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       # taz.de -- Anthologie persischer Lyrik: Sprache in Flammen
       
       > Kurt Scharf und Ali Abdollahi legen den zweiten Band ihrer Auswahl zur
       > persischsprachigen Lyrik des 21. Jahrhunderts im Sujet Verlag vor.
       
   IMG Bild: Viele iranische Intellektuelle beschäftigt die Frage nach den eigenen nationalen Traditionen
       
       Skizzen 
       
       Ein Dieb im Dunkeln / Starrt auf ein Gemälde / Dein Kleid flattert im Wind
       / Dies ist die einzige Fahne die ich liebe / Vergiss das Maschinengewehr /
       Den Tod / Und denk an das Abenteuer einer Biene / Die inmitten eines
       Minenfeldes / Auf der Suche nach einem Blütenstängel ist. 
       
       Garous Abdolmalekian, 1980 in Teheran geboren, preisgekrönter Dichter,
       führt in seinem Gedicht „Skizzen“ auf einem Minenfeld beides zusammen, ein
       tödliches Maschinengewehr und die Abenteuer einer kleinen Biene auf
       Honigsuche. Eine abstruse Engführung, die zur Heiterkeit einlädt.
       Währenddessen macht sich ein Dieb daran, in der Kunst geheime Botschaften
       zu entdecken. Und ein fröhlich flatterndes Kleid ersetzt die Kriegsfahne.
       Welch funkelnd subversiver Bescheid. Dabei darf man nicht vergessen, die
       Islamische Republik Iran sieht sich als wehrhafter, hochgerüsteter Staat
       umgeben von Feinden.
       
       „Ein Dieb im Dunklen starrt auf ein Gemälde“ ist der zweite Band einer
       Anthologie moderner persischsprachiger Lyrik im Sujet Verlag. Kurt Scharf,
       von 1973 bis 79 stellvertretender Leiter des Teheraner Goethe-Instituts,
       und der Dichter und Literaturkritiker Ali Abdollahi sind seine Herausgeber.
       
       1979 war ein tiefer Einschnitt auch für die Lyrik in Iran. Schon vor der
       Revolution, in der Schah-Zeit, verschwanden kritische Schriftsteller in
       Gefängnissen. Der Geheimdienst terrorisierte und folterte, wenngleich in
       wesentlich geringerem Ausmaß als dann die Schergen des Mullah-Regimes. Doch
       war die Phase vor 1979 auch eine des kulturellen Aufbruchs, auch der
       Auseinandersetzung mit westlichen Sichtweisen und Werten.
       
       ## Alte und neue Werte
       
       Viele Intellektuelle beschäftigte die Frage nach den eigenen nationalen
       Traditionen und der Übernahme von Neuem. Einfach formuliert: Welches Gepäck
       wollen wir in die Zukunft mitnehmen? Die Diskussionen erübrigten sich mit
       der Machtübernahme der fundamentalistischen Kleriker und dem von Ajatollah
       Chomeini unerbittlich eingeforderten absoluten Wahrheitsanspruch.
       
       Zwischen Kultur und Macht herrscht seither Entfremdung. „Die Sprache, in
       der ich zu denken pflegte / ist in Flammen aufgegangen. / Kein Gedanke
       fühlt sich mehr in mir daheim“ schrieb die 1967 geborene, 2009 gestorbene
       Lyrikerin und Übersetzerin Sharam Sheidai. Viele iranische Künstler und
       Intellektuelle leben heute im Exil.
       
       „Jeder Geflüchtete spricht in zwei Sprachen / Aber weinen tut er nur in
       einer / In einer anderen lässt er die Erinnerung Revue passieren.“ So die
       1992 geborene Dichterin, Journalistin und Frauenrechtlerin Mariam Meetra.
       
       Interessant ist, dass im heutigen Iran wie auch in den teilweise
       persischsprachigen Ländern Afghanistan und Tadschikistan in den letzten
       Jahrzehnten die Anzahl von Dichterinnen stark zugenommen hat. Vor der
       Revolution von 1979 waren Autorinnen wie Forugh Farrochsad und Simin
       Behbahani berühmte Ausnahmeerscheinungen, die Dichtkunst war eine Domäne
       der Männer.
       
       ## Lebendige Diaspora
       
       Heute treten viele Autorinnen mit ihren Texten an die Öffentlichkeit,
       Websites fördern die Vernetzung und unterlaufen die Zensur. Themen wie
       Trauer und Verlust spiegeln das repressive Klima wider.
       
       Viele der in der Anthologie versammelten Lyriker und Lyrikerinnen haben
       Iran verlassen. Im Exil in aller Welt gründen sie Verlage, arbeiten für
       Zeitschriften, lehren an Universitäten und widmen sich weiterhin – oft
       zweisprachig – der Dichtung. Es ist eine lebendige Diaspora, die den Vers
       von Forugh Farrochsad „Ein toter Vogel lehrte mich, das Fliegen im
       Gedächtnis zu behalten“ beherzigt. Lyrik hatte in der älteren Geschichte
       Irans eine besondere Stellung. Man denke an die bis heute andauernde
       Verehrung (und mitunter nationalistische Verklärung) von Sadi, Hafiz, Rumi.
       
       Aber auch an die iranische Moderne und Gedichte von Sohrab Sepehri oder
       Ahmad Schamlu, die nun in der deutschen Übersetzung kennenzulernen sind.
       Letztere entstanden im sogenannten Zweiten Goldenen Zeitalter der Lyrik,
       das mit der Revolution von 1979 endete. Heute reglementiert ein Block von
       Klerikern öffentliches Handeln und Denken, auch wenn die ideologische
       Gleichschaltung durch das Aufkommen des Internets durchlässiger geworden
       ist.
       
       Die vielen Romane, Erzählungen und auch Gedichte, die in Iran aktuell
       geschrieben werden, sprechen vom anhaltenden Bedürfnis nach Spiegelung,
       nach kultureller Erklärung und Umschreibung der gesellschaftlichen
       Zustände.
       
       30 Jan 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elisabeth Kiderlen
       
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