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       # taz.de -- Bundespräsidenten-Kandidat der Linken: Gass statt Schloss
       
       > Als Arzt ist Gerhard Trabert viermal pro Woche in Mainz unterwegs, um
       > sich um obdachlose Patienten zu kümmern. Eine Begleitung im Arztmobil.
       
   IMG Bild: Der Kandidat der Linkspartei fürs Schloss Bellevue: Gerhard Trabert kniet bei einer Untersuchung vor einem Geflüchteten
       
       Mainz taz | Treffpunkt am frühen Montagmorgen ist das Mainzer Thaddäusheim,
       eine Unterkunft für wohnungslose Männer der Caritas. Hier parkt das
       Arztmobil, ein ausgebauter Kastenwagen, mit Behandlungsstuhl, Pritsche,
       Akten- und Medizinschränken an Bord, für das Gerhard Trabert eine
       Kassenzulassung erstritten hat. Mindestens viermal in der Woche ist er in
       Mainz „auf der Gass“ unterwegs. Medical Street Work hatte er bei Einsätzen
       in Indien und den USA kennengelernt. Seit 28 Jahren fährt er nun Touren mit
       dem Arztmobil. „Wenn die Menschen nicht zum Arzt kommen, muss der Arzt zu
       den Menschen kommen“, sagt er.
       
       Der 65-Jährige steuert das Auto selbst. Die medizinische Unterversorgung
       von Obdachlosen treibt ihn seit vier Jahrzehnten um. Als junger
       Sozialpädagoge habe er in der Krankenhaussozialarbeit erlebt, wie es um
       deren Gesundheit steht. „Sie sind oft nicht versichert, haben kein Geld und
       werden und wurden von Ärzten oft schlecht behandelt“, sagt der Mann, den
       die Linken vor zwei Wochen [1][für das Amt des Bundespräsidenten
       vorgeschlagen haben].
       
       Trabert ist Professor für Sozialmedizin der Hochschule Rhein-Main. Sein
       Beruf als Hochschullehrer gebe ihm Freiheit, sagt er und lässt den
       Kastenwagen an diesem kalten Morgen an. „Meine Studenten schätzen das, dass
       ich nicht nur Theorie vermittle, sondern auch aus der Praxis berichten
       kann“, versichert er und fährt los. Vom Straßenrand winkt ein junger Mann
       mit einer großen Tragetasche. Trabert grüßt freundlich zurück. Er kennt den
       Mann mit Namen und weiß viel über ihn, wie über die meisten, denen er an
       diesem Vormittag begegnet. „Der Mann sammelt Pfandflaschen und leidet unter
       Corona, weil ihm seine Einnahmequelle weggebrochen ist.“
       
       An der Teestube auf der Mainzer Zitadelle wartet schon ein halbes Dutzend
       PatientInnen. Eine Frau bittet um ein starkes Schmerzmittel gegen ihre
       Rückenschmerzen. Ein zahnloser junger Mann aus Polen klagt über
       Bauchschmerzen. Er bekommt ein Medikament zur Reduzierung der Magensäure.
       „Sie müssten mal wieder eine Magenspiegelung machen lassen“, mahnt Trabert.
       „Es könnte zu Blutungen kommen.“
       
       ## Cargohose statt Arztkittel
       
       Trabert trägt eine graue Cargohose, dazu einen grauen Anorak und feste
       Schuhe. Er unterscheidet sich äußerlich wenig von seinen PatientInnen. Er
       trägt keinen Arztkittel. Nur einmal streift er grüne OP-Handschuhe über,
       als er einer jungen Frau ein Pflaster mit einer Heilsalbe auf ein
       schmerzhaftes Furunkel auf den Rücken klebt. In der von ihm begründeten
       „Ambulanz ohne Grenzen“ nebenan gibt es kostenlos Beratungen von
       Fachärzten, doch viele der Obdachlosen meiden Praxisbesuche, auch wenn sie
       anonym und kostenlos sind.
       
