URI: 
       # taz.de -- Anthroposophisches Krankenhaus Havelhöhe: Alternativer Umgang mit Corona
       
       > Ein schwurbelnder Chef und Tricksereien bei der Impfpflicht: eine
       > taz-Recherche in der Klinik Havelhöhe in Berlin.
       
   IMG Bild: Ein Gebäude des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe in Berlin
       
       Nach zwei Jahren Pandemie stellt Prof. Dr. Harald Matthes seinem Haus ein
       hervorragendes Zeugnis aus: „Gemessen an den Betten, an der Größe des
       Krankenhauses haben wir eine überdurchschnittliche Versorgung
       durchgeführt“, sagt er. Das Drei- bis Vierfache im Vergleich zu anderen
       Schwerpunktkrankenhäusern. Und im hauseigenen Impfzentrum hätten sie
       zeitweise mehr Impfungen durchgeführt als die großen Zentren der Stadt.
       
       Matthes ist der Ärztliche Leiter des Krankenhauses im Berliner Südwesten,
       gerade ist er im Urlaub, eine Woche Ski fahren, und nimmt sich trotzdem
       Zeit für ein Gespräch. Matthes sitzt vor seinem Laptop in einem modernen
       Hotelzimmer in Österreich und hält einen Monolog. Der Berliner Senat, die
       Nachbarschaft, ganz Westberlin habe sich bei der Havelhöhe für die Arbeit
       während der Pandemie bedankt.
       
       Als im Herbst die Booster-Termine knapp wurden, konnte man in Havelhöhe
       problemlos geimpft werden. Das sprach sich herum. Havelhöhe wurde in Berlin
       zum Place to Booster. Ausgerechnet ein Krankenhaus der Anthroposophie, die
       in der Pandemie [1][besonders in der Kritik stand und für die niedrige
       Impfquote in Deutschland verantwortlich gemacht wurde].
       
       Das Krankenhaus ist in der Pandemie in den Medien sehr präsent. TV-Teams
       filmten auf der Intensivstation, Patient:innen wurden für
       Zeitungsreportagen begleitet, Ärzt:innen auf Krankenhausfluren
       interviewt. Man sei beim Zutritt nicht so streng gewesen wie andere Häuser,
       gibt Matthes zu. Und so sind nun oft Bilder aus Havelhöhe zu sehen, wenn es
       um Corona im Krankenhaus geht.
       
       ## Keine Kontrollen
       
       Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe mit seinen 400 Betten hat eine
       Doppelfunktion: Es ist ein gewöhnliches Akutkrankenhaus für die Menschen
       der Gegend und zugleich eine von drei großen anthroposophischen Kliniken in
       Deutschland. Besonders beliebt ist es bei Berliner Eltern, die ihren
       Nachwuchs in einer angenehmen Atmosphäre zur Welt bringen möchten und dafür
       weite Wege auf sich nehmen. Und jetzt wurde über Havelhöhe bundesweit
       berichtet, als ein Ort, an dem die Coronapandemie besonders intensiv
       bekämpft wird.
       
       Ob das Krankenhaus Havelhöhe tatsächlich mehr geleistet hat als andere,
       lässt sich nicht nachvollziehen, laut der Senatsverwaltung für Gesundheit
       gibt es da keine Statistik. Der Umgang mit der Pandemie ist in dem
       Krankenhaus jedenfalls längst nicht so vorbildlich, wie es bislang den
       Anschein hatte. Mehrere Krankenhausmitarbeitende haben sich unabhängig
       voneinander bei der taz gemeldet und gesagt: Hier läuft etwas schief. Sie
       berichten von leitenden Ärzt:innen, die als [2][Impfgegner:innen]
       auffallen, und einem schludrigen Umgang mit Coronaschutzmaßnahmen. Und von
       einem Chef, der bei seinen Wutausbrüchen gegen die Politik fragwürdige
       Vergleiche macht.
       
       Wir haben in den vergangenen Wochen mit vielen weiteren aktuellen und
       ehemaligen Mitarbeitenden des Krankenhauses – unter anderem Ärzt:innen
       und Pflegepersonal – und Patient:innen gesprochen. Wir haben frei
       verfügbare und interne Dokumente ausgewertet, an Veranstaltungen
       teilgenommen und das Krankenhaus besucht. Die Recherche zeigt, dass der
       Umgang mit Corona auch in der Klinik selbst auf Unverständnis stößt. Und es
       wird ein systematisches Problem deutlich: Um die Einhaltung von zentralen
       Schutzvorschriften muss sich jedes Krankenhaus selbst kümmern. Doch wenn
       die Leitung eines Hauses offenbar manche Dinge für unwichtig erachtet,
       scheint auch die zuständige Gesundheitsbehörde machtlos zu sein.
       
       Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe liegt in Berlin-Kladow, am Rand der
       Hauptstadt. Golfclub, Felder, eine Kaserne – gefühlt ist man schon in
       Brandenburg. Ein weitläufiges Gelände direkt oberhalb des Steilufers der
       Havel, viele Bäume, Parkplätze. In der NS-Zeit war in den Gebäuden eine
       Luftwaffenakademie untergebracht.
       
       Das Krankenhausgelände kann man einfach durch den Haupteingang betreten, es
       gibt keine Kontrolle, niemand fragt nach einem Besuchsgrund oder einem
       Coronatest. Direkt am Eingang sind die „HavelWolle“, ein Kleidungsgeschäft,
       und ein Demeter-Hofladen samt Café. Auch eine kleine Buchhandlung gibt es
       hier. Die Verkäuferin, die gerade mit einer Kundin spricht, hat keine Maske
       auf, die Kundin auch nicht. Die beiden unterhalten sich über die Tochter
       der Verkäuferin, ungeimpft, 11. Klasse, die nun in Quarantäne müsse, weil
       jemand aus der Klasse infiziert war. „Was ein Zirkus.“
       
       In der Buchhandlung stehen neben Pippi Langstrumpf und aktuellen
       Bestsellern auch Bücher zur Coronapandemie im Regal. Etwa das schmale Werk
       einer Anthroposophin, die behauptet, die Wundmale Jesu Christi zu tragen
       und jahrelang keine Nahrung zu sich genommen zu haben. Ein Kapitel ihres
       Buches heißt: „Die Impfungen gegen Sars-CoV-2 und der Plan der Schwarzen
       Logen“.
       
       In der Theorie gelten auch in Havelhöhe strenge Regeln: Besucher:innen
       müssen eine FFP2-Maske tragen und einen tagesaktuellen Test vorweisen,
       unabhängig vom Impfstatus. Maximal eine Stunde Besuch am Tag ist erlaubt.
       
       Bei unserem nicht angekündigten Besuch im Krankenhaus Mitte Januar können
       wir aber überall herumlaufen. In Haus 11, 1. Stock, Gynäkologie, sitzt eine
       Frau ohne Maske am Empfang, dabei steht keine Plexiglasscheibe zwischen ihr
       und den Besucher:innen. Auch in Haus 12 tragen die Frauen am Empfang keine
       Maske, sie schauen nicht mal. Wir können durch die Gänge laufen, könnten
       Patient:innenzimmer betreten. Eine Pflegerin eilt den Flur entlang
       und verschwindet durch die nächste Tür. Wir können – in einem anderen Haus
       – einfach so in die Station 15 laufen, die Entgiftungsstation. Hier bilden
       die Patient:innen eine sogenannte Kohorte, müssen untereinander also
       nicht auf Abstand achten oder Maske tragen und dürfen deshalb im Gebäude
       gar keinen Besuch empfangen.
       
       Beim Rundgang hält uns niemand auf. Niemand bittet uns, Daten in eine
       Besuchsliste einzutragen. Niemand will einen Test oder Impfstatus sehen.
       
       Dass man einfach so in ein Krankenhaus reinlaufen kann: „Das geht gar
       nicht“, sagt Gudrun Widders, die Leiterin des zuständigen Gesundheitsamtes
       Berlin-Spandau.
       
       Krankenhauschef Harald Matthes versucht, sich rauszureden: Der freie Zugang
       zu den Häusern sei nötig, weil es dort auch ambulante Praxen gebe. Drinnen
       werde dann schon kontrolliert, von den Pflegenden oder Ärzt:innen. Das
       passiert allerdings, wenn überhaupt, nur teilweise und sehr oberflächlich.
       Eine Pflegekraft berichtet, es gebe von der Krankenhausleitung die
       Anweisung, die Testergebnisse der Besucher:innen sporadisch zu
       kontrollieren. Aber faktisch sei dafür gar keine Zeit.
       
       Nicht nur bei den Zugangsregeln, auch bei der Behandlung von Covid-19 haben
       sie in Havelhöhe eigene Vorstellungen. Zusätzlich zur normalen Behandlung
       werden anthroposophische Mittel eingesetzt. In einem Behandlungskonzept
       werden warme Ingwer- oder Senfwickel erwähnt. Und für
       Risikopatient:innen wird als Therapie die Injektion von Meteorischem
       Eisen in Kombination mit einem Präparat empfohlen, das Eisenphosphat und
       Rinderlunge enthält – extrem verdünnt.
       
       Einen wissenschaftlichen Beleg, dass diese Mittel helfen, gibt es nicht.
       Die Anthroposophen berufen sich auf das, was der Esoteriker Rudolf Steiner
       sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausgedacht hat.
       
