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       # taz.de -- Prozess gegen Lina E.: Es bleibt beim Verdacht
       
       > Seit fünf Monaten wird in Dresden gegen Lina E. und drei Mitangeklagte
       > wegen Angriffen auf Neonazis verhandelt. Die Beweise bleiben wackelig.
       
   IMG Bild: Solidarität mit Lina E.: Tausende demonstrierten im letzten September in Leipzig gegen Kriminalisierung von Antifaschismus
       
       Maximilian A. streicht durch seinen Bart, starrt an die Decke, antwortet
       nur in Halbsätzen. Es sei ja alles so lange her, zwei Jahre. Nein, genauer
       beschreiben könne er die Angreifer nicht, auch nicht den Hammer, den einer
       der Vermummten verwendete. Und wie er den Angriff erlebt habe? „Naja, war
       nicht angenehm.“
       
       Maximilian A. sitzt am Mittwoch im Oberlandesgericht Dresden, im Prozess
       gegen die Leipzigerin Lina E., es ist Verhandlungstag 28. Er ist als Zeuge
       geladen, ein bulliger 21-Jähriger, „zwei Meter, ziemlich genau“, schwarzer
       Kapuzenpullover, kurz geschorene Haare. Ein Bauarbeiter und rechtsextremer
       Kampfsportler. Maximilian A. berichtet von zwei Angriffen auf sich und
       Gesinnungskameraden in seiner Heimatstadt Eisenach, im Oktober und Dezember
       2019. Zwei Angriffe, die Lina E. und ihrer vermeintlichen Gruppe
       zugerechnet werden.
       
       Beim ersten saß Maximilian A. im Bull’s Eye, einer Eisenacher Szenekneipe,
       betrieben von seinem Freund Leon Ringl, ein bundesweit bekannter Neonazi,
       ebenso Kampfsportler. Gegen Mitternacht sei plötzlich ein Dutzend
       Vermummter in die Kneipe gestürmt, hätte auf die Handvoll Gäste
       eingeschlagen, berichtet A. „Das ging alles ziemlich schnell, unter einer
       Minute.“ Er selbst habe sich mit einem Barhocker gewehrt, dadurch nur einen
       Schlag auf den Arm und Pfefferspray abbekommen.
       
       ## War sie die Frau in Eisenach?
       
       Beim zweiten Angriff, zwei Monate später, habe er mit zwei Freunden Ringl
       vom Bull’s Eye nach Hause gefahren, als plötzlich wieder Vermummte
       aufgetaucht seien. Ringl solle „mit der Scheiße aufhören, sonst bringen wir
       ihn das nächste Mal um“, soll ein Angreifer gedroht haben. Man habe sich in
       ein Auto geflüchtet, auch dort sei auf sie eingeschlagen worden, mit
       Stangen und einem Hammer. Mehrere Schläge habe er abbekommen, dazu üppig
       Pfefferspray, berichtete Maximilian A.
       
       Doch die Vermummten genauer beschreiben kann der Rechtsextreme nicht.
       Einzig daran, dass beide Male eine Frau dabei gewesen sei, will er sich
       erinnern. „Zurück“ habe diese bei den Angriffen jeweils gerufen. Dass eine
       Frau sich an so einem Überfall beteiligt, habe ihn „gewundert“. Und die
       langen, dunklen Haare, die bei ihr aus einer Kapuze herausguckten, wie er
       bei der Polizei sagte? „Kann ich mich nicht mehr erinnern.“
       
       Einen ganzen Tag lang dauert die Befragung von Maximilian A. am Mittwoch,
       am nächsten Tag wird sie fortgesetzt. Genauer aber wird es auch am Ende
       nicht. Lina E. verfolgt die Aussage aufmerksam, mal zurückgelehnt, mal
       liest sie in Akten mit. War sie die Frau in Eisenach? Die Aussage von
       Maximilian A. wird es nicht klären. Und so geht das schon länger in diesem
       Verfahren.
       
       ## Sechs schwere Angriffe
       
       Seit September läuft der Prozess gegen Lina E., seit 14 Monaten sitzt die
       Studentin schon in U-Haft. Mitangeklagt sind drei Männer aus Leipzig und
       Berlin, sie indes sind auf freiem Fuß. Die Vorwürfe erhob die
       Bundesanwaltschaft: Das Quartett soll mit anderen eine kriminelle
       linksextreme Gruppe gebildet haben, um Rechtsextreme zu überfallen – mit
       Lina E. als Anführerin. Sechs schwere Angriffe werden ihnen vorgeworfen. Es
       ist die härteste Anklage gegen Linksradikale seit Langem, welche die Szene
       mit einer der größten Solidaritätskampagnen seit Langem kontert. „Free
       Lina“, lautet der Slogan auf vielen Demonstrationen und Hauswänden.
       
