URI: 
       # taz.de -- Ein Jahr nach dem Militärputsch: Die Verzweifelten von Myanmar
       
       > Seit dem Putsch gegen die Regierung von Aung San Suu Kyi leben die
       > Menschen in Angst. Viele sind geflohen, doch gibt es auch starken
       > Widerstand.
       
   IMG Bild: Massenproteste nach dem Putsch: Demonstrant:innen mit Fotos von Aung San Suu Kyi
       
       Yangon taz | Am 1. Februar vor einem Jahr schockte mich morgens um 5 Uhr
       der Anruf eines Freundes mit der Nachricht vom Militärputsch. Seitdem wache
       ich jeden Morgen verzweifelt auf, weil ich massiv die sozioökonomischen
       Folgen spüre.
       
       Das Militär hat Myanmars langwierigen Übergang zur Demokratie abrupt
       beendet. Doch das Blutvergießen geht weiter, die Hoffnungslosigkeit ist
       groß. Die Junta führt eine brutale Kampagne gegen das eigene Volk und
       versucht, gegen den starken Widerstand den Anschein von Normalität zu
       erwecken.
       
       Dabei können wir Bürger immer noch nicht einmal frei über das Geld auf
       unseren Bankkonten verfügen. Und für unser Nationalgericht Mohinga
       (Fischsuppe mit Reisnudeln) zahlen wir inzwischen doppelt so viel wie
       vorher.
       
       Oberflächlich zeugt das Treiben auf Yangons Straßen zwar von Normalität.
       Doch die Menschen haben Angst. Denn immer wieder gibt es Razzien und
       Festnahmen, weil Menschen sich in den sozialen Medien kritisch über das
       Militär äußern, friedlich protestieren oder angeblich den Widerstand
       unterstützen.
       
       ## „Politik der verbrannten Erde“ des Militärs
       
       Gegner des Militärs wie etwa Mitglieder der vorherigen Regierungspartei
       Nationale Liga für Demokratie (NLD) von Aung San Suu Kyi, Aktivisten und
       Journalisten werden unter fabrizierten Anschuldigungen festgenommen. In den
       Regionen Sagaing und Magwe, wo der bewaffnete Widerstand am stärksten ist,
       geht das Militär mit einer Politik der verbrannten Erde vor.
       
       Die 36-jährige Thae Thae floh schon Ende Februar mit ihrem Mann und ihren
       Eltern von Yangon nach Lay Kay Kaw an der Grenze zu Thailand. Thae Thaes
       Mutter ist Mitglied der NLD und in deren Frauenausschuss aktiv. Die Familie
       hat an den Protesten gegen den Putsch teilgenommen. Das beides macht sie
       zur Zielscheibe der Junta.
       
       Für die Flucht mussten die Familie ihr Haus, ihren Schlossereibetrieb und
       ihren erst kürzlich eröffneten Lebensmittelladen zurücklassen. Doch schnell
       wurde klar, dass die Entscheidung richtig war. „Meine Nachbarn berichteten
       mir, dass die Polizei nach meiner Mutter gesucht hat“, sagt sie. „Sie hatte
       schon unter der früheren Junta Jahre im Gefängnis gesessen. Deshalb wollten
       wir jetzt unbedingt rechtzeitig fliehen.“
       
       Für den Unteroffizier Ko Nge war die Flucht schwieriger. Er hatte mehr als
       zwei Jahrzehnte in der Armee gedient. Am 1. Juli ist er desertiert. Am
       Morgen nahm er ein Taxi und floh mit Frau und Tochter.
       
       „Ich habe gebetet. Mein Gott! Wenn wir erwischt werden, ist es das Ende“,
       sagt Ko Nge. „Die Flucht war die schwierigste Entscheidung meines Lebens.“
       Er war schockiert zu sehen, wie Demonstranten erschossen wurden. „Wir
       sollen unsere Bürger doch schützen und nicht töten,“ sagt Ko Nge.
       
       ## Politische Fortschritte innerhalb weniger Monate zerstört
       
       Laut der myanmarischen Menschenrechtsorganisation [1][AAPP] wurden seit dem
       Putsch 1.503 Zivilisten getötet, 11.838 festgenommen und 661 verurteilt,
       davon 45 zum Tode (Stand 31. Januar). Ko Nge sagt, er habe sich einen
       Erfolg der friedlichen Proteste gewünscht. Aber leider habe das Militär
       alle politischen Fortschritte, die es nach 2010 gegeben habe, innerhalb
       weniger Monate zerstört.
       
       Allein am 27. März, dem [2][Tag der Streitkräfte], wurden von Militär und
       Polizei mindestens 160 Demonstranten erschossen. Seitdem gibt es immer
       weniger friedliche Proteste, meist kurze Flashmobs.
       