       Harald Matthes behauptet in Interviews, dass man auch wegen der
       anthroposophischen Methoden solche Erfolge bei der Coronabekämpfung zu
       verzeichnen habe. Aber sollte es im Krankenhaus Havelhöhe wirklich besser
       laufen, dürfte das daran liegen, dass hier weniger schwere Fälle landen als
       etwa in der Charité.
       
       Matthes, Jahrgang 1961, hat das Krankenhaus 1995 mit gegründet. Inzwischen
       ist der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie auch Professor,
       an der Charité bekleidet er eine Stiftungsprofessur für Anthroposophische
       und Integrative Medizin. Manche halten ihn für einen Visionär.
       
       Nicht wenige auf der Havelhöhe sind der Meinung: Matthes ist ein Despot. Er
       sei überheblich, cholerisch und persönlich beleidigend. Auch Mitarbeitende,
       die ihn sehr schätzen, sagen: Der Chef polarisiert. Besonders mit den
       Assistenzärzt:innen hat es immer wieder Ärger gegeben.
       
       Dass Matthes gerne einmal mit Verve seine Meinung äußert, zeigt sich [3][in
       einem Mitarbeiterrundbrief aus dem November 2021]. Darin lässt er sich
       über angebliches Medienbashing aus und macht einen Vergleich mit der
       NS-Zeit auf: „Die Projektion eigenen Versagens und Defizite auf elitäre
       gesellschaftliche Gruppen hat in Deutschland Tradition und darf uns daher
       als Anthroposoph*innen nicht verwundern.“ Die Coronamaßnahmen hat er
       schon mehrfach öffentlich als überzogen bezeichnet. Im Brief kritisiert er
       nun die Politik, die bei der Pandemiebekämpfung nur auf die Impfung setze
       und alle Schuld bei den Impfverweigerern sehe. „Mit in der
       Nachkriegsgeschichte nie gelebter Brutalität“, schreibt Matthes, „wird der
       Frust der Gesellschaft auf eine Gruppe gelenkt, die nun für alles Leid
       stehen soll. Diskriminierung in einer Deutlichkeit, die bei Gender- und
       Ethnienfragen undenkbar wäre.“
       
       In der Belegschaft kam dieser Rundbrief bei manchen nicht gut an. „Das war
       ein Schlag ins Gesicht“, sagt eine Ärztin, die aus Angst vor beruflichen
       Folgen wie auch andere Krankenhausbeschäftigte anonym bleiben möchte.
       
       Es gibt eine Konfliktlinie im Krankenhaus. Die Leitungsebene besteht vor
       allem aus überzeugten Anthroposoph:innen, aber weiter unten in der
       Hierarchie arbeiten viele, für die es ein normaler Job ist, die mit der
       Anthroposophie fremdeln. Diese Konfliktlinie war wohl noch nie so deutlich
       wie jetzt, in der Pandemie. „Wir reißen uns den Arsch auf, und dann gibt es
       eben viele Ärzte auf der Leitungsebene, die schwurbeln und sich nicht
       impfen lassen“, sagt die Ärztin. Die Chef:innen würden ihrer
       Vorbildfunktion nicht gerecht.
       
       Matthes sagt, ihm sei nur ein leitender Arzt bekannt, der nicht geimpft
       sei, der sei aber genesen. Dann sagt er aber auch, dass es noch nicht von
       allen eine Rückmeldung gebe.
       
       Er selbst sei geimpft und kein Impfverweigerer, sagt er, aber er hält eine
       Impfung in vielen Fällen nicht für nötig. Bei Kindern, Jugendlichen und
       jungen Erwachsenen spricht er sich im Prinzip für eine Durchseuchung aus.
       Und es klingt auch etwas widerwillig, wie er in einer Mail seinem Personal
       im Herbst eine Boosterimpfung ermöglicht.
       
       Dass sich überzeugte Anthroposoph:innen impfkritisch äußern,
       überrascht nicht. Es basiert auf der anthroposophischen Heilslehre:
       Krankheiten soll man durchmachen, das ist wichtig für Körper und Seele,
       weil dabei das Karma von Verfehlungen im vorherigen Leben gereinigt wird.
       
       Dass ausgerechnet die anthroposophische Klinik Havelhöhe für ihr
       Impfzentrum bekannt wurde, ist vor diesem Hintergrund überraschend. Matthes
       betont, „dass die Impfung für Risikogruppen ganz klar eine positive
       Wirksamkeit hat“. Insider vermuten, das Impfzentrum sei auch eine PR-Aktion
       gewesen. Und eine willkommene Einnahmequelle. Inzwischen ist das
       Impfzentrum geschlossen.
       
