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       # taz.de -- Übersetzer zu Joshua Cohens Roman: „Dem Chaos der Welt Kontra geben“
       
       > Der Übersetzer Ulrich Blumenbach hat fünf Jahre mit Joshua Cohens Roman
       > „Witz“ gerungen. Er spricht über Endlossätze und Verzweiflung beim
       > Übersetzen.
       
   IMG Bild: Auch der Name für die Schwanzflossen von Walen taucht im Roman „Witz“ auf
       
       taz: Herr Blumenbach, Joshua Cohens Roman „Witz“ galt als unübersetzbar.
       Worin bestand die Herausforderung? 
       
       Ulrich Blumenbach: Die vielleicht größte Schwierigkeit bei „Witz“ ist, dass
       man sich die beschriebene Welt oft nicht mehr vorstellen kann. [1][David
       Foster Wallace schreibt im „Unendlichen Spaß“] komplex, aber immer präzis.
       [2][Joshua Cohen] hingegen lässt die Sprache bewusst immer wieder an der
       herkömmlichen Aufgabe des Erzählens scheitern, die darzustellende Welt
       anschaulich vor Augen zu führen. Die Unbegreifbarkeit des Holocaust wird
       als Unlesbarkeit der Welt literarisches Programm.
       
       Der Unbegreifbarkeit des Holocaust setzt Cohen 900 Seiten Sprach-Overload
       entgegen. Ist das auch eine Antithese zur Unsagbarkeit der Dinge? Ein
       mutiger Appell, lieber mehr als weniger zu sagen? 
       
       Cohen erweitert die Grenzen des Sagbaren, weil er auf Sinn- und Klangebene
       mit Anspielungen, Mehrsprachigkeit und Wortspielen aus allen Rohren feuert.
       Seine Schreibpraxis eröffnet Perspektiven auf eine Welt, in der nicht alles
       eindeutig, sondern vieles mehrdeutig ist. Komplexe Literatur will dem Chaos
       der Welt mit dem Chaos der Kunst Kontra geben. Sie ist Kontingenzzumutung
       und damit das kognitive Gegenangebot zu den gegenwärtig grassierenden
       Verschwörungstheorien, die eine unüberschaubar gewordene Wirklichkeit durch
       einfache Erklärungen versimpeln. Es mag ein abstrakter Gedanke sein, aber
       Texte wie „Witz“ sind in der Politik ihrer Form emanzipative Texte.
       
       Cohen spielt mit dem Jiddischen und Hebräischen. Haben Sie beim Übersetzen
       noch eine neue Sprache gelernt? 
       
       Schön wär’s. Aber immerhin sind traditionelle Formeln wie jüdische Segen
       und Gebete hängen geblieben. Ich war ganz verdattert, als ich bei der Serie
       „The Man in the High Castle“ in der Folge, in der Frank Frink eine private
       Trauerzeremonie für seine ermordete Schwester abhält, das Kaddischgebet
       plötzlich fast mitsprechen konnte.
       
       Beeindruckend ist die lexikalische Palette, die Sie bedienen. Wie vieler
       Wörterbücher haben Sie sich denn bei der Übersetzung bedient? 
       
       Das lässt sich nicht beziffern. Die berauschende Schönheit von Cohens
       riesigem Wortschatz geht ja oft auf Fachausdrücke zurück, die dem
       Edelsteinschleifen, dem Aufbau von Wiederkäuermägen, der Falknersprache und
       vielen anderen mehr oder weniger obskuren Wissensgebieten entstammen.
       Dieses Schwelgen im Seltenen habe ich in den entsprechenden deutschen
       Fachbüchern recherchiert und der Übersetzung integriert.
       
       Haben Sie dabei ein Lieblingswort entdeckt? 
       