       Ein 42-Jähriger, der auf Krücken zum Arztmobil humpelt, hat eine lange
       Odyssee hinter sich. Übergewicht, offene Beine, Zusammenbruch. Trabert und
       er kennen sich seit Jahren, aber Händeschütteln ist nicht, wegen Corona.
       „Er ist ein Super-Gitarrist“, stellt der Arzt seinen Patienten vor. „Er
       hat auch schon mal bei einem Fest in unserer Teestube gespielt.“
       
       Stolz zeigt der Bluesfan dem „Doc“ seine vernarbten Beine. Auch die Ödeme
       am Bauch sind zurückgegangen. 70 Kilo hat er abgenommen. Das Treppensteigen
       in seine Wohnung im 4. Stock geht wieder besser. Kein Alkohol, Verzicht auf
       das Nebenbeiessen! „Toll, wie diszipliniert Sie sind“, freut sich Trabert
       und verschreibt Vitamin D3 und Entwässerungstabletten.
       
       ## Chancenlos in der Bundesversammlung
       
       Sein Patient bittet noch um einen Aufkleber auf dem Rezept, der ihn von
       Zuzahlungen befreit. In diesem Monat kann er sich wohl die
       Krankenversicherung nicht leisten, wegen der hohen Nachzahlung für Strom
       und Heizung. Von Traberts Bewerbung für das Amt des Bundespräsidenten weiß
       er aus den Medien. „John F. Kennedy ist auch nicht im ersten Anlauf
       Präsident geworden“, macht er dem aussichtslosen Kandidaten Mut. Nur 71 der
       1.472 Mitglieder der Bundesversammlung werden von der Linken gestellt.
       
       Trabert fragt noch nach der Corona-Impfung. Der Patient winkt ab.
       Wenigstens ein paar Masken nimmt er mit. „Ich kann den Menschen nur Dinge
       empfehlen; wenn sie ablehnen, muss ich das akzeptieren“, sagt Trabert. Die
       Mehrheit seiner Patienten sei allerdings geimpft und geboostert.
       
       Mehr als ein Dutzend Menschen behandelt Trabert bis zum Mittag. Er verteilt
       ein starkes Schmerzmittel an einen jungen Mann und eine junge Frau. Beide
       klagen über Panikattacken. Der Arzt weiß von ihren psychischen Problemen.
       Der junge Mann bittet um eine ärztliche Verschreibung, „Für die Polizei,
       sonst nehmen mir die die Tabletten wieder weg!“ Er bekommt beides unter der
       Bedingung, dass er in der nächsten Woche den Psychiater in der Ambulanz
       aufsucht.
       
       „Eigentlich dachte ich, dass ich das nur ein paar Jahre machen muss“, sagt
       Trabert auf dem Weg zum nächsten Stellplatz. „Längst müssten staatliche
       Stellen diese Versorgung übernommen haben. Wir wollten nicht die Tafel für
       die Obdachlosen sein.“ Doch es hat sich nach seinem Eindruck wenig
       geändert.
       
       ## Aufsuchende Medizin im Wortsinn
       
       Bei der Schlussrunde durch die Mainzer Altstadt klappert Trabert die
       Stammplätze zu Fuß ab. Es ist aufsuchende Medizin im Wortsinn. Am Leichhof
       hinter dem Dom trifft er einen Mittsechziger, der alle Klischees bedient,
       neben ihm auf der Bank eine halbvolle Rotweinflasche. Die Sonne schickt ein
       paar wärmende Strahlen. Der Mann krächzt, aber er ist gut drauf. „Wie
       geht’s Ihnen?“, fragt Trabert höflich. „Ich weiß es nicht!“, antwortet der
       Obdachlose. „Heute Abend gehe ich zu meinem Schlafplatz und dann sehe ich
       erst, ob noch alles da ist, die Matratze und der Schlafsack.“ – „Reicht das
       Geld?“ – „Ich bin versorgt“, sagt der Mann. „Ich kann mehr gebrauchen, aber
       wenn ich mehr habe, gebe ich auch mehr aus“, kichert er in sich hinein.
       Immerhin fragt er vorsichtshalber nach einem neuen Schlafsack, falls der
       alte weg ist. „Viele von ihnen sind liebenswerte Chaoten“, sagt Trabert.
       
