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       # taz.de -- Staub auf Adornos Schreibtischplatte: Marxismus im Nazibau
       
       > Der IG-Farben-Campus der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ist
       > schon kaum noch Hochburg der Linken. Dafür mehr einfach nur Burg.
       
   IMG Bild: Ob hier des Nachts Adornos Geist spukt?
       
       Frankfurt am Main taz | In Bockenheim, dem ehemaligen Universitätsviertel
       Frankfurts, steht ein kleiner 50er-Jahre-Bau mit drei Stockwerken und
       Plastikfenstern: das Institut für Sozialforschung. Das Gebäude, in dem
       einmal Adorno und Horkheimer residierten, liegt gleich gegenüber den
       70er-Jahre-Platten, in denen früher die Goethe-Universität untergebracht
       war. In der Nacht laufen Grüppchen von Studierenden zwischen den urigen
       Kneipen des Viertels hin und her, über ihnen ragen die Bankengebäude wie
       Lichtsäulen in den Himmel.
       
       Das Institut für Sozialforschung und die Goethe-Universität wurden in den
       50er Jahren zum Zentrum marxistischen Denkens in Deutschland. Die
       [1][Frankfurter Schule] hatte sich zum Ziel gesetzt, durch empirische
       Sozialforschung die Widersprüche des Kapitalismus aufzudecken und gegen
       faschistische Ideologien vorzugehen. Vieles, was an linker Theorie im
       letzten Jahrhundert in Deutschland entstanden ist, kam aus Frankfurt.
       
       Seit die Frankfurter Uni 2001 Bockenheim verlassen hat, sind die Kneipen
       und Buchläden nur noch die Hüllen eines Uni-Viertels ohne Uni. Der neue
       Campus liegt etwa 20 Minuten zu Fuß entfernt, in seinem Zentrum: das
       IG-Farben-Gebäude. Wie eine Feste stemmt es sich aus den Gründerzeitvillen
       des Frankfurter Westends. Sieben Stockwerke ziehen sich auf 250 Metern
       durch die Parkanlage.
       
       Die IG Farben stellte in der Nazizeit das Zyklon-B-Gas her, das in den
       Vernichtungslagern zum industriellen Massenmord genutzt wurde. Eine
       Gedenktafel erinnert am Eingang des Gebäudes an die Ermordeten.
       
       ## Im IG-Farben-Haus
       
       Ausgerechnet die Geisteswissenschaften wurden 2001 als Erste in das
       [2][IG-Farben-Haus] verlegt. Nicht alle freuten sich auf den Umzug. So
       bietet die Initiative „Studierende am IG Farben Campus“ bis heute kritische
       Führungen an. Die Universität als Institution habe sich mit dem Umzug ins
       IG-Farben-Gebäude „von jeder Einsicht in die Dialektik der Aufklärung“
       verabschiedet, meinen sie. Zusammen mit der Studierendenzeitschrift Diskus
       gab die Initiative ein Heft „Studieren nach Auschwitz“ heraus, mit
       kritischen Beiträgen zum neuen Haus.
       
       Hinter dem großen IG-Farben-Haus erstreckt sich ein grüner Campus, mit
       Springbrunnen und Bäumchen. Über 20 Neubauten verteilen sich um den
       Theodor-W.-Adorno-Platz, passen sich stilistisch aber an den Bau der
       IG-Farben an. Selbst das Gebäude, in dem das linke Exzellenzcluster
       „Normative Orders“ sitzt, ist groß, grau und kastenförmig.
       
       An den Wochenenden wird das Uni-Gelände zum Territorium der reichen
       Frankfurter Westend-Familien. Die Kinder düsen auf Inlinern zwischen den
       Fachbereichen herum, Jugendliche trinken Wodka-O in den Nischen neben der
       Bibliothek, und alte Paare trippeln mit Spazierstock und Mantel über die
       Kieswege. Platz für studentische Einrichtungen wie das Café Kotz gibt es
       aber weder auf dem Campus noch in dem angrenzenden Villenviertel. Die
       Stühle an der Mensa sind an ihre Tische gekettet, sodass man immer
       höchstens zu viert an einem Tisch sitzen kann.
       
       Im Epizentrum dieses Ortes steht ein Glaskasten, darin ein Holzschreibtisch
       mit grüner Arbeitsplatte. Vadim Zakharov entwarf die Installation, die an
       Adorno erinnern soll und mit der Uni vom alten Standort in Bockenheim
       hierher umgezogen ist. Unter dem Motto „A Night With Adorno“ fanden hier
       schon Nachtwachen statt, um das Denkmal gegen Vandalismus zu schützen.
       
       Der Glaskasten ist nicht zugänglich. Nur ab und zu wird einer Studierenden
       die Ehre erwiesen, unbemerkt, durch eine Falltür, in das kleine Reich zu
       schlüpfen, um die Staubflusen behutsam von Theodors grüner Platte zu
       pusten. Man kann es sich vorstellen: Wie nachts der große Geist erscheint,
       leise die Messinglampe im Glaskasten entzündet und dann … mild lächelnd auf
       seine Universität blickt?
       
       11 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Hanno Rehlinger
       
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