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       # taz.de -- Antisemitismus als globales Phänomen: Kampf gegen Nazis muss global sein
       
       > Politische Verantwortung sollten alle tragen. Unabhängig davon, ob die
       > eigenen Vorfahr_innen an Menschheitsverbrechen beteiligt waren.
       
   IMG Bild: Das KZ Sachsenhausen am 25. Januar 2022
       
       Meine Vorfahren waren [1][nicht am Holocaust beteiligt]. Das ist kein Flex,
       auch wenn ich zugebe, dass ich froh darum bin. Ich habe keine deutsche oder
       österreichische Familie. Keiner meiner (Ur-)Großeltern war in der
       Wehrmacht, bei der SS, der SA, in der HJ, im BDM oder in der NSDAP.
       
       Niemaus in meiner Familie war KZ-Wärter_in oder hat Nachbar_innen verpetzt.
       Die Mehrheit der Deutschen kann das nicht von sich behaupten. Ich denke
       nicht, dass es mich zu einem besseren Menschen macht. Aus Kindern und
       (Ur)-Enkel_innen von Faschist_innen können immer auch Antifaschist_innen
       werden. Leider funktioniert das Ganze auch andersrum.
       
       Für meine politische Verantwortung spielt es keine Rolle, was meine
       Verwandten (nicht) gemacht haben. Würde ich nach, sagen wir, Kanada ziehen,
       würde ich mich schließlich auch mit dem Genozid [2][an den First Nations]
       auseinandersetzen und entsprechend handeln. Nicht, dass sich ein Verbrechen
       mit dem anderen vergleichen ließe, doch die Essenz bleibt: Die Geschichte
       des Ortes, an dem ich lebe, muss nicht mit meiner Familie zu tun haben, um
       heute Konsequenzen daraus zu ziehen.
       
       Trotzdem beobachte ich manchmal, dass Menschen, deren (Groß-)Eltern oder
       sie selbst erst nach 1945 nach Deutschland gekommen sind, sich selbst einen
       Freifahrtschein ausstellen, um sich nicht mit Antisemitismus
       auseinandersetzen zu müssen. Nicht, dass weiße Deutsche gut darin sind,
       Verantwortung aus ihrer Geschichte zu übernehmen, aber das ist keine
       Ausrede.
       
       ## Unbedarft „nie wieder“ posten
       
       Als sei es eine ausschließlich deutsche und [3][nicht globale
       Verantwortung], wenn es um die Aufgabe geht zu verhindern, dass sich so
       etwas wie der Holocaust wiederholt. Kurze Geografiehilfe: Colleyville,
       Pittsburgh, Alexandria, Ravenna, Isfahan, Évora oder Basra liegen woanders.
       
       Offensichtlich können manche Menschen Zusammenhänge ganz gut voneinander
       trennen: Eine nationalsozialistische Vergangenheit von einer
       postnationalsozialistischen Gegenwart, Antisemitismus vom Holocaust oder
       die Shoah von Israels Existenz. Wie oft habe ich letztes Jahr am 27. Januar
       auf Social Media gesehen, dass Leute unbedarft „nie wieder“ posten, während
       sie ihren von Doppelmoral und antisemitischen Narrativen getränkten Hass
       auf Israel kundtun.
       
       Weil für sie nichts mit nichts zu tun hat. Solche Takes entstehen, wenn
       Leute denken, die Auseinandersetzung mit Antisemitismus sei für sie
       irrelevant, weil sie in der Schule was zur NS-Zeit gelernt, ein Buch über
       Antirassismus gelesen oder keine Nazivorfahren haben. Die Kolleg_innen
       werden nicht müde zu betonen, gegen Antisemitismus zu sein, ohne richtig
       sagen zu können, was Antisemitismus eigentlich ist.
       
       Auch mit vagem Antisemitismusverständnis erinnert dieser Tag daran, dass es
       nicht reicht, ein System schlecht zu finden, um es zu verhindern. „Nie
       wieder“ heißt kämpfen, egal, wo maus herkommt.
       
       27 Jan 2022
       
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