       Zehntausende junge Menschen, die einst in Yangon oder Mandalay
       demonstrierten, sind in die Bundesstaaten Kachin, Kayah, Kayin und Chin
       geflohen und wurden dort von bewaffneten ethnischen Gruppen, die mit der
       Anti-Putsch-Bewegung sympathisieren, militärisch ausgebildet. „Sollen wir
       etwa weiter friedlich demonstrieren, wenn auf uns scharf geschossen wird?“,
       fragte mich Lin, der im April von der Karen National Liberation Army im
       Kayin-Staat militärisch ausgebildet wurde.
       
       ## Flucht nach Razzia
       
       Auch Thang Sei, ein entmachteter Abgeordneter des Oberhauses aus der
       Gemeinde Tamu (Region Sagaing) hatte zunächst an den friedlichen Protesten
       gegen den Putsch teilgenommen. Er floh nach Indien, nachdem im März
       Junta-Kräfte bei ihm eine Razzia durchgeführt hatten.
       
       „Der Putsch hat die Zukunft meiner Kinder zerstört“, sagte er. „Ich sollte
       eigentlich jetzt im Parlament sitzen und Gesetze verabschieden. Stattdessen
       kämpfe ich von Indien aus für mein Land und werde als Flüchtling
       abgestempelt.“ Davor hatte er der Leitung einer sogenannten
       „Volksverteidigungkraft (PDF) angehört, die Anschläge gegen Junta-Kräfte
       verübt. Er wurde wegen „Aufwiegelung“ und „Terrorismus“ gesucht, ein
       Vorwurf, der jetzt häufig gegen Oppositionelle verwendet wird.
       
       Mitte 2021 kehrten viele aus den Guerillaausbildungslagern im Kayin-Staat
       in die Großstädte zurück. Hunderte lokaler Widerstandsgruppen entstanden,
       darunter viele, die sich der oppositionellen „Regierung der Nationalen
       Einheit“ (NUG) im Untergrund und den „Volksverteidigungskräften“ (PDF)
       anschlossen.
       
       Die [3][Angriffe in den Städten auf Junta-Kräfte], ihre zivilen Handlanger
       in der Verwaltung, mutmaßliche Spitzel sowie auf Polizei und Militär nahmen
       zu. In einigen Fällen töteten oder verletzten die Bomben auch versehentlich
       Zivilisten oder gar Kinder. Gleichzeitig wüteten heftige Kämpfe in den
       Bundesstaaten Kachin, Kayah, Kayin und Chin mit ihren starken ethnischen
       Minderheiten wie auch in den zentralen Regionen der Birmanen wie Sagaing
       und Magwe.
       
       ## Obligatorisches Militärtraining für Kinder von Soldaten
       
       Die Junta antwortete brutal. Massaker wurden in den Gemeinden Kani
       (Sagaing), [4][Hpruso (Kayah)] im vergangenen Jahr und in der Gemeinde
       Matupi (Chin) zu Jahresbeginn verzeichnet. Der unerwartet breite bewaffnete
       Widerstand gegen die Armee hat sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Die
       Junta führte deshalb ein obligatorisches Militärtraining für die Kinder der
       Soldaten ein.
       
       „Das Militär will unsere Kinder als Reserve behalten“, sagt der Deserteur
       Ko Nge. Seine Tochter im Teenageralter musste schon im April an so einem
       Training teilnehmen. Bis dahin hatte es das nur für die Ehefrauen der
       Soldaten gegeben. „Ich konnte meine Tochter nicht in einem so repressiven
       System des Militärs aufwachsen lassen,“ sagt Ko Nge. Er arbeitet jetzt in
       einem „befreiten Gebiet“ für eine Gruppe, die Soldaten beim Desertieren
       hilft.
       
       Der Grenzort Lay Kay Kaw war so ein „befreites Gebiet“. Doch stürmten
       Soldaten den Ort und nahmen 40 Personen fest, darunter zwei abgesetzte
       NLD-Abgeordnete. Am nächsten Tag kam es zu Zusammenstößen zwischen den
       Junta-Kräften und der Karen National Liberation Army, dem bewaffneten
       Flügel der Karen National Union, die im jahrzehntelangen Bürgerkrieg des
       Landes eine Schlüsselrolle spielte.
       
       Thae Thae und ihre Eltern flohen zunächst in ein anderes sichereres Dorf im
       Grenzgebiet, doch als in den Folgetagen die Kämpfe weiter eskalierten,
       flohen sie nach Thailand.
       
       Nach Angaben des UN-Koordinationsbüros für Humanitäre Hilfe (Ocha) sind
       inzwischen 329.000 Menschen innerhalb Myanmars auf der Flucht. In Lay Kay
       Kaw haben die schweren Kämpfe zwischen Armee und [5][Karen National
       Liberation Army], die von den Volksverteidigungskräften unterstützt wird,
       mehr als 22.000 Menschen vertrieben, davon 8.600 Menschen über die Grenze
       nach Thailand.
       
       ## Flüchtlinge dürfen in Thailand nicht arbeiten
       
       Dort ist die Zukunft von Thae Thae immer noch düster. Ihre Eltern leiden
       unter der Vertreibung. „Wir können das Lager nicht verlassen und dürfen
       nicht arbeiten, weil wir illegale Einwanderer sind“, sagt Thae Thae.
       Demnächst muss sie mit ihrer Familie eine neue Bleibe finden.
       