       Nun wird die Frage, ob das Klinikpersonal selbst geimpft ist, drängend. Sie
       hat Auswirkungen auf den Arbeitsalltag – und womöglich auf die
       Arbeitsfähigkeit des Krankenhauses. Der Bundestag hat Ende vergangenen
       Jahres eine [4][einrichtungsbezogene Impfpflicht] beschlossen. Alle
       Beschäftigten in Pflegeheimen und Krankenhäusern müssen ab Mitte März gegen
       Corona geimpft sein – sonst dürfen sie dort nicht mehr arbeiten.
       
       Nur wollen sich aber nicht alle in Havelhöhe impfen lassen. Das betrifft
       auch andere Kliniken, aber hier ist alles etwas komplizierter, weil eben
       auch der Chef kein Impffan ist. Eine Impfpflicht lehnt er ab, auch die für
       sein Personal.
       
       Am 15. Januar erinnert Matthes seine Belegschaft in einer Rundmail, dass
       das Krankenhaus den Impfstatus aller Beschäftigten erheben müsse, insgesamt
       sind das gut 900 Personen. „Leider fehlen noch ca. 300 Meldungen, so dass
       wir dringend bitten, dieses in den nächsten Tagen schnellstens
       nachzuholen.“ Er bedankt sich für das Engagement und appelliert an aller
       Solidarität.
       
       Was er nicht schreibt: Lassen Sie sich halt bitte impfen.
       
       Dafür lädt er zu einer Versammlung ein, die ausdrücklich jenen
       Mitarbeitenden vorbehalten ist, die keinen Impf- oder Genesenennachweis
       vorlegen können. Man wolle sich austauschen, „über die verschiedenen
       Handlungsstränge, die in den nächsten Wochen möglich sind und welche
       Konsequenzen diese jeweils haben“. Es sei das Anliegen der
       Krankenhausleitung, keine Mitarbeitenden zu verlieren, man sei deshalb sehr
       bemüht, „Lösungswege für jede/n Mitarbeiter:in auch in Einzelgesprächen
       zu erreichen“.
       
       Was soll das heißen?
       
       Am 19. Januar kommen nach Schilderung von Teilnehmenden an die 80 Personen
       in den großen Saal im Haus 28, direkt neben der Cafeteria. Es sind in der
       Havelhöhe nicht unbedingt weniger Mitarbeitende geimpft als in anderen
       Krankenhäusern; auch anderswo gibt es solche Versammlungen. Die Frage ist,
       was sie erzählt bekommen. Statt, wie in anderen Krankenhäusern, die
       ungeimpften Mitarbeiter:innen vom Nutzen der Impfung zu überzeugen,
       gibt es hier einen anderen Fokus: Es gibt Möglichkeiten, der Impfung erst
       mal aus dem Weg zu gehen, Pflicht hin oder her.
       
       Der taz liegt die Präsentation vor, die Matthes an diesem Tag hält. Auf 33
       Folien gibt er einen Überblick über die rechtliche Grundlage der
       einrichtungsbezogenen Impfpflicht und „Handlungsoptionen“. Von Pflegenden
       wird er gefragt, wann sie denn kündigen müssten, um nicht von der
       Impfpflicht betroffen zu sein.
       
       Matthes nennt die Impfung nur als eine Möglichkeit von mehreren, etwa mit
       dem neu zugelassenen Novavax-Impfstoff. Und er stellt die Option einer
       „besonderen Impfung“ vor. Das könne ein „Dosissplitting mit
       Frequenzerhöhung“ sein; es soll also weniger Wirkstoff geimpft werden,
       dafür öfter.
       
       Matthes behauptet im taz-Gespräch, das sei ein normales Vorgehen, er habe
       das auch mit der Leiterin des Gesundheitsamtes besprochen. Gudrun Widders,
       die auch Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist, bestreitet das.
       „Es gibt keinen Impfstoff, der dafür zugelassen ist, und es entspricht in
       keiner Weise der Stiko-Empfehlung“, sagt sie. „Mir sträuben sich die Haare,
       wenn ich das höre.“
       
       Es passiert nicht das erste Mal, dass sie sich auf der Havelhöhe offenbar
       ihr eigenes Impfschema ausdenken. Einem auswärtigen Arzt war aufgefallen,
       dass einem 15-Jährigen dort nur die halbe Menge der zugelassenen Dosis
       geimpft wurde. Darüber hatte im Oktober [5][die Berliner Zeitung
       berichtet]. Solche Off-Label-Impfungen sind prinzipiell möglich, aber nur
       mit ausdrücklicher Einwilligung der Eltern. Die gab es hier offenbar nicht.
       Die Havelhöhe entgegnet, dass keine Minderjährigen ohne Einverständnis der
       Erziehungsberechtