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       # taz.de -- Wendung im Partygate-Skandal: Kein Einblick hinter dieser Nummer
       
       > Seit zwei Monaten gärt der Skandal über illegale Partys in 10 Downing
       > Street. Aber Boris Johnson könnte die gefährlichste Phase überstanden
       > haben.
       
   IMG Bild: Was alles hinter dieser Tür abgeht, erregt die Öffentlichkeit. Erfährt sie es auch?
       
       London taz | Diese Woche könnte entscheidend in der britischen Politik
       werden. So wie die letzte und die vorletzte. Für Montag wird jetzt endlich
       die Veröffentlichung des [1][Untersuchungsberichts der hohen Beamtin Sue
       Gray] zum „Partygate“-Skandal erwartet, der Affäre um regelwidrige
       Zusammenkünfte im Amtssitz von Premierminister Boris Johnson in 10 Downing
       Street während des Coronalockdowns. Doch ob in der Veröffentlichung
       überhaupt noch etwas drinsteht, ist zunehmend zweifelhaft.
       
       Denn nachdem Gray herausfand, dass einige Vorfälle so schwerwiegend waren,
       dass sie die Polizei einschalten musste, hat die Londoner Polizei die
       Ermittlungen an sich gezogen und Gray einen Maulkorb verpasst. Sie soll, so
       die Polizei am Freitag, in ihrem Bericht nur noch „minimale“ Angaben zu den
       untersuchten Ereignissen machen – damit mögliche Zeugen nicht vor ihrer
       polizeilichen Befragung im Detail nachlesen können, was man bereits weiß.
       Und man weiß viel.
       
       Am 30. November 2021 brachte das britische Boulevardblatt Daily Mirror
       [2][die ersten Klagen über angebliche Partys in 10 Downing Street] während
       pandemiebedingter sozialer Kontaktbeschränkungen: Boris Johnson habe einer
       gut besuchten Abschiedsparty eines Angestellten beigewohnt, im November
       2020, während des zweiten Lockdowns.
       
       Im Dezember 2020 hätten „40 bis 50 Mitglieder“ des Topteams von 10 Downing
       Street eine Weihnachtsfeier abgehalten, zu einer Zeit, als niemandem
       derartiges gestattet war, ja später Menschen Weihnachten alleine verbringen
       mussten, behauptete das Blatt. Die Zeitung führte eine nicht genannte
       Quelle auf, die die Feier einen „Covidalptraum“ nannte.
       
       Eine dritte Party soll am Tag abgehalten worden sein, als Dominic Cummings,
       der ehemalige Chefberater Johnsons, am 27. November 2020 seinen Posten
       verließ. „Carrie Johnson, die Gattin Boris Johnsons, ist partysüchtig und
       der Premier schaut weg“, schrieb das Blatt damals.
       
       Ein Sprecher Carrie Johnsons gab sofort zu, dass sie eine Party in ihrer
       Wohnung abhielt, die Regeln seien aber eingehalten worden. Auch Boris
       Johnson versicherte im Parlament, dass die Vorschriften eingehalten worden
       seien. Doch seit dieser ersten Enthüllung folgen immer neue.
       
       ## Dominic Cummings gegen Carrie Johnson
       
       Dass dahinter zum Teil [3][Dominic Cummings] steckt, der einstige
       Brexit-Stratege, der für seine Entlassung im November 2020 eine Intrige von
       [4][Carrie Johnson] verantwortlich macht und seitdem auf Rache aus ist, ist
       klar. Cummings verwies wiederholt auf Informationen und Daten von Partys,
       während er gleichzeitig Johnsons Frau bezichtigte, politische
       Entscheidungen zu stark zu beeinflussen. Das finden auch andere Brexiteers,
       die über neo-sozialistische, grün-fanatische, pro-woke „Gruppen“ um den
       Premier schimpfen.
       