       Das Gericht verhandelte inzwischen über alle sechs Übergriffe, begangen
       zwischen August 2018 und Februar 2020: auf den Leipziger Ex-NPD-Mann Enrico
       Böhm, den Wurzener Neonazi Cedric S., auf eine Gruppe von Rechtsextremen in
       Wurzen, auf einen Kanalarbeiter in Leipzig-Connewitz, der eine Mütze mit
       einem rechtsextremen Emblem trug. Und seit dieser Woche wird auch über den
       Überfall auf die Eisenacher Rechtsextremen gesprochen.
       
       ## Die Beschuldigten schweigen allesamt
       
       Alle Attackierten berichteten von Prellungen, Platzwunden oder
       Knochenbrüchen, in einem Fall mussten danach Metallplatten im Gesicht
       eingesetzt werden. Aber die Beweislage bleibt auch seit ihren Aussagen
       unklar. Waren die vier Angeklagten wirklich an den vorgeworfenen
       Übergriffen beteiligt? Waren sie wirklich eine feste Gruppe? Und war Lina
       E. ihre Anführerin?
       
       Die Beschuldigten schweigen allesamt dazu. Deshalb wird nun kleinteilig
       Indiz um Indiz besprochen, jeder Zeuge penibel befragt. Diese Woche sollte
       Leon Ringl aussagen, der Eisenacher Kneipenbetreiber. Er ist der bisher
       einzige Zeuge, der in Polizeivernehmungen angab, bei den Angriffen in
       Eisenach Lina E. direkt erkannt zu haben – anhand der Stimme, der Statur,
       den Bewegungsabläufen. Kann das sein? Auch das bleibt vorerst ungeklärt:
       Ringl sagte kurzfristig ab – er habe einen Bandscheibenvorfall. So
       verzögert sich dieser Prozess erneut.
       
       Lina E. lässt sich im Gerichtssaal dazu nichts anmerken, winkt zu Beginn
       weiter lächelnd ihrer Mutter und Freunden zu, die stets unter den
       Zuhörenden sind. Die bisherigen Zeugen müssen die 26-Jährige auch nicht
       beunruhigen. Der angegriffene Kanalarbeiter konnte die vermummten Angreifer
       nicht beschreiben. Ein Arbeitskollege auch nicht das „Mädchen“, das mit
       dabei gewesen sei. Auch die Wurzener Neonazigruppe, die gerade von einem
       Aufmarsch in Dresden zurückkehrte, konnte die Angreifer nicht
       identifizieren.
       
       ## VW Golf mit geklauten Kennzeichen
       
       Der Leipziger Enrico Böhm legte sich gar fest, er habe die Vermummten „als
       männlich wahrgenommen“. Einer Frau hätte er „so einen Übergriff nicht
       zugetraut“. Und der Wurzener Cedric S. erklärte zwar, beim Angriff auf ihn
       sei eine zierliche Frau dabei gewesen, die ihn als „Nazischwein“ beschimpft
       habe. Genauer beschreiben konnte aber auch er sie nicht – und bei der
       Polizei hatte S. zuvor nie eine Frau erwähnt.
       
       Klar aber ist: Nach dem zweiten Angriff in Eisenach wurde Lina E. erstmals
       kurzzeitig festgenommen. Beamte stoppten sie nach dem Eisenacher Angriff in
       einem Fluchtauto, einem VW Golf mit geklauten Kennzeichen, zusammen mit dem
       Mitangeklagten Lennart A. Es war das Auto ihrer Mutter. Zudem war sie tags
       zuvor beim Diebstahl zweier Hämmer in einem Leipziger Baumarkt erwischt
       worden.
       
       Und die Bundesanwaltschaft führt noch weitere Indizien an. Einen
       gefälschten Ausweis von Lina E. aus ihrer Wohnung. Eine Vielzahl an Handys,
       Perücken und Brillen, mit denen sie immer wieder ihre Identität
       verschleiert habe. Ihren Verlobten Johann G., der seit anderthalb Jahren
       untergetaucht ist, der sich auch an Angriffen beteiligt habe und von dem
       sich im Bull’s Eye Blutspritzer befunden haben sollen. Am Tatort von Enrico
       Böhm fand sich zudem eine DNA-Mischspur auf einer Tüte, die zu Lina E.
       passen könnte. Im Prozess angehörte Sachverständige waren sich jedoch über
       die Aussagekraft der DNA uneins, die Verteidigung hält sie für nicht
       verwertbar. Zudem sei ungeklärt, was die Tüte mit dem Angriff zu tun habe.
       
