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       # taz.de -- Neuer Roman von Sofi Oksanen: Geschichte einer Eizellenspenderin
       
       > Sofi Oksanen erzählt von der Armut, die Frauen in der Ukraine zur
       > Leihmutterschaft drängt. Ihre Protagonistin ist Opfer und Täterin
       > zugleich.
       
   IMG Bild: Postsowjetische Wirklichkeit: Sofi Oksanen
       
       Olenka ist untergetaucht. Mit falschem Pass lebt sie in einer kleinen
       Wohnung am Rand von Helsinki. Mit dem Geld, das sie als Angestellte einer
       Reinigungsfirma verdient, kommt sie gerade so über die Runden. Das war
       früher anders. In Dnipro, einer Stadt im Osten der Ukraine, hatte sie
       mitten in der Stadt gewohnt. Sie hatte ein Auto, sie hatte Geld und sie
       hatte eine große Liebe. Geblieben ist ihr am Ende nichts.
       
       Die Erzählerin in Sofi Oksanens neuem Roman „Hundepark“ wächst im
       estnischen Tallinn auf. Nach dem [1][Zusammenbruch der Sowjetunion,] als
       sie in die Pubertät kommt, zieht die Familie nach Snischne, eine Kleinstadt
       im Donezk-Gebiet. Der Vater stammt von dort und glaubt, im Kohlegeschäft
       das ganz große Geld machen zu können.
       
       Zusammen mit seinem besten Freund Maxim arbeitet er für einen der
       Oligarchen, der sich nach der Auflösung der Staatsbetriebe mit mehr oder
       weniger kriminellen Methoden die Kohlegruben unter den Nagel reißt. Doch
       Olenkas Vater und sein Freund wollen ein größeres Stück des Kuchens. Sie
       beginnen auf eigene Rechnung zu arbeiten. Kurze Zeit später werden ihre
       Leichen in einem illegalen Bergwerksschacht gefunden.
       
       Sehr schnell hat Sofi Oksanen die verschiedenen Fäden der Geschichten von
       „Hundepark“ ausgelegt. Doch erst nach und nach erfährt der Leser, wohin sie
       führen, wo sie zusammenstoßen und wie sie sich verbinden. Die für einen
       guten Spannungsbogen richtige Dosierung der Informationen ist eine große
       Kunst, die Oksanen so gut beherrscht, dass der Roman wie ein Thriller bis
       zur letzten Seite spannend bleibt.
       
       Gleichzeitig vermittelt die finnische Autorin eindrücklich den Alltag in
       der Ukraine, der für viele von Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit
       geprägt ist. Oksanen, die einen finnischen Vater und eine estnische Mutter
       hat, kennt die Sowjetunion noch von Besuchen in ihrer Kindheit her.
       
       ## Geruch nach Kindheit
       
       „Die brütende Hitze unserer Sommer setzte in den Zimmern einen Geruch aus
       den Tapeten frei“, legt sie ihrer Erzählerin über ukrainische Hotelzimmer
       in den Mund, „dem die Ausländer nicht mit derselben Nachsichtigkeit
       begegneten wie ich. Ihrer Meinung nach war das ein muffiger Gestank, nicht,
       wie ich fand, der Geruch nach Kindheit.“
       
       Der Leser spürt, dass Olenka eine Mischung aus der Autorin und einer
       erfundenen Figur ist. Ihre Einsamkeit in dem anonymen Appartementblock in
       Helsinki ist gleichzeitig Ausdruck der modernen Existenz vieler. Das macht
       Oksanens Erzählerin für den entsprechenden Leser zur Identifikationsfigur.
       Und vermittelt über diese Identifikation ein Stück der postsowjetischen
       Wirklichkeit.
       
       In Rückblicken in die Zeit vor ihrer Flucht erzählt Olenka, wie sie über
       den Umweg als Fotomodell in einer ukrainischen Agentur für Leihmütter und
       Eizellenspenden zur Koordinatorin aufsteigt. Weil die Dienstleistung, die
       die Agentur anbietet, sehr teuer ist, stammen die meisten Kunden aus dem
       Westen. Dort sind zudem in den meisten Ländern sowohl Eizellenspenden als
       auch Leihmütter verboten. [2][In der Ukraine ist beides erlaubt] und die
       vorhandenen Gesetze werden im Allgemeinen lockerer ausgelegt.
       
       ## Kinder aus dem Katalog
       
       Kunden können sich dort aus dem Katalog eine Frau aussuchen, deren
       genetischen Code sie sich für ihre Kinder wünschen. Die Klinik für den
       medizinischen Transfer und die Agentur, die die Leihmütter und
       Eizellenspenderinnen vermittelt, gehören derselben Firma, sind aber nach
       außen durch ein kompliziertes Unternehmensgeflecht getrennt. „Das war ein
       genialer Schachzug gewesen. Die Klinikärzte konnte man nicht der Eugenik
       beschuldigen, denn nur die Mitarbeiter der Agentur sprachen mit den Kunden
       darüber, was für Eigenschaften das gewünschte Kind haben sollte.“
       
       Nachdem Olenka selbst Eizellen gespendet hat, beginnt sie in der Agentur zu
       arbeiten. Als eines Tages ihre Mutter anruft und die jüngste Tochter ihrer
       besten Freundin als Eizellenspenderin vorschlägt, ist sie zunächst
       skeptisch. Sie kennt Daria nur als kleines Mädchen mit schrundigen Knien
       und langen Zöpfen. Doch als sie dann vor ihr steht, scheint ihr keine Frau
       so gut für den Job geeignet zu sein, wie sie.
       
