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       # taz.de -- Wissenschaft über Pop und Populismus: Politik der Herzen
       
       > Seit drei Jahren erforscht ein internationales Team die kulturelle
       > Dimension des Populismus. Initiiert hat das Projekt der Oldenburger Mario
       > Dunkel.
       
   IMG Bild: Ganz, ganz wichtig, diese Identifikation mit dem Star: Andreas Gabalier mit Fans
       
       Hamburg taz | Eben noch knödelt Andreas Gabalier ganz Unverfängliches:
       „[1][I sing a Liad für di].“ Dann wird’s irgendwie politisch beim
       heimattümelnden Trachtenspektakel im Stadion: „Irgendwann kummt dann der
       Punkt / Wo’s am reicht, dann wird’s z’vü / Dann schauns die an, mit ganz
       großen Augen / Wenn ana aufsteht und sagt, was er si denkt“, singt er in
       „[2][A Meinung haben]“. Gabalier, der selbsternannte
       „Volks-Rock-’n’-Roller“, kann sich sicher sein, dass sein Publikum schon
       versteht, was er, [3][der sich gern als „einfacher Steirer Bua“
       inszeniert], da meint, ohne dass er konkreter werden muss – im Jahr 2015,
       auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise.
       
       Der Österreicher ist nur ein Beispiel unter vielen für Musiker:innen, denen
       in den vergangenen Jahren vorgeworfen wurde, [4][in Texten und Ästhetik
       Anknüpfungspunkte für populistische Politik zu liefern]. In Österreich
       [5][spricht man angesichts der konservativer werdenden Jugend schon von der
       „Generation Gabalier]“. Vom Popsänger Xavier Naidoo über [6][Rapper wie
       Kollegah und Farid Bang] bis zur Südtiroler Band Freiwild: populistische
       Vorstellungen von Politik, Nationalismus, Sexismen, Homophobie,
       Antisemitismus, all das ist unbestreitbar zentraler Bestandteil aktueller
       Mainstream-Popmusik geworden.
       
       Und populistische politische Bewegungen sind untrennbar verknüpft mit dem
       Erfolg dieser Künstler:innen. Denn die geben politischen Positionen einen
       emotionalen Ausdruck und schaffen mit ihren Konzerten Räume, die ein ganz
       bestimmtes Gemeinschaftsgefühl erlebbar machen: Wir – so etwas wie das
       einfache, unschuldige Volk oder die schweigende Mehrheit – gegen die
       anderen: die da oben, die korrupten Politiker:innen, und, in diesem Fall
       dann eindeutig rechtspopulistisch: [7][die „Meinungsdiktatur“ der
       „linksliberalen Eliten“, wie Gabalier sagt.]
       
       Was der Aufstieg populistischer Bewegungen und Parteien in ganz Europa mit
       dem Erfolg von Künstlern wie Gabalier, Naidoo oder Freiwild zu tun hat, das
       untersucht seit 2019 [8][das internationale Forschungsprojekt „Popular
       Music and the Rise of Populism in Europe“] wissenschaftlich. Initiiert hat
       es der Oldenburger Mario Dunkel, Juniorprofessor für Musikpädagogik mit
       Schwerpunkt transkulturelle Musikvermittlung am Institut für Musik der
       Carl-von Ossietzky-Universität. Mit dabei sind Forschungspartner:innen
       aus Ungarn, Österreich, Italien und den Niederlanden, gefördert wird das
       Projekt von der Volkswagen-Stiftung.
       
       ## Forschung mit den Fans
       
       Echte Grundlagenforschung ist das, die einen zentralen Aspekt aktueller
       kultureller Veränderungen in Europa erstmals umfassend dokumentiert. Denn
       bislang gibt es kaum empirische Forschung, die die kulturelle Dimension des
       Populismus und die emotionale und identitätsstiftende Wirkung populärer
       Musik in diesem Zusammenhang in den Blick nimmt. „Es geht uns vor allem
       darum, die Rezeptionsebene anzuschauen“, erklärt Dunkel, „also was dort
       eigentlich passiert.“ Denn bislang seien zum Thema vor allem
       Musiker:innen oder ihr Management zu Wort gekommen. Aber wie erleben
       Fans solche Konzerte, die Gemeinschaft dort und ihre Verbindung mit den
       Musiker:innen?
       
       Dabei ist es zunächst gar nicht so einfach, den Begriff Populismus zu
       fassen, sagt Dunkel. Präsent [9][sei im deutschsprachigen Raum insbesondere
       der Ansatz des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller], für den
       Populismus eine bestimmte Art der Identitätspolitik ist, „laut der einem
       moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und
       parasitäre Eliten gegenüberstehen“. Populismus sei immer antipluralistisch,
       eine zentrale populistische Praktik sei es, diesen Unterschied immer wieder
       zu performen. Von einem ähnlichen Begriff geht etwa auch das
       Populismus-Barometer der Bertelsmannstiftung aus.
       
       Dunkel und seine Projektpartner:innen setzen anders an und berufen
       sich dabei auf die poststrukturalistische Hegemonietheorie von Ernesto
       Laclau und Chantal Mouffe. Populismus sei in dieser Perspektive nicht
       notwendig antidemokratisch und antipluralistisch, sagt Dunkel, sondern ein
       „anpassungsfähiger Diskurs“, der sich an andere Ideologien und Diskurse
       anhefte. Ob er antidemokratische oder demokratische Funktionen erfülle,
       hänge stark vom Kontext ab.
       