       Die Ironie dabei: Cummings war der Erste, der wegen Bruchs der
       Lockdown-Regeln einen Skandal herbeiführte. Am 22. Mai 2020 kam er in die
       Schlagzeilen, weil er Ende März während des ersten Lockdowns entgegen den
       Regeln mit seinem Auto über 400 Kilometer mit seiner Familie aus London zu
       seinen Eltern nach Durham gefahren war, da er glaubte, sie hätten Covid-19.
       Am 12. April 2020 fuhr er von dort zum 50 Kilometer entfernten Barnard
       Castle, um, wie er später angab, seine „Augen zu testen“ vor der Rückfahrt
       nach London am nächsten Tag. [5][Cummings’ Eskapaden], während Boris
       Johnson zeitweise mit Covid-19 im Krankenhaus lag, führten zum ersten Mal
       zum Vorwurf, 10 Downing Street wende auf sich selbst andere Regeln an als
       auf die Allgemeinheit.
       
       Damals stellte sich der Premierminister noch hinter seinen Chefberater. Der
       hat sich, nachdem er ein halbes Jahr später doch seinen Job verlor, nicht
       revanchiert, im Gegenteil.
       
       Am 7. Dezember 2021 erklärte Allegra Stratton, Johnsons frischberufene
       Pressesprecherin und eine persönliche Freundin von Carrie Johnson, unter
       Tränen [6][ihren Rücktritt], nachdem sie auf einem Videoclip bei einer
       Pressekonferenzübung am 22. Dezember 2020 über Weihnachtsfeiern witzelte,
       die keine gewesen seien, sondern „nur Käse und Wein“. Johnson gab sich im
       Unterhaus schockiert. „Dieses Verhalten macht mich krank und ich bin außer
       mir, aber ich wiederhole, mir wurde immer wieder versichert, dass die
       Regeln nicht gebrochen wurden.“
       
       Johnson ordnete eine Untersuchung an, geführt vom höchsten Kabinettsbeamten
       [7][Simon Case]. Eine Woche später gab Case dies wieder ab, weil er, wie er
       beichtete, sich selber auf einer Weihnachtsfeier am 17. Dezember 2020
       befunden habe. Die Untersuchung wurde an die langjährige einstige
       Ethikchefin von 10 Downing Street übergeben, [8][Sue Gray], die sich einen
       Ruf als trockene Vollstreckerin anvertrauter Aufgaben erarbeitet hat.
       
       Am 20. Dezember 2021 wurde dann britischen Medien ein Foto mit Boris und
       Carrie Johnson und anderen auf einer Gartenparty am 15. Mai 2020
       zugespielt. Johnson sagte dazu, dass auf dem Foto „Menschen bei der Arbeit
       zu sehen waren, die über Arbeit gesprochen hätten“.
       
       ## Die Enthüllungen gegen die Ausreden
       
       Im neuen Jahr 2022 ging die inzwischen als Partygate bezeichnete Affäre in
       ihre nächste Runde. Der TV-Sender ITV – wo die zurückgetretene Allegra
       Stratton jahrelang als Nachrichtenchefin gearbeitet hatte – berichtete am
       10. Januar über eine Party am 20. Mai 2020, auf der auch Johnson anwesend
       gewesen sein soll. Sein Chefsekretär Martin Reynolds hatte aufgrund des
       schönen Wetters per E-Mail in den Garten von 10 Downing Street eingeladen.
       „Bringt euren eigenen Stoff mit“, hieß es da. Laut den Coronaregeln durften
       Menschen in England zu diesem Zeitpunkt in Freien nur eine Person aus einem
       anderen Haushalt treffen.
       
       Johnson entschuldigte sich dafür im Parlament und wiederholte sein
       Argument, er habe das für ein Arbeitstreffen gehalten – der Garten von 10
       Downing Street sei schließlich Teil seines Büros. Er sei nur kurz da
       gewesen, „um Angestellten zu danken“, sagte er, „im Rückblick hätte ich das
       Treffen absagen müssen“.
       
