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       # taz.de -- Handelsabkommen zu E-Commerce: Industrieparadies in Planung
       
       > In der Welthandelsorganisation verhandeln die Staaten über einen Vertrag
       > zu digitalem Handel. Geht es nur um mehr Macht für die Konzerne?
       
   IMG Bild: Wird das globale Ungleichgewicht noch vergrößert?
       
       Berlin taz | Onlineplattformen, die sich nicht darum kümmern müssen, ob
       Nutzer:innen Hassbotschaften oder Illegales posten. Niedrige
       Datenschutzstandards. Ein Verbot für Gesetzgeber und Behörden, Einsicht in
       Algorithmen oder Programmiercodes zu fordern: Was klingt wie ein Paradies
       für Internetkonzerne, ist ein Schreckensszenario für Nutzer:innen und
       die Demokratie. Und, so befürchten es NGOs, ein gar nicht mal so
       unrealistisches.
       
       Denn während auf EU-Ebene in diesen Wochen mehrere Gremien [1][strengere
       Regeln für die Regulierung von Onlineplattformen] verabschieden, verhandeln
       Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) eine Vereinbarung, die
       ähnlich weitreichenden Auswirkungen haben könnte: ein Handelsabkommen zum
       E-Commerce, also zum Kauf und Verkauf von Waren und Dienstleistungen im
       Internet.
       
       Seit 2019 verhandeln WTO-Mitgliedstaaten über das Abkommen, zuletzt sorgte
       die Pandemie für einige Verzögerungen. [2][So sollte das Thema auf der
       eigentlich für Ende November 2021 geplanten WTO-Konferenz vorangebracht
       werden] – und ist jetzt mit dieser ins aktuelle Jahr verschoben. Doch auch
       ohne die große Konferenz sind die Verhandlungen bereits weit gediehen. Und
       erste geleakte Papiere und verschiedene Äußerungen veranlassen
       Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zur Sorge.
       
       Bei dem, was man über das geplante Abkommen weiß, steht ein Entwurf vom
       September im Zentrum. Geleakt hat ihn eine niederländische NGO. Offizielle
       Verhandlungsstände oder Positionen haben weder die WTO noch die
       verhandelnden Staaten bislang veröffentlicht. Das 90seitige Papier liest
       sich in weiten Teilen wie ein Wunschzettel der Konzerne – und mutmaßlich
       auch einiger Regierungen – nach niedrigeren Standards, als sie zumindest in
       der EU derzeit gelten.
       
       ## Absehbarer Paradigmenwechsel
       
       Ein Beispiel ist der Umgang mit den Quellcodes und den Algorithmen.
       Eigentlich geht die Tendenz auf EU-Ebene, die ein Verhandlungsmandat für
       das E-Commerce-Abkommen hat, dahin, mehr Offenheit von den Konzernen zu
       fordern. Die aktuellen Pläne zur Plattformregulierung etwa, die in diesen
       Wochen in EU-Gremien debattiert und verabschiedet werden, sehen mehr
       Transparenzpflichten vor. Auch [3][im Kontext von künstlicher Intelligenz]
       will die EU-Kommission mehr Durchsichtigkeit. Grundsätzlich lässt sich nur
       mit Einblick in Algorithmen und Codes zumindest ansatzweise nachvollziehen,
       ob Software so funktioniert wie vorgegeben, ob sie etwa diskriminiert oder
       manipuliert.
       
       Doch in dem geleakten Papier ist der Ton ein anderer. So heißt es: „Kein
       Mitglied und keine Vertragspartei (WTO-Mitglieder oder Vertragsparteien des
       Abkommens, Anm. d. Red.) soll die Übermittlung oder den Zugang zu
       Quellcodes verlangen dürfen, der sich im Besitz eines anderen Mitglieds
       oder einer anderen Vertragspartei befindet, als Bedingung für den Import,
       die Verbreitung oder die Nutzung von Software (…).“
       
       ## Öffentliches Interesse
       
       In einer gemeinsamen Stellungnahme kritisieren der Deutsche
       Gewerkschaftsbund (DGB) und die Entwicklungsorganisation Brot für die Welt
       diesen Ansatz. Regulierungsbehörden müssten weiterhin die Möglichkeit
       haben, Einblick zu erhalten. Mitunter sei die Offenlegung von Quellcodes
       oder Algorithmen auch geboten – weil in öffentlichem Interesse.
       
       Das Bundeswirtschaftsministerium teilt auf Anfrage mit, dass der
       Verhandlungstext „bis zum Sommer 2021 weitgehend finalisiert“ wurde. Das
       betreffe die Bereiche elektronische Signatur, Spam, Verbraucherschutz, Open
       Government, elektronische Verträge und Transparenz. Noch in den
       Verhandlungen befänden sich die Bereiche grenzüberschreitende Datenflüsse
       und Datenlokalisierung, Datenschutz, verpflichtende Offenlegung von
       Algorithmen, Haftung von Internetplattformen und Netzneutralität – also
       auch die Themen, in denen die Verbände dringenden Nachbesserungsbedarf
       sehen. Laut einem Ministeriumssprecher erwartet man eine Einigung erst am
       Ende der Verhandlungen.
       
       ## Mehr Datenkonzentration, mehr Profit
       
       Den beiden Organisationen macht noch etwas Sorge: die globalen Auswirkungen
       eines Abkommens mit derart industriefreundlichen Regeln. „Das
       Handelsabkommen würde die gegenwärtige Konzentration von Daten und Profit
       in der Hand einiger Digitalkonzerne völkerrechtlich festschreiben“, sagt
       Sven Hilbig, Referent für Handelspolitik und Digitalisierung bei Brot für
       die Welt. Schon jetzt sei das weltweite Ungleichgewicht bei der
       Plattformökonomie groß. Sieben IT-Konzerne aus den USA und China hielten
       über 70 Prozent der Marktanteile. Die rund 90 Staaten Afrikas sowie Mittel-
       und Südamerikas dagegen nur 1,5 Prozent. Er sorgt sich, dass ein Abkommen
       in der geplanten Form die Regulierungskompetenzen von Staaten einschränkt –
       und auch der EU.
       
       „Wir befürchten Schlimmstes für die Rechte von Beschäftigten und für die
       Datensouveränität, wenn das WTO-Abkommen in dieser Form kommt“, sagt Stefan
       Körzell, DGB-Vorstandsmitglied. Unter anderem sei es möglich, dass das
       Abkommen die Bedingungen für Beschäftigte verschlechtert – zum Beispiel
       wenn es um den Einsatz von Algorithmen bei der Entscheidungsfindung geht,
       etwa in Bewerbungsprozessen. „Wenn Arbeitgeber beispielsweise mit digitalen
       Methoden Arbeitsprozesse lenken und überwachen, müssen Betriebsräte oder
       auch Beschäftigte in der Lage sein, Einsicht in diese Software zu nehmen,
       um Diskriminierungen auszuschließen. „Big Tech möchte größtmögliche
       Freiheiten bei kleinstmöglicher Verantwortung.“
       
       Dabei ist Körzell nicht grundsätzlich gegen ein Abkommen auf WTO-Ebene. Es
       dürfe allerdings nicht dazu dienen, „digitale Wildwest-Methoden weltweit zu
       etablieren“, sondern müsse stattdessen so gestaltet sein, dass
       Digitalisierung zu nachhaltigem Wohlstand führe. Als einen der Kernpunkte
       sieht er digitale Souveränität – dass also Staaten in der Lage sind, für
       sie zentrale Dienste und digitale Infrastrukturen eigenständig aufzubauen
       und zu betreiben.
       
       19 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Svenja Bergt
       
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