       „Ich hasse es, auf der Flucht zu sein. Ich will einfach nur ein stabiles
       Leben, aber ich weiß nicht, was für eine Zukunft mich erwartet,“ sagt sie.
       
       Wegen seiner Beteiligung an der Widerstandsbewegung wurden die Häuser des
       früheren Abgeordneten Thang Sei von der Junta konfisziert, eine gängige
       Praxis im Umgang mit Oppositionellen. Thang Sei sagte, die Revolution sei
       kostspielig. „Aber statt gute Miene zum bösen Spiel der Diktatur zu machen,
       lohnt das Risiko, gegen die Junta zu kämpfen“, sagt er.
       
       ## Leben wie im Hausarrest
       
       „Ich habe meine Entscheidung, mich der Revolte anzuschließen, nie bereut.“
       Das sagt auch Ko Nge. Beide glauben an die Widerstandsbewegung.
       
       Für mich selbst ist es als [6][Journalist] unmöglich geworden, offen zu
       arbeiten. Die Junta hat alle kritischen Medien verboten. Journalisten sind
       in Gebiete unter der Kontrolle bewaffneter ethnischer Minderheiten gezogen,
       ins Ausland geflohen oder arbeiten wie ich klandestin.
       
       Die Berichterstattung aus dem Land selbst ist heute wichtiger denn je. Drei
       Journalisten wurden bisher getötet, mehr als einhundert festgenommen, ihnen
       drohen mindestens drei Jahre Haft, beim Vorwurf der „Förderung des
       Terrorismus“ auch mehr.
       
       Ich sitze fast nur noch in meiner Wohnung, traue mich nicht mehr, meine
       Mutter in der Region Sagaing zu besuchen, und meine Freunde kann ich auch
       nicht mehr treffen. Ich fühle mich wie unter Hausarrest. Es ist ein
       Albtraum.
       
       Der Autor ist ehemaliger Teilnehmer eines Workshops der taz Panter Stiftung
       in Berlin für Journalisten aus Myanmar.
       
       1 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://aappb.org/
   DIR [2] /Reaktionen-auf-Gewalt-in-Myanmar/!5761700
   DIR [3] http://xn--Angriffe%20in%20den%20Stdten%20auf%20Junta-Krfte-7gdr
   DIR [4] /Leichenfund-in-Myanmar/!5820213
   DIR [5] /Myanmar-nach-dem-Militaerputsch/!5786411
   DIR [6] /Pressefreiheit-in-Myanmar/!5777296
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Min Min
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Militärputsch
   DIR Widerstand
   DIR Massenproteste
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
   DIR Schwerpunkt Myanmar
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gewalt in Myanmar: UN fordern unverzügliches Ende
       
       Erstmals hat der UN-Sicherheitsrat die Gewalt in Myanmar verurteilt. Und
       das nach fünf Jahrzehnten der Militärherrschaft.
       
   DIR Flucht aus Myanmar: Ein Ort im Zwischenwo
       
       Seit dem Militärputsch im Februar 2021 sind Zehntausende Menschen aus
       Myanmar geflohen. Viele landen zunächst im thailändischen Grenzort Mae Sot.
       
   DIR Menschenrechte in Myanmar und Singapur: Zweierlei Maß des Westens
       
       Die Haftstrafe für Aung San Suu Kyi in Myanmar stößt auf internationale
       Verurteilung. Die Hinrichtung eines geistig Behinderten in Singapur nicht.
       
   DIR Myanmar unter der Militärjunta: 5 Jahre Haft für Aung San Suu Kyi
       
       Wegen angeblicher Korruption erhält die gestürzte de-facto Regierungschefin
       Myanmars eine weitere Hafstrafe. Die Öffentlichkeit ist vom Prozess
       ausgeschlossen.
       
   DIR Widerstand gegen die Militärjunta: Schrei der Stille in Myanmar
       
       Leere Straßen, geschlossene Läden: Am 1. Jahrestag des Putsches beteiligen
       sich viele an einem stillen Streik. Der Ausnahmezustand wurde verlängert.
       
   DIR Sanktionen gegen Militärjunta: Total verlässt Myanmar
       
       Erfolg für Juntagegner: Zwei große Öl- und Gaskonzerne verlassen Myanmar
       wegen Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Rechtsstaatlichkeit.
       
   DIR Gipfel südostasiatischer Staaten: Myanmars Junta lässt Gipfel aus
       
       Der Chef von Myanmars Militärjunta darf nicht zum Asean-Gipfel reisen.
       Jetzt schickt die Militärregierung lieber gar keinen Vertreter.
       
   DIR Aufstand in Myanmar: Ihr stiller Kampf gegen die Junta
       
       Während die Bevölkerung in Myanmar gegen das Militär kämpft, verweigern
       weltweit Diplomat:innen den Putschisten den Dienst. Auch in Berlin.