       Eines? Dutzende! Hunderte! Auch wenn ich die spracherweiternden Neologismen
       und welterweiternden Fachausdrücke weglasse, bleiben genug übrig: Ich hatte
       noch nie von dem Kartenspiel „Klaberjass“ gehört, wusste nicht, dass die
       Schwanzflossen von Walen „Fluken“ heißen, dass „Runsen“ Wildbachrinnen an
       Gebirgshängen sind, eine „Merzsau“ eine zur Zucht ungeeignete Schlachtsau
       ist, eine „Aue“ ein Mutterschaf und ein „Hundepünt“ ein spitzgeflochtenes
       steifes Tauende auf Segelschiffen.
       
       Dazu kommen Wortkreationen wie „Zigeuneradinnen“, „Schrumpelstilzchen“
       oder „Zungenzores“, bei denen schon mal die Semantik ausgehebelt wird.
       Erleichtert das eine Übersetzung oder macht es sie schwerer? 
       
       Beides. In einem Text wie „Witz“, in dem die Bedeutungen von Wörtern in
       alle Richtungen wuchern und explodieren, darf ich zwar sehr viel freier
       assoziieren als in eher standardsprachlicher Literatur, aber meine Lösungen
       müssen dann auch funktionieren und einen ästhetischen Mehrwert
       rüberbringen. Und ein spielerisches Kettenkompositum wie
       „Nabelschnurgeradeausweglosigkeit“ erfordert natürlich einige Bastelarbeit.
       
       Wie haben Sie sich denn den seitenlangen Endlossätzen angenähert, die sich
       weder um Grammatik noch um Interpunktion scheren? 
       
       Ich habe – wie schon bei den Mäandersätzen im „Unendlichen Spaß“ –
       versucht, sie im ersten Arbeitsgang abzuspecken, bis ich das grammatische
       Gerüst vorliegen hatte, das ich im zweiten Arbeitsgang dann mit allen
       Nebensätzen, Einschüben und Abschweifungen wieder auffüllen konnte.
       Manchmal klappte das aber nicht, weil Cohen beziehungsweise die englische
       Syntax beispielsweise durch Partizipialkonstruktionen schwebende oder
       ambivalente Bezüge ermöglicht, die ich im Deutschen vereindeutigen muss. Da
       musste ich manchmal schummeln, um ähnliche Uneindeutigkeiten herzustellen.
       
       Diese Uneindeutigkeiten führen dazu, dass die Lektüre von „Witz“ viel
       Ausdauer und Frustrationstoleranz erfordert. 
       
       Ja, aber Kryptisches wieder kryptisch zu machen, entspricht den Absichten
       des Autors. Klar, ein unverständliches Buch frustriert, weil es einem
       vermeintlich die eigene intellektuelle Unzulänglichkeit vor Augen führt.
       Gute Schwerbücher aber kompensieren diesen Minderwertigkeitskomplex durch
       Sinnlichkeit und Komik. Wenn man auf einer x-beliebigen Lesebühne die
       Bonbonpassage aus Pynchons „Die Enden der Parabel“, das Ende der „Rinder
       des Sonnengottes“ aus Joyce’ „Ulysses“ oder den Unfallbericht des Maurers
       aus Wallace’ „Unendlichem Spaß“ vorträgt, hängen einem die Leute an den
       Lippen – oder liegen vor Lachen unter den Tischen. Auch in „Witz“ gibt es
       Szenen wie die um Mel Chisedic und die „Stampede der Schlampen“, die
       einfach brüllend komisch sind.
       
       Dachten Sie beim Übersetzen manchmal: Nein, das kann nicht sein, das ergibt
       doch gar keinen Sinn? 
       
       Doch. Natürlich. Ich muss zugeben, dass ich während der Übersetzungsarbeit
       immer wieder am Sinn des Ganzen gezweifelt habe, weil ich mir die
       Leser:innen vorgestellt habe, die das Buch einfach entnervt an die Wand
       schmeißen. Und ich könnte es niemandem übelnehmen. Aber ich bin hin- und
       hergerissen zwischen ekstatischer Befriedigung höchster Sprachlust und
       tiefschwarzer Verzweiflung, weil dieses Buch mich immer wieder anschreit
       „Du kannst mich nicht verstehen und du kannst mich nicht übersetzen!“
       
       Wann hat Ihnen der Kopf besonders geraucht? 
       
