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       # taz.de -- Coronamaßnahmen in China: Wuhan, zwei Jahre danach
       
       > Die Metropole hat die Coronakrise überwunden. Doch fast jeder Bewohner
       > trägt furchtbare Erinnerungen mit sich. Darüber zu sprechen ist
       > unerwünscht.
       
   IMG Bild: Wuhan heute: Die Millionenmetropole ist zum Alltag zurückgekehrt
       
       Wuhan taz | Wer von Dandan wissen möchte, wie sich ihre Heimat in den
       letzten Jahren gewandelt hat, der vernimmt zunächst ein lautes Seufzen.
       Viel gäbe es da zu erzählen, sagt die alleinerziehende Mutter aus der
       Millionenstadt Wuhan. „Das Schlimmste ist jedoch, dass wir über das meiste
       zunehmend stumm bleiben müssen – sogar zu Hause in der Familie“, sagt
       Dandan. Denn ihre Tochter, die mittlerweile in die Grundschule geht, könne
       sich versehentlich vor den Lehrern verplappern. So tief greift die
       Selbstzensur mittlerweile für die Chinesin aus Wuhan.
       
       An diesem feucht-kühlen Januarnachmittag sitzt die 38-Jährige – eingehüllt
       in Beanie und schwarze Daunenjacke – in einer Starbucks-Filiale, die
       Fensterfront gibt den Blick frei auf ein Einkaufszentrum im „europäischen“
       Stil: In einer gotischen Kathedrale wird gerade ein „Huawei“-Flagship-Store
       aufgebaut, hinter venezianischen Häuserfassaden befinden sich
       Hotspot-Restaurants und Kleidergeschäfte.
       
       Wenig erinnert in der zentralchinesischen Provinzhauptstadt noch daran,
       dass hier vor genau zwei Jahren der weltweit erste [1][Coronalockdown]
       verhängt wurde: 76 Tage lang durften mehr als sechs Millionen Menschen in
       Wuhan ihre Häuser nicht verlassen.
       
       Für jeden Einzelnen von ihnen ist die Zeit von damals mehr als eine bloße
       Statistik oder historische Fußnote. Dandan etwa weiß von einer
       verzweifelten Freundin zu berichten, die in jenen Tagen für ihr
       Neugeborenes kein Milchpulver mehr auftreiben konnte. Andere haben gar
       Familienangehörige verloren. „Die Medien können darüber nicht berichten,
       und auch ich werde immer öfter wie ein Spinner angeschaut, wenn ich über
       die Erinnerungen spreche“, meint die Chinesin. Sie selbst jedoch führe
       einen Kampf gegen das Vergessen.
       
       ## Eine Amnesie auch unter den Bewohnern
       
       Das ist in Wuhan tatsächlich beachtlich: In der Fernsehwerbung, auf
       öffentlichen Plakaten und bei Museumsausstellungen haben die Autoritäten
       den Kampf gegen das Virus längst als bloße Heldengeschichte abgehakt. Für
       Außenstehende noch bemerkenswerter ist, dass die Amnesie keineswegs nur von
       der staatlichen Zensur verordnet, sondern von den Menschen durchaus
       willkommen geheißen wird. Wieso sich mit der schmerzlichen Vergangenheit
       beschäftigen, wenn der Blick nach vorn eine bessere Zukunft verheißt?
       
       Es gibt wenige Länder, die sich so fundamental in den letzten zwei Jahren
       verändert haben wie China. Kaum ein Staat hat das Virus derart erfolgreich
       bekämpft wie die Volksrepublik, doch auch kaum eine Gesellschaft hat im
       Zuge der [2][„Null Covid“-Strategie] ihren Blick so radikal nach innen
       gekehrt. Um die Veränderungen greifbar zu machen, sollte man einmal
       zurückkehren in jene Stadt, in der im Januar 2020 alles seinen Lauf nahm.
       
       Wanke steht im Aufnahmestudio des „Vox Livehouse“, dem angesagtesten
       Rockclub von Wuhan. Zwischen schallgedämpften Wänden und losem Kabelsalat
       auf dem Boden spielt der Student mit der Wuschelfrisur gemeinsam mit seiner
       Band Early Feeling den ersten Song ein: Wanke steuert die melancholische
       Gitarren-Melodie bei.
       
       Nach der Jamsession erzählt er, dass die Band wie so vieles in Wuhan das
       Resultat der Pandemie sei: Statt von Auslands-Semestern zu träumen oder
       bürgerlichen Karrieren hinterherzujagen, hätten die Anfang Zwanzigjährigen
       durch das traumatisierende Erlebnis den Mut gefasst, das zu tun, was ihnen
       wirklich wichtig ist: Musik zu machen.
       
       „Ich habe damals als psychologischer Betreuer bei der Telefonseelsorge
       gearbeitet, jeden Tag haben Leute in Notfallsituationen angerufen“,
       erinnert sich Wanke: „Viele von ihnen waren dann am nächsten Tag
       verschwunden – entweder in Quarantäne-Zentren am anderen Ende der Stadt,
       oder wer weiß …“. Für den jungen Chinesen war dies ein Erweckungserlebnis:
       Den Plan, Journalist zu werden, hängte er an den Nagel. Um sich wirklich
       ausdrücken zu können, wählte er die Musik.
       
       ## Die allgegenwärtige Angst vor dem Virus
       
       Natürlich lässt sich zwischen solchen Aussagen eine gehörige Portion
       Gesellschaftskritik herauslesen. Und dennoch hat die Pandemie das
       Verhältnis der meisten Bürger in ihre Regierung gestärkt: Sie sind dankbar
       dafür, dass sie aufgrund der effizienten Maßnahmen bislang ihren Alltag
       ohne große Einschränkungen leben können. In den Fernsehbildern der
       Propagandamedien wird täglich aufs Neue betont, dass dies im Westen nicht
       der Fall ist: Gesellschaftliches Chaos in den USA, Rekord-Infektions-Zahlen
       in Großbritannien und weitere Hiobsbotschaften bestimmen die
       Abendnachrichten.
       
       Der epidemiologische Erfolg der Volksrepublik zeugt auch vom stoischen
       Pragmatismus der Bevölkerung, die zu großen Teilen trotz extrem niedriger
       Infektionszahlen nach wie vor Masken trägt und auf unnötige Reisen
       verzichtet. Doch die übertriebene Vorsicht hat auch mit einem sozialen
       Stigma zu tun: Die Angst vorm Virus hat unlängst geradezu psychotische Züge
       angenommen. Jede Infektion kann schließlich zur Abriegelung ganzer
       Nachbarschaften führen. In einem solchen Klima möchte niemand dafür
       verantwortlich sein.
       
       Die radikale chinesische Coronastrategie ist auch abseits davon mit
       nachhaltigen, gesellschaftlichen Folgekosten versehen, die wohl erst in den
       kommenden Jahren offen zutage treten werden. Das gegenseitige Verständnis
       zwischen dem Reich der Mitte und dem Westen ist im Zuge der radikalen
       Abschottung des Landes geradezu erodiert: Eine ganze Generation
       chinesischer Austauschstudenten sucht nun ihre berufliche Zukunft in der
       Heimat; etliche Forscher, Journalisten und Expats erhalten keine
       Einreisevisa mehr, und Kunstausstellungen müssen sich seit zwei Jahren bei
       ihren internationalen Teilnehmern auf Zoomschalten beschränken.
       
       Auch [3][Xi Jinping], der seit nun mehr einer Dekade das Land führt, hat
       seit knapp zweieinhalb Jahren weder die eigenen Grenzen überschritten noch
       einen ausländischen Staatschef offiziell empfangen.
       
       Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber ausländischen Einflüssen macht sich
       längst auch beim Umgang mit westlichen Journalisten bemerkbar. Wer seit der
       Pandemie als Korrespondent das Land bereist, wird immer öfter von
       Hotelunterkünften abgewiesen, von „besorgten“ Polizisten während harmloser
       Recherchen ausgefragt und von Passanten insgeheim für einen Spion gehalten.
       
       ## Ausländische Journalisten als das neue Feindbild
       
       Im Sommer 2021 traf es den deutschen TV-Reporter [4][Matthias Bölinger],
       der in der zentralchinesischen Metropole Zhengzhou über die Auswirkungen
       der „Jahrtausendflut“ recherchierte und auch der Frage auf den Grund ging,
       ob die Lokalregierung die tatsächlichen Opferzahlen unter Verschluss hielt.
       Der wütende Mob, aufgescheucht von patriotischen Influencern auf sozialen
       Medien, umzingelte, bedrängte und beschimpfte den angeblich
       „chinafeindlichen“ Journalisten. Die Logik dieser Täter-Opfer-Umkehr lässt
       sich seither immer wieder beobachten: Nicht das Fehlvergehen der
       Autoritäten ist das Problem, sondern die ausländischen Journalisten, die
       darüber berichten.
       
       Solidarisch zeigten sich damals nur die wenigsten Chinesen. „Ihr seid nicht
       die Einzigen, denen so was passiert“, sagt eine Pekinger Journalistin beim
       Feierabendbier. Sie selbst sei gerade vor wenigen Wochen erst von ihrem
       Masterstudium aus Washington zurückgekehrt: In den USA hätten chinesisch
       aussehende Menschen nicht nur verbale Drohungen zu fürchten. Bei aller
       Kritik an ihrem Heimatland solle man die Perspektive des Gegenübers nie
       außer Acht lassen.
       
       Auch in Wuhan, dort, wo alles begann, haben die Menschen ganz andere Sorgen
       als die Beziehungen zum Ausland. „Unser Geschäft hat sich bis heute nie
       vollständig erholt“, sagt der Kellner einer örtlichen Kneipe, der mit
       seiner langen Haarmähne und der runden Nickelbrille ein wenig an John
       Lennon erinnert. Den ersten Sommer nach dem Lockdown seien die Leute in
       Strömen zum Biertrinken und Abhängen gekommen, sagt der Chinese während
       einer kurzen Raucherpause vor der Tür. Dann jedoch sei die Kundschaft
       wieder ausgeblieben. Wirklich zum Feiern sei gerade nur den wenigsten
       zumute.
       
       28 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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