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       # taz.de -- Streit um die Documenta 15: Antisemitismus oder Humanismus?
       
       > Das Künstlerkollektiv Ruangrupa kuratiert die Documenta. Die Kritik, es
       > habe radikale Antizionisten eingeladen, ist nicht aus der Luft gegriffen.
       
   IMG Bild: „documenta fifteen“ startet bald, die kuratorische Leitung sollte ihre Einladungspolitik überdenken
       
       Die Antisemiten des 19. Jahrhunderts erscheinen von heute aus betrachtet
       wie Ehrenmänner alten Schlags. Sie machten aus ihrer Überzeugung keinen
       Hehl. Wenn sie fanden, dass die Juden unser Unglück seien, dann schrieben
       sie es so auf. Die Antisemiten von heute drücken sich vornehmer aus.
       
       Aber wenn sie es nicht tun, wie der britische Dschihadist, der [1][vier
       Juden in einer texanischen Synagoge als Geiseln nahm], um eine andere
       Dschihadistin, die in einem texanischen Gefängnis sitzt, freizupressen,
       finden sich sicher Leute wie jener Berichterstatter der [2][BBC], der es
       fertig bringt, das Wort Antisemitismus nicht in den Mund zu nehmen.
       
       Wichtiger war dem BBC-Mann, darauf hinzuweisen, dass der Geiselnehmer
       psychische Probleme hatte (als sei Dschihadismus an sich nicht schon
       Ausweis einer paranoiden Weltanschauung), und sodann die kritische Frage zu
       stellen, ob es nicht übertrieben ist, wenn ein Geiselnehmer, der
       ausdrücklich zum Märtyrer werden wollte, von der Polizei erschossen wird.
       
       Dass Teile der britischen Gesellschaft und insbesondere ihre BBC ein
       Problem mit Juden haben, is nothing new, man muss ja nur [3][Jeremy Corbyn]
       zuhören oder eben BBC schauen. Das wird komischerweise auf der Insel nicht
       gern gehört. Vergangenheitsbewältigungs-weltmeister Deutschland dagegen
       reagiert weniger empfindlich auf Antisemitismusvorwürfe, die nicht zum
       Selbstbild passen. Hier hat man bloß keine Lust, sich mit an den Haaren
       herbeigezogenen Vorwürfen zu befassen.
       
       ## Israelische Emanzipation vom jüdischen Staat
       
       Die „Wortkeule“ Antisemitismus wird resolut vom Tisch gewischt. In einer
       deutschen Tageszeitung erfuhr der geneigte Leser in dieser Woche über die
       Vorwürfe gegen die künstlerische Leitung der kommenden Documenta,
       vorgetragen von einer Gruppe aus Kassel, die sich, warum auch immer, dem
       Kampf gegen den Antisemitismus verschrieben hat.
       
       In einem anonym von dieser Gruppe verfassten Text, so las man, seien
       zahlreiche Hinweise auf Künstler und Mitarbeiter genannt worden, „die
       angeblich die Existenz Israels in Frage stellen sollen und sich
       antisemitisch geäußert hätten“. Angeblich? Wird hier etwa ein Dementi
       suggeriert, statt zu verifizieren oder gegebenenfalls zu falsifizieren, ob
       an der Sache was dran ist?
       
       Wer sich die Mühe machte, ihr selber nachzugehen, konnte feststellen, dass
       der Verifizierung des Vorwurfs im Einzelfall nichts im Wege steht. Einer
       der Sprecher des Kollektivs „Question of Funding“, das zur Documenta
       eingeladen wurde, erklärt etwa [4][in einem im Netz nachzulesenden Text],
       die BDS-Bewegung sei nicht radikal genug: Wenn die Forderungen von BDS
       erfüllt wären, bliebe der für „Gräueltaten“ verantwortliche „Apparat“ doch
       unangetastet, meint der Mann.
       
       Weswegen er sich fragt, ob man nicht besser gleich den zionistischen Staat
       zerstören sollte? Dieser postkolonial inspirierte Kulturschaffende, der
       bald in der Kunstmetropole Kassel tätig sein wird, schlägt netterweise vor,
       man solle den jüdischen Bürgern Israels doch dabei helfen, sich von ihrem
       Staat zu „emanzipieren“. Ist das noch Antizionismus von der antisemitischen
       Art oder schon Humanismus?
       
       Schnell ist eine Expertin gefunden, die uns im öffentlich-rechtlichen
       Rundfunk erklärt, wer mit dem „globalen Süden“ ins Gespräch kommen wolle,
       müsse halt akzeptieren, dass man dort „kritischer“ gegenüber Israel sei.
       Ach so: Es gibt gar keinen Unterschied zwischen Kritik an israelischer
       Politik und der Agenda, den jüdischen Staat zu zerstören? Und jede Person
       aus dem „globalen Süden“ ist qua Herkunft Antizionistin? Auch irgendwie
       typisch deutsch, solche blöden Fragen: Hauptsache, wir sind weltoffen.
       
       Provinzler sind wir nicht. So feierte man sich in dieser Woche auch, dass
       das Fernsehen eine Dokumentation über die Wannseekonferenz gesendet hat.
       Korrespondiert das Schwinden der Solidarität mit Juden, die heute in ihrem
       eigenen Staat leben wollen, etwa mit der stets steigerungsfähigen
       nachträglichen Erschütterung über die „Endlösung der Judenfrage“? Schwer
       vorstellbar, in einem so selbstkritischen Land wie diesem.
       
       23 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Geiselnahme-in-Synagoge-in-Texas/!5826334
   DIR [2] https://www.bbc.com/news/world-us-canada-60014006
   DIR [3] /Antisemitismusvorwuerfe-gegen-Corbyn/!5724741
   DIR [4] http://www.yazankhalili.com/index.php/writings/the-utopian-conflict/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
       ## TAGS
       
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