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       # taz.de -- Coronapolitik bei Omikron: Angst vorm Lockerlassen
       
       > „Leben schützen“ sollten wir immer in zwei Richtungen denken: Tote und
       > Langzeitkranke verhindern. Aber auch möglichst viel Leben für alle
       > zulassen.
       
   IMG Bild: Die Rufe nach Lockerungen werden immer stärker
       
       Natürlich, wir haben in Deutschland keine Erfahrungen mit solchen
       Pandemien. Das entschuldigt viel. Nun sind wir an einem der absurdesten
       Punkte dieser Zeit angekommen: Es gibt Länder wie Dänemark, die einfach die
       pandemische Lage für beendet erklären. Ich wusste gar nicht, dass das geht.
       Alles, was zu unserem täglichen Brot geworden ist (Inzidenzen checken,
       Maßnahmen diskutieren), einfach beenden – obgleich Inzidenzen steigen.
       
       Das wird seinen Preis haben, doch dass es überhaupt möglich ist, wird für
       viele ein Schock sein, weil viele von uns inzwischen in einer Art
       Schockstarre leben, als glaubte man nicht mehr an den Tag, an dem man
       wieder lockerlassen kann.
       
       Diese Angst vor dem Lockerlassen, vor postpandemischer Normalität, zeigte
       sich diese Woche auch auf Twitter: Ein Journalist teilte ein Interview mit
       Christian Drosten, in dem dieser meinte, man könne in naher Zukunft
       Infektionen wie bei der Grippe nur durch Stichproben erfassen (eine
       St[1][rategie übrigens, die Spanien bereits als den offiziellen Weg der
       „Grippalisierung von Corona“ bekanntgegeben hat]).
       
       Drosten sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): „Ich denke, wir
       sind schon sehr nahe an diesem Punkt und wir sollten uns sehr ernsthaft in
       diese Diskussion begeben.“ Er setzt dafür die ideale Immunisierung mit drei
       Dosen voraus, damit man keine schweren Verläufe in Kauf nehmen muss. Auch
       das zitierte der Journalist anständigerweise als Thread unter seinem
       Tweet. Trotzdem versammelten sich besorgte Stimmen, die fragten, wer durch
       solche Strategien alles vergessen würde.
       
       ## Auf Dauerwarnungen eingestellt
       
       Die Sorge um Kinder wird verständlicherweise umgehend genannt, und es ist
       in diesen aufgeladenen Zeiten leider schwierig, in so einem Moment
       beruhigende Daten zu zitieren, um die Ängste zu lindern, ohne den Vorwurf
       zu ernten, man verharmlose die Gefahr.
       
       Doch es geht um Daten und Fakten in dieser Pandemie und es muss möglich
       sein, eine Stellungnahme wie die der Deutschen Gesellschaft für
       Krankenhaushygiene zu zitieren, nach der „die Krankheitslast bei Kindern
       vergleichbar sei mit anderen Erregern wie Influenza oder der
       Atemwegserkrankung RSV“. Damit verharmlost man noch lange nicht die Gefahr,
       die das Virus für vulnerable Menschen bedeutet.
       
       Die Gabe, Dinge rational und faktenbasiert ins Verhältnis zu setzen, ist
       trotz der diskursiven Dominanz der Naturwissenschaften in den letzten zwei
       Jahren abhandengekommen. Diverse Impfstoffe und Mutanten später ist eben
       nicht mehr der Schock-März 2020, in dem alles begann. Dabei fühlen sich
       jene, die sich auf Dauerwarnungen eingestellt hatten, fast verraten, wenn
       ehemals warnende Stimmen plötzlich beschwichtigen.
       
       So waren viele empört, als der US-Top-Virologe Antonio Fauci in einem
       Interview anlässlich der erhöhten Hospitalisierungen von Kindern aufgrund
       von Omikron antwortete: Man müsse unterscheiden zwischen Kindern, die wegen
       Covid eingewiesen werden, und solchen, die sich einen Arm brechen und
       nebenbei positiv seien, aber ohne Symptome. Der [2][Berliner Senat] etwa
       arbeitet bei solchen Daten eher mit Schätzungen als mit präziser Erfassung.
       