       ## In Folge der Coronapandemie fehlte das verbindende Element
       
       Um den jeweiligen Kontext besser greifen zu können, haben die
       Forscher:innen erst mal Feldforschung betrieben: Sie haben Konzerte
       besucht und dort „teilnehmend beobachtet“, haben also Situationen miterlebt
       und als daran Beteiligte beobachtet und sind so auch in Kontakt mit
       Konzertbesucher:innen gekommen. Mit denen haben sie daraufhin
       Interviews geführt, in denen es dann um konkrete Situationen im gemeinsam
       erlebten Konzert ging.
       
       Ein paar Mal ist das gelungen – bis in Folge der Coronapandemie keine
       Konzerte mehr stattfanden und es schwierig wurde, eine Vertrauensbasis zu
       den Fans aufzubauen: Das verbindende Element fehlte, der gemeinsam erlebte
       Konzertbesuch. „Dann wird man in erster Linie als der Forscher von der Uni
       wahrgenommen“, so Dunkel, „der über Populismus forscht und man ist gleich
       in einem polarisierten Diskurs.“ Bei Fans entstehe dann leicht das Gefühl,
       bloß zum Gegenstand von Populismuskritik gemacht zu werden. Also mussten
       sich Dunkel und seine Mitstreiter:innen mehr auf Musikanalyse und
       Online-Forschung verlegen.
       
       Noch ist die Auswertung nicht abgeschlossen, vom 7. bis zum 9. April lädt
       das Projekt zur Tagung „Popular Music, Populism and Nationalism in
       Contemporary Europe“ nach Oldenburg. Aber so viel ist schon klar: Das Thema
       Populismus und Popmusik ist ein weites, uneinheitliches und von
       Widersprüchen durchzogenes Feld. Und wie sich populistische Aspekte auf
       Konzerten darstellen und welche Bedeutung diese Konzerte für die Fans
       haben, das ist ganz unterschiedlich.
       
       ## Ein weites Feld
       
       Interessant sei etwa gewesen, wie volksfesthaft die zwei besuchten Konzerte
       Gabaliers – in Berlin und Gelsenkirchen – gewesen seien, sagt Dunkel:
       „Viele Fans sind dort verkleidet und man bekommt mit, wie partizipativ das
       ist, wie viel da mitgegrölt und mitgesungen wird, wie viel die Leute sich
       bewegen. Und wie viele unterschiedliche Momente es auf so einem Konzert
       gibt.“ Erstaunlich sei gewesen, dass der intensivste Moment für viele im
       Publikum ein ganz andächtiger war: ein Lied über den Tod, von dem Fans
       sagten, es sei ihr persönliches „Highlight des Konzerts“ gewesen. „Das ist
       etwas, das ich nicht unbedingt mit Gabalier verbunden hatte“, sagt Dunkel.
       „Hier sieht man, wie vielfältig die Emotionen sein können, die auf einem
       Konzert erzeugt werden und auf denen die Bindungen zwischen Fans und
       Künstlern häufig basieren.“
       
       Xavier Naidoo hingegen habe sehr wenig von seinen politischen Einstellungen
       preisgegeben, auf seine Stücke mit antisemitischen Texten wie „Raus aus dem
       Reichstag“ oder „Marionetten“ verzichtet. Viele hätten dort gesessen, eher
       konzertant sei das gewesen. Das bedeute allerdings nicht, dass Naidoo
       weniger problematisch sei als Gabalier, sondern lediglich, dass seine
       Konzerte anders funktionieren.
       
       Anknüpfungspunkte soll das Projekt auch für die Praxis liefern, für den
       Musikunterricht und die Musikpädagogik nämlich. „Populismus ist Teil von
       populärer Kultur“, sagt Dunkel. „Damit werden Schülerinnen und Schüler in
       ihrem Alltag konfrontiert. Dann ist die Frage: Wie kann ich einen Raum
       schaffen, in dem es möglich ist, das zu reflektieren? Dann kann man
       populistische Äußerungen und Aufführungen als Chance begreifen, in einen
       Dialog darüber zu treten, was für eine Gesellschaft und Kultur wir uns
       wünschen.“
       
       1 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=h0IFFpPk22o
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=cKk1zZ7Z6b8
   DIR [3] https://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Andreas-Gabalier-Das-Phaenomen-Volks-Rock-n-Roll-id54605031.html
   DIR [4] /NDR-Interview-mit-Andreas-Gabalier/!5625103
   DIR [5] https://exxpress.at/generation-gabalier-die-jugend-tickt-konservativ/
   DIR [6] /Dinge-des-Jahres-2018/!5559879
   DIR [7] http://www.presse.uni-oldenburg.de/uni-info/2018/4/uni-info-2018-04-ds.pdf
   DIR [8] http://portal.volkswagenstiftung.de/search/projectDetails.do?ref=94754
   DIR [9] https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/60218/ssoar-zpth-2016-2-muller-Was_ist_Populismus.pdf;jsessionid=7B3196E7E2141EE5F3F5FC7793C80EBE?sequence=1
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Matthies
       
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