       Auf dem Pflaster, unter dem Barockportal der Augustinerkirche, trifft der
       Arzt zwei Stammkunden an. Sie haben eine Konservendose aufgestellt und
       hoffen auf milde Gaben von Besuchern der Mittagsmesse. Noch ist viel Luft
       in ihrer Büchse. Der Alte hat Probleme mit den Knochen. Die Beine wirken
       verdreht. „Der Finger knallt“, sagt er und führt das defekte Gelenk im
       Mittelfinger vor. „Klack, klack“, macht er das unangenehme Geräusch nach,
       wenn er den Finger beugt. Er hat auch Last mit dem Atmen: „Das Spray hilft
       nicht mehr.“ Man vereinbart einen Termin in der Ambulanz auf der Mainzer
       Zitadelle.
       
       Sein Kumpel wirkt reserviert. Erst als sich Trabert zum Gehen wendet, lässt
       er Dampf ab. „Ich wollte ja nichts sagen, aber das mit den Nazis, das hat
       mir nicht gefallen, ich bin nämlich gegen die“, sagt er und fügt hinzu:
       „Sie sind doch der Arzt meines Vertrauens!“
       
       Seit Traberts Rede [2][beim Jahresauftakt der Linken] am vergangenen
       Samstag verfolgen ihn seine eigenen Sätze: „Wie damals viele Deutsche
       wussten, was mit den Juden geschieht, ist es heute so, dass wir wissen, was
       mit geflüchteten Menschen im Mittelmeer, in libyschen, in syrischen Lagern
       geschieht. Wir wissen, wie die Armut zunimmt, wir wissen um die erhöhte
       Sterberate von armen Menschen, auch hier in Deutschland. Das ist ein
       Skandal!“
       
       ## Kritik von der FDP
       
       Postwendend erkannte FDP-Fraktionsgeschäftsführer Johannes Vogel in den
       Worten einen Tabubruch. Der Vergleich sei „absolut inakzeptabel und ebenso
       wirr wie historisch entglitten“, sagte er der Welt am Sonntag. Trabert
       stellte sich gegen den Shitstorm: „Es geht mir nicht um die historische
       Gleichsetzung. Das von den Nationalsozialisten verursachte Leid vieler
       Menschen war unbeschreiblich größer und ist nicht vergleichbar“, [3][schob
       er auf Twitter nach].
       
       „Es ist gut, dass Sie das angesprochen haben“, dankt der Arzt seinem
       kritischen Patienten und erläutert seine Position. „Es ist eine falsche
       Darstellung, wenn behauptet wird, dass ich die Verfolgung von Juden in der
       NS-Zeit mit heutigen Ausgrenzungen vergleichen würde“, sagt Trabert. „Ich
       habe mich auf das damalige Wegschauen bei Unrecht und
       Menschenrechtsverletzungen bezogen, das den Holocaust erst möglich gemacht
       hat, und jetzt wird wieder weggeschaut.“ Ihm habe sich dieser Gedanke beim
       Flug über das Mittelmeer zu einem Einsatz im Flüchtlingslager Moria
       aufgedrängt. „Die Flugzeugcrew hat sich dafür entschuldigt, dass der Sekt
       ausgegangen war.“
       
       Seinen skeptischen Patienten vor der Augustinerkirche kann Gerhard Trabert
       überzeugen „Ich vertraue Ihnen“, sagt der zum Abschied. Arzt und Patient
       verabschieden sich, Faust an Faust.
       
       26 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Linker-Bundespraesidenten-Kandidat/!5825020
   DIR [2] /Jahresauftakt-der-Linkspartei/!5828441
   DIR [3] https://twitter.com/trabertwaehlen/status/1482342975728402432
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Schmidt-Lunau
       
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