       Cummings wiederum behauptete, er habe darauf hingewiesen, dass das Treffen
       regelwidrig sei. Wobei es unmittelbar vor dem Bekanntwerden seiner eigenen
       Durham-Eskapade stattfand.
       
       Ausgerechnet der konservative Daily Telegraph, Boris Johnsons Hausblatt,
       drehte „Partygate“ weiter. [9][Er enthüllte zwei Partys] in der Nacht des
       16. Aprils 2021, der Tag vor der Beerdigung des verstorbenen Gemahls der
       Queen, Prinz Philip. Zwei feuchtfröhliche Partys bis in die Morgenstunden
       habe es gegeben, mit einem Koffer voller Alkohol aus einem nahegelegenen
       Supermarkt, während am Tag danach die Königin allein in der Kapelle in
       Windsor bei der Trauerfeier saß, die wegen der Kontaktregeln auf ein
       Minimalniveau heruntergefahren war.
       
       Johnson selber hat zu dieser Feier ein Alibi, er befand sich auf dem
       Landsitz Chequers, doch schon bald erfuhr die Öffentlichkeit von weiteren
       Treffen von Carrie Johnson mit einer Freundin sowie einer Geburtstagsfeier
       für Boris Johnson mit Kuchen am 19. Juni 2020. Insgesamt haben die Medien
       zwischen Ende November 2021 und Ende Januar 2022 16 verschiedene Vorfälle
       zwischen dem 15. Mai 2020 und 16. April 2021 aufgedeckt. Nicht alle waren
       in 10 Downing Street, einige auch in anderen Regierungsgebäuden.
       
       ## Die Partei gegen den Premierminister
       
       Ist ein Premier, unter dessen Verantwortung so etwas geschieht, noch zu
       halten? [10][Douglas Ross], der Führer der schottischen Konservativen, war
       der Erste, der sich traute, offen zu verlangen, dass Johnson gehen müsse.
       Am 19. Januar 2022 lief der konservative Abgeordnete [11][Christian
       Wakeford] aus der Riege der 2019 frischgewählten Tory-Abgeordneten aus
       ehemaligen Labour-Wahlkreisen zu Labour über. Noch am gleichen Tag forderte
       der ehemalige konservative Brexitminister [12][David Davis] im Parlament
       mit einem alten Zitat Johnson zum Rücktritt auf: „Du bist hier zu lang für
       all das Gute, das du getan hast; in Gottes Namen geh!“
       
       Johnsons Tage schienen gezählt. Den Regeln der Konservativen nach gibt es
       ein Misstrauensvotum gegen den Parteichef, wenn 15 Prozent der
       Parlamentsfraktion es beantragen – aktuell wären das 54 Abgeordnete.
       Verliert er es, ist er automatisch sein Amt los. Es wurde in den
       vergangenen zwei Wochen viel spekuliert, ob die magische Zahl 54 schon
       erreicht worden sei.
       
       Verschiedene Abgeordnete berichteten über massiven Druck aus der
       Fraktionsführung, ja keinen Misstrauensantrag einzureichen. So behauptete
       Wakeford, man habe ihm gedroht, den Bau einer neuen Schule in seinem
       Wahlkreis zu streichen, wenn er sich gegen Johnson ausspreche.
       
       Dennoch schien die Unzufriedenheit innerhalb der Fraktion noch nicht groß
       genug. Einige gaben an, Wakefords Übertritt zu Labour habe einige Gemüter
       zur Besinnung gebracht: soll man wirklich jetzt vorgezogene Neuwahlen
       provozieren?
       
       ## Die Polizei gegen die Öffentlichkeit
       
       Doch es sollte sich weiter zuspitzen. Am 25. Januar, einen Tag nach den
       Enthüllungen zur Geburtstagsfeier für den Premier, gab die Chefin der
       [13][Londoner Polizei], Cressida Dick, polizeiliche Ermittlungen zu
       Regelbrüchen in 10 Downing Street und Whitehall während der Pandemie
       bekannt. Es gebe „Beweise, dass jene, die an den Treffen beteiligt waren,
       wussten oder hätten wissen müssen, dass das, was sie taten, das Gesetz
       brach“, sagte sie.
       
       Damit wurde „Partygate“ strafrechtlich relevant. Auch die Verteidigung
       Johnsons ist dabei wichtig. Sollte er als Premierminister das Unterhaus
       bewusst angelogen haben, wird sein Rücktritt erwartet. Mit diesem Punkt
       konfrontierte Labour-Oppositionsführer Keir Starmer den Premier bei der
       Fragestunde am 26. Januar. Stündlich wurde da die Veröffentlichung von Sue
       Grays Untersuchungsbericht erwartet.
       
       Doch in dieser Fragestunde war der Beifall aus der Fraktion für den Premier
       schon deutlich stärker als zuvor. Und der Gray-Bericht ließ auf sich
       warten. Er werde juristisch geprüft, hieß es. Am Freitag legte die Polizei
       dann ihre zweite Bombe: Der Bericht solle Ereignisse, zu welchen die
       Polizei ermittelt, nur minimal behandeln.
       
       Die auf Drängen der Opposition abgegebene Zusage des Premierministers, den
       Gray-Bericht vollständig und unverändert zu veröffentlichen, ist damit
       hinfällig – die Polizei hat es verboten. Das hat einen
       juristisch-politischen Streit ausgelöst: Handelt die Polizei politisch, da
       sie Innenministerin Priti Patel unterstellt ist, die Johnson schützen will?
       
       Oder sind Argumente wie die von [14][Kirsty Brimelow] relevant,
       Vizepräsidentin der Vereinigung der Strafverteidiger: Sie sagt, das größte
       Problem für mutmaßlich Verantwortliche für illegale Partys sei weniger der
       mit Geldbußen geahndete Bruch der Coronaregeln als die Missachtung von
       Amtsvorschriften, was deutlich schärfer bestraft wird.
       
       Das von vielen noch vor wenigen Tagen erwartete politische Aus für Boris
       Johnson ist jedenfalls in weite Ferne gerückt. Johnson könnte zur
       Veröffentlichung des Berichts sogar selbst gar nicht im Land sein, da er
       sich auf eine Reise nach Osteuropa aufmacht, um sich mit Nato-Verbündeten
       auszutauschen.
       
       Seit Neuestem stellt er sich anhand der Ukraine-Krise ganz nach dem
       [15][von ihm bewunderten Winston Churchill] dar, „wahrer Befreier“ Europas.
       Und ein Skandal, der zwei Monate lang immer größere Kreise zog, scheint nun
       genau in dem Moment dahinzuschmelzen, als er den Premier unter sich zu
       begraben drohte.
       
       30 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.instituteforgovernment.org.uk/explainers/sue-gray-investigation
   DIR [2] https://www.mirror.co.uk/news/politics/boris-johnson-broke-covid-lockdown-25585238
   DIR [3] https://twitter.com/Dominic2306
   DIR [4] https://twitter.com/carrielbjohnson
   DIR [5] https://en.wikipedia.org/wiki/Dominic_Cummings_scandal
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=Cwt3BDi236E
   DIR [7] https://www.gov.uk/government/people/simon-case
   DIR [8] https://www.gov.uk/government/people/sue-gray
   DIR [9] https://www.telegraph.co.uk/politics/2022/01/13/two-parties-held-downing-street-queen-country-mourned-death/
   DIR [10] https://twitter.com/Douglas4Moray
   DIR [11] https://twitter.com/Christian4BuryS
   DIR [12] https://twitter.com/DavidDavisMP
   DIR [13] https://www.met.police.uk/
   DIR [14] https://twitter.com/Kirsty_Brimelow
   DIR [15] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Churchill_Factor
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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