremerhaven ab 2024 besser mit dem Nordwesten
       verbunden werden. Rund 100 neue Jobs erhofft sich Bremen davon. Die
       Bürgerinitiative kämpft vehement dagegen, dass die Bahnwerkstatt in ihren
       Stadtteil kommt. Sprecher Dieter Winge nennt deren Nachteile
       „abendfüllend“.
       
       Die emotional geführte Auseinandersetzung ist politisch von hoher
       Symbolkraft. Es geht um die Spaltung zwischen armen und reichen
       Stadtteilen, um alte Arbeiterquartiere und urbane, linksgrüne Milieus, um
       die Glaubwürdigkeit der Politik überhaupt. Oslebshausen, tief im Westen der
       Stadt, wo einst viele Werften waren, ist heute von Lärm, Verkehr, Müll und
       Industrie besonders belastet. Der rot-grün-rote Koalitionsvertrag hat dem
       Stadtteil deshalb versprochen, dass er genau davon „entlastet wird“.
       Passiert ist das Gegenteil: Hier wird gerade eine
       Klärschlammverbrennungsanlage gebaut, gleich neben einem Wohngebiet.
       
       Nun aber haben die Landesarchäologen gleich [5][acht vollständige Skelette
       ausgegraben], nur wenige Tagen nach dem ersten Nachweis eines nicht
       exhumierten Leichnams. Für die Bürgerinitiative und das Friedensforum ist
       klar: Hier kann keine Industrie mehr hin. Stattdessen soll eine
       Expertenkommission aus Historiker*innen, Völkerrechtler*innen,
       Ethiker*innen und Opfervertreter*innen eingesetzt und das ganze
       Gelände intensiv nach weiteren Opfern und deren Spuren untersucht werden.
       Und statt der Bahnwerkstatt soll eine Gedenkstätte hier entstehen.
       
       Landesarchäologin Uta Halle hatte zunächst nur vereinzelte Knochen gefunden
       – Kniescheiben, Finger, Brustkörbe, einen Schädel. Und auch jenen Arm, der
       bis heute noch halb begraben ist. Selbst das war für sie schon eine
       Überraschung. Halle sieht die Ausgrabung in Oslebshausen als
       „Präzedenzfall“. Trotzdem ist sie nicht unbedingt für eine neue
       Gedenkstätte in Oslebshausen – sie verweist auf die bestehende
       Gedenkstätte, in Osterholz, am anderen Ende der Stadt.
       
       In dem Grabungszelt der Archäologen auf der Reitbrake hat ein Bagger einen
       Gang aufgeschüttet, links davon reihen sich markierte Gräber aneinander,
       erkennbar an unförmigen dunklen Verfärbungen. Auf einem Tisch liegen
       Knochen, dazu eine Erkennungsmarke. Sie sind die einzige Möglichkeit, die
       Knochen zu identifizieren, sagt Halle. Sie will den Verstorbenen ihre
       Identität zurückgeben. Die Bahnwerkstatt ist nicht ihr Thema.
       
       Rechts des Ganges liegen Planen, dort soll der Bagger noch 1,20 Meter Erde
       ausheben. Anstelle einzelner Gräber soll hier ein langer Leichengraben
       liegen. Darin wurden 1941 Typhus-Tote notdürftig verscharrt. Für
       vereinzelte Knochenfunde hat Uta Halle dabei eine makabere Erklärung: Die
       Umbettung wurde in der Nachkriegszeit von einer Handvoll Gartenarbeiter
       erledigt, die dafür einen Liter Milch bekamen, Nahrung war ja noch knapp.
       Die Männer müssen abgefallene, halbverweste Körperteile mitunter einfach
       zurückgelassen haben.
       
       Die fast 300 Toten, die die Bürgerinitiative und das Friedensforum hier
       vermuten, wurden bisher nicht gefunden. Halle vermutet, dass sich der
       Oslebshauser Polizist 1946 einfach geirrt oder seine Zahl eher geschätzt
       hat. Sozialpädagoge Winge nimmt an, dass die zunächst gefundenen Knochen zu
       Leichnamen gehören, die zur Desinfektion mit Löschkalk bestreut wurden,
       damit sie schneller verwesen.
       