       ## Verneigung vor Bremen
       
       Solche präzisen Differenzierungen wurden insgesamt zu wenig betrieben. Der
       Expertenrat der Bundesregierung bemängelte zu Recht fehlende Daten – und
       das nach zwei Jahren! Wie soll man sich in die Debatte begeben, wenn Daten
       fehlen? [3][Wie soll man loslassen lernen, wenn die Maßnahmen immer wieder
       so gestrickt wurden, dass mal zu prophylaktisch verboten, mal zu
       unvorsichtig gelockert wurde, obwohl es auch andere Möglichkeiten gab]?
       
       Zahlreiche Studien belegen inzwischen die Wirksamkeit von FFP2-Masken.
       Trotzdem wurden – oft monatelang – Restriktionen über Bereiche des
       öffentlichen Lebens verhängt, die man durch das Tragen von FFP2 hätte im
       normalen Modus weiterlaufen lassen können. Müssten alle Maßnahmen nicht ein
       Ziel haben: so viel Leben wie möglich zu schützen?
       
       Dabei meine ich „Leben“ in beiderlei Sinnen: Schutz des biologischen Lebens
       vor Tod und Krankheit, aber auch Schutz des geistigen, seelischen,
       öffentlichen, wirtschaftlichen Lebens vor Verkümmerung.
       
       Die Hauptstrategie der Impfkampagne war, die Ungeimpften auszuschließen.
       Wir strafen die Menschen zur Impfung hin! Was für eine Kommunikation! Das
       Menschenbild dahinter widert mich offen gesagt an. Ich verneige mich vor
       einer Stadt wie Bremen, die gekonnt ihre Impfkampagne zum Erfolg brachte.
       
       ## Pragmatismus? Fehlanzeige!
       
       Ein Schlüssel dafür war das Einbinden der Zivilgesellschaft. Auf
       Vertrauenspersonen setzen, die etwa mit ärmeren Menschen reden, die weniger
       Zugang zu Informationen haben, vielleicht auch weniger Vertrauen in den
       Staat und das Gesundheitswesen. Die meisten Regierenden setzten jedoch auf
       Ausschlüsse. Verbieten, was geht, dann kommen die schon zur Spritze. Wie
       viele sich in dieser Rolle der Bevormundeten wütend ins Netz begaben, wo
       Verschwörungsrattenfänger vom rechten Rand sie abfischen, werden wir sehen.
       
       Über zu viele Themen, die wir in dieser Krise besprechen müssten, lässt
       sich keine sachliche Diskussion mehr führen, weil das Verurteilen bald
       schon wichtiger wurde als das Verstehen. Dann eben die Impfpflicht!
       Pragmatismus? Fehlanzeige. Die meisten Länder, die sich durch Impfquoten
       aus dem Schlimmsten herausgeimpft haben, betonen die Wichtigkeit der hohen
       Impfquoten für die älteren Bevölkerungsgruppen. Wir streiten über eine
       allgemeine Impfpflicht, die weltweit kaum zum Maßnahmenkatalog gehört.
       
       Ich weiß wirklich nicht, wie all die Absurditäten dieses diskursiven
       Scheiterns in eine Kolumne zu packen wären. Jeder hat seine Geschichte, die
       ihn in diesen zwei Jahren frustriert hat. Jeder Blickwinkel ist legitim, er
       ist menschlich. Das zu akzeptieren wäre der erste Schritt in Richtung
       Normalität. Ich habe inzwischen nur einen Wunsch: „Leben schützen“ sollten
       wir immer in zwei Richtungen denken. Tote und Langzeitkranke verhindern,
       aber auch dafür sorgen, möglichst viel Leben für alle zuzulassen.
       
       4 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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