       Eigentlich ist die Frage eher, ob es auch Stellen gab, an denen der Kopf
       nicht rauchte … Aber tatsächlich potenzieren sich die Schwierigkeiten noch
       einmal im inneren Monolog des letzten Auschwitzüberlebenden Joseph, der den
       Roman abschließt. Diese dreißigseitige Passage ist ein Gewaltmarsch durch
       die Geschichte antijüdischer Gewalt seit der Zerstörung des Ersten Tempels,
       an die sich der sterbende Joseph aber nicht chronologisch erinnert. Er
       springt assoziativ aus Babylonien ins Polen des 17. Jahrhunderts, zurück zu
       den Pogromen während der Kreuzzüge, wieder vor in den Holocaust.
       
       Haben Sie sich mit Joshua Cohen zu Übersetzungsfragen ausgetauscht? 
       
       Ja, Joshua ist ein wahnsinnig hilfsbereiter und bodenständiger Autor, was
       man angesichts der literarischen Avanciertheit seiner Texte vielleicht
       nicht erwarten würde. Er hat mir immer geholfen, wenn ich nicht weiter
       wusste, mir Links zu Seiten im Netz geschickt, die einzelne Anspielungen
       erhellten – und in einigen Fällen hat er in gemeinsamen
       whiskygeschwängerten Nächten sogar neue Wortspiele für die deutsche Ausgabe
       erfunden. Wenn „Mayor Meir Meyer“, der Bürgermeister von New York, in der
       Übersetzung jetzt „Bürgermeister Goldbergshyster“ heißt, ist das auf seinem
       Mist gewachsen.
       
       Wie können sich Leser:innen dem Text am besten nähern, ohne die Lust zu
       verlieren? 
       
       Erstens: Bangemachen gilt nicht. Zweitens: Erst mal nicht um den Plot
       kümmern. Bei wilden Semiosen wie „Witz“ steht der nicht im Vordergrund.
       Oder mindestens genauso wichtig finde ich die „Fülle des Wohllauts“, den
       Rhythmus, den Drive und nicht zuletzt die Komik des Romans, die sich
       unabhängig davon genießen lassen. Cohen ist ein Überwältigungsrhetoriker
       und der Roman eine Suada, deren Sturzfluten man sich einfach hingeben
       sollte.
       
       Dantes „Göttliche Komödie“ lesen wir ja auch nicht, um rauszufinden, ob der
       Typ seine Beatrice am Ende nun ins Bett kriegt oder nicht. Nach und nach
       werden sich schon die großen Handlungsbögen abzeichnen, also die
       Vorgeschichte von Bens Familie, die Genese des Neojudentums, Bens Aufstieg
       zum Showbiz-Messias in Las Vegas, seine Flucht vor seinen Anhängern, seine
       Wanderschaft durch verschiedene amerikanische Gegenkulturen und schließlich
       das lange Finale am Anus mundi der osteuropäischen Massenmordanlagen.
       
       Sie werden nun James Joyce’ Großroman „Finnegans Wake“ neu übersetzen. Er
       gilt, natürlich, als unübersetzbar. Fühlen Sie sich nach „Witz“ darauf gut
       vorbereitet? 
       
       Ja natürlich, denn Cohen hat technisch einiges bei Joyce abgekupfert.
       Ironischerweise stand die Beschäftigung mit „Finnegans Wake“ für mich aber
       am Anfang: Ich habe meine Magisterarbeit über dessen Übersetzbarkeit
       geschrieben und mit Reinhard Markner den abschließenden Monolog der Anna
       Livia übersetzt. Erst danach bin ich professioneller Übersetzer geworden,
       habe mich im Lauf der Zeit wieder zu komplexen Werken hochgeturnt und das
       Langstreckenübersetzen gelernt. Wallace’ „Unendlicher Spaß“ und Cohens
       „Witz“ wurden dann die Gesellenstücke, nach denen ich mich jetzt an
       „Finnegans Wake“ als Meisterprüfung heranwage und damit zu meinen Anfängen
       zurückkehre.
       
       1 Feb 2022
       
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