       ## Die Frau sei „kräftiger“ gewesen
       
       Die Anwält:innen ziehen nicht nur dieses Indiz in Zweifel. Gefundene
       Fotos bei Lina E. vom Fußballplatz, auf dem Cedric S. trainierte? Offen,
       wer diese machte. Videoaufnahmen von Lina E. aus einer Regionalbahn vor dem
       Angriff auf die Neonazis in Wurzen? Nicht geklärt, ob diese wirklich die
       Angeklagte zeigen. Ein abgehörtes Gespräch aus einem Auto, in dem Johann G.
       über den Angriff auf den Kanalarbeiter sagt, „das waren wir“? Der Satz sei
       mehrdeutig, das „Wir“ könne auch „die Connewitzer“ gemeint haben. Zudem
       dürfe die Aufnahme nicht verwendet werden, weil sie aus einem anderen
       Verfahren stamme.
       
       Und überhaupt: Wer sage denn, dass es immer Lina E. war, sobald eine Frau
       an einem Tatort gewesen sein soll? Tatsächlich fanden LKA-Ermittler etwa
       nach dem Angriff auf Cedric S. weibliche DNA auf dessen Kapuzenpullover.
       Laut seinen Aussagen kann die DNA nur von der Attacke stammen – sie passt
       aber nicht zu Lina E. Auch beim Angriff auf Enrico Böhm beschrieben zwei
       Zeuginnen zwar eine Frau, die aber passt nicht auf Lina E. Ebenso beim
       Bull’s Eye, wo laut Betreiber Ringl eine Frau das Lokal zuvor ausgespäht
       haben soll, die aber „kräftiger“ gewesen sei. „Die Bundesanwaltschaft geht
       einfach davon aus, dass es immer Lina E. war, die an den Angriffen
       beteiligt war“, kritisiert Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Lina E.
       „Aber das ist bisher nirgendwo bewiesen.“
       
       Bisher ungeklärt im Prozess ist auch, wie genau die Gruppe um Lina E.
       ausgesehen haben soll. Gab es überhaupt eine feste Gruppe? Die Anklage
       sieht hier als einen Beleg einen Brief an einen Mitangeklagten, in dem eine
       Bekannte eine Abschottung seiner Gruppe beklagt. Die Verteidigung hält
       diesen Brief jedoch für rechtlich nicht verwertbar – und sieht die
       behauptete Gruppe als Konstrukt, für das einfach mehrere Körperverletzungen
       zusammengefasst wurden.
       
       ## Bundesgerichtshof verwies auf Fluchtgefahr
       
       Die Bundesanwaltschaft ermittelte jedenfalls noch zu fünf weiteren
       Personen, die sie der Gruppe zurechnete. Bis auf Johann G. gab sie die
       Verfahren zuletzt aber an die Staatsanwaltschaft Gera ab – weil eine
       besondere Bedeutung dieser Fälle nicht mehr gegeben sei. Ermittelt wird
       dennoch weiter: [1][Erst am Mittwoch, kurz vor Prozessbeginn, erfolgten
       Razzien in Leipzig gegen zwei Linke], denen vorgeworfen wird, Johann G.
       beim Untertauchen geholfen zu haben. Sie sollen für ihn persönliche
       Gegenstände in einer Box auf einem Connewitzer Dachboden deponiert haben.
       
       Richter Hans Schlüter-Staats verlängerte wegen der zähen Beweisaufnahmen
       die Prozesstermine inzwischen bis Ende Juni. Dass Lina E. und die drei
       Mitangeklagten am Ende verurteilt werden, ist indes nicht ausgeschlossen.
       Bei der nicht vorbestraften 26-Jährigen ist dies zumindest für die
       gestohlenen Hämmer und den Eisenacher Angriff wahrscheinlich, bei dem sie
       im Fluchtauto gefasst wurde. Und womöglich auch für andere Taten – dann,
       wenn das Gericht nicht die Indizien im Einzelnen für stark genug hält, alle
       zusammengenommen aber schon. Die Richter ließen bisher nicht erkennen, dass
       sie die Anklage völlig in Zweifel ziehen.
       
       Verteidiger Ulrich von Klinggräff dagegen betont: „Aus meiner Sicht reicht
       bisher kein einziger Anklagepunkt für eine Verurteilung.“ Auch ein
       Solidaritätsbündnis für die Angeklagten spricht von einem „politisch
       motivierten, unfairen Prozess“, Lina E.s lange U-Haft sei eine
       „vorverurteilende Bestrafung“. Der Bundesgerichtshof verwies dagegen auf
       eine Fluchtgefahr und eine mögliche hohe Strafe für Lina E., da sie laut
       Anklage – anders als die Mitangeklagten – an allen Taten beteiligt gewesen
       sei.
       
       29 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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