       Das Schicksal von Olenka steht im Vordergrund von „Hundepark“. Aber Sofi
       Oksanens Romane erzählen immer auch vom historischen und gesellschaftlichen
       Hintergrund ihrer Geschichten. In „Stalins Kühe“ waren es die sowjetischen
       Frauen, die ein Verhältnis zu finnischen Gastarbeitern eingingen, von denen
       die wenigsten dann geheiratet wurden und nach Finnland gehen konnten. Einem
       gelobten Land, in dem die meisten dann als „Russinnen“, als Paria
       unglücklich ihr Leben fristen mussten.
       
       ## Der Kunde ist König
       
       [3][In „Fegefeuer“,] ihrem bisher erfolgreichsten Buch, war es die dunkle
       Vergangenheit Estlands, die in die Schilderung zweier Frauenschicksale
       einfloss. „Hundepark“ erzählt von der Armut, die viele Frauen in der
       Ukraine zu Leihmutterschaft oder Eizellenspende drängt. Von dem Geld, das
       sie damit verdienen, erhoffen sie sich ein besseres Leben.
       
       Doch der solvente Kunde ist König, im Zweifelsfall auf Kosten der Frauen.
       Stimmt bei einer Leihmutter das Geschlecht eines Kindes nicht, sind
       Abtreibungen nach dem dritten Monat keine Seltenheit, obwohl auch in der
       Ukraine nur bei einer medizinischen Indikation, etwa bei einer schweren
       Behinderung des Kindes, solche Abtreibungen erlaubt sind. Das viele Geld,
       das damit verdient wird, und die korrupten Verhältnisse machen es möglich
       und haben das Land inzwischen weltweit zur Nummer eins in der
       Reproduktionsmedizin gemacht.
       
       Aber Olenkas Agentur hat nicht nur Kunden aus dem Westen. Als Lada Krawez,
       Schwiegertochter eines ukrainischen Oligarchen, nach einer Eizellenspende
       wieder einmal eine Fehlgeburt hat, soll Olenka nach einer neuen Spenderin
       suchen. Sie denkt sofort an Daria. Eine große Chance für sie, aber auch ein
       großes Risiko.
       
       ## Zerschnittenes Gesicht
       
       Einerseits würde sie nach einer erfolgreichen Schwangerschaft weiter im
       Unternehmen aufsteigen; sie würde ihrem Traum, ihrer Mutter und ihrem Onkel
       in Snischne eine neues Haus zu bauen, eines mit Wasseranschluss und Bad,
       sehr viel näher kommen; andererseits hatte die abergläubische und
       neurotische Lada Krawez die Schuld für die letzte Fehlgeburt der
       Eizellenspenderin gegeben – wegen ihres angeblich schlechten Lebenswandels.
       Danach hatte sie ihr mit einer Schere das Gesicht zerschnitten.
       
       Die junge Frau war mit einem größeren Geldbetrag ruhiggestellt worden. Aber
       was würde die beste Freundin von Olenkas Mutter sagen, wenn das mit Daria
       passierte?
       
       „Hundepark“ erinnert an Rachel Kushners Roman, „Ich bin ein Schicksal“.
       Hier wie dort versetzen sich die Autorinnen in Frauen hinein, die sich in
       einer aussichtslosen Lage befinden. Während Kushner die Geschichte einer
       Frau erzählt, die aufgrund der unmenschlichen Strukturen in den
       amerikanischen Gefängnissen keine Chance mehr hat, je in die Freiheit
       entlassen zu werden, steht bei Oksanen eine Frau im Mittelpunkt, die durch
       die Armut ungewollt in die Mühlen der ukrainischen Mafia gerät.
       
       ## Parkbank in Helsinki
       
       Dazu gehört auch, dass Sofi Oksanens Protagonistin widersprüchlich ist;
       Olenka ist nicht nur Opfer, sie ist auch Täterin. Hass und Gewalt sind ihr
       nicht fremd. Schließlich ist sie nicht nur in den von Armut und Korruption
       geprägten Verhältnissen in der Ukraine aufgewachsen, sondern hat auch eine
       Zeit lang von diesen Verhältnissen profitiert.
       
       Sie war es, die Daria für Eizellenspenden rekrutiert hatte. Sie hatte ihren
       Körper und ihre Herkunft, Krankheiten, Sexualpartner wie bei einer Zuchtkuh
       überprüft. Daria brauchte unbedingt Geld. Und Olenka hatte gewusst, wie sie
       das für sich ausnutzen konnte.
       
       Aber dann war etwas schiefgegangen. Und jetzt, lange Jahre, nachdem sie
       sich zuletzt gesehen hatten, setzt sich Daria plötzlich in Helsinki neben
       sie auf die Parkbank. Olenka befürchtet das Schlimmste. Denn vor ihr, auf
       der Rasenfläche, spielen die Kinder einer Familie, die wegen ihrer
       Eizellenspende Darias, aber auch Olenkas Kinder hätten sein können.
       
       Was will Daria? Will sie Geld oder ist sie nur im Auftrag derjenigen
       unterwegs, die Olenka suchen? Oder denkt sie, dass es ihre Kinder sind, die
       auf dem Rasen spielen?
       
       29 Jan 2022
       
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