       Die Strategie des Bremer Senates in Sachen Bahnwerkstatt „führt in ein
       Fiasko“, sagt Winge. „Er ist kurz davor, die Reputation Bremens zu
       beschädigen.“ Er verweist auf ein Rechtsgutachten zum humanitären
       Völkerrecht. Darin heißt es, dass der Status als Kriegsgräberstätte nur
       aufgehoben sei, „wenn aufgrund vorheriger Umbettungen keine sterblichen
       Überreste mehr in einer Stätte aufzufinden sind“. Das aber stimmt ja nun
       nicht mehr.
       
       ## Vorgaben des Kriegsgräberrechts
       
       „Wie mit den Funden umzugehen ist, kann erst nach Abschluss der Grabungen
       in enger Abstimmung mit den Vertreter*innen der betroffenen Staaten
       entschieden werden“, sagt Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD), ohne
       dabei ein Wort zur Bahnwerkstatt zu sagen. „Alleiniger Maßstab der
       Entscheidung ist die Gewährleistung eines würdevollen Gedenkens an die
       Toten unter Berücksichtigung der Vorgaben des Kriegsgräberrechts“, erklärt
       er stattdessen.
       
       Auf einem unscharfen alten Luftbild des Russenfriedhofs zeigt Uta Halle auf
       dunkle und helle Flecken. Anhand derer wissen die Archäolog*innen, wo
       früher die Zaunpfosten gestanden haben müssen. Sie graben derzeit nur
       innerhalb des 3.500 Quadratmeter großen Kernfriedhofs, der vom Zaun
       umschlossen war.
       
       Die Gegner*innen der Bahnwerkstatt wollen auch drumherum alles aufgraben
       lassen. Und die Reitbrake ist 20.000 Quadratmeter groß. Der neu
       aufgefundene Polizeibericht von 1946 bestätigt schließlich die
       Rechercheerkenntnisse, die Bürgerinitiative und Friedensforum mithilfe der
       Datenbank „Memorial“ gewannen. Winge vermutet, dass die fehlenden Leichname
       außerhalb des Kernfriedhofs liegen könnten. Davon gehe auch der Historiker
       Peter-Michael Meiners aus.
       
       Was für Uta Halle und die SPD-Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz erst einmal
       eine „unvollständige Exhumierung“ ist, ist für Winge „ein völkerrechtlicher
       Skandal“. Zudem sei der Alstom-Konzern, der die Bahnwerkstatt bauen soll,
       die Rechtsnachfolgerin der Linke-Hofmann-Werke, einem
       „kriegsverbrecherischen Unternehmen“, das Zwangsarbeiter*innen
       beschäftigte und Vieh- sowie Güterwaggons produzierte – die heute zu einem
       Symbol der Shoah geworden sind.
       
       Das von Winge ins Feld geführte Rechtsgutachten zeigt: Eine nachträgliche
       Umbettung ist immer noch denkbar. Das Völkerrecht verbietet Exhumierungen
       zwar. Der Staat, auf dessen Territorium die Gräber liegen, kann aber
       entscheiden, dass eine „zwingende öffentliche Notwendigkeit“ eine Umbettung
       erfordere, die dann mit den Heimatstaaten der Verstorbenen ausgehandelt
       werden muss.
       
       Welche rechtlichen Folgen die jüngsten Skelettfunde haben, ist noch unklar.
       Auf dem Ausgrabungsgelände kippt ein Bagger derweil Erdmassen in ein Sieb.
       Der rüttelt die Erde durch, sein Lärm übertönt alle Erklärungen von Uta
       Halle. Das Sieb sei eng genug, um auch einen Fingerknochen einzufangen,
       sagt sie. Am Ende wartet eine junger Bundesfreiwilliger mit einem weiteren
       Sieb. „Ihm entgeht kein Knochen“, sagt Halle.
       
       22 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /80-Jahre-Ueberfall-auf-die-Sowjetunion/!5781178
   DIR [2] https://www.bremerfriedensforum.de/deutsch-russische-beziehungen/
   DIR [3] https://bi-oslebshausen-und-umzu.de/
   DIR [4] https://arolsen-archives.org/
   DIR [5] https://www.deutschlandfunk.de/weitere-skelette-von-zwangsarbeitern-aus-zweitem-weltkrieg-in-bremen-entdeckt-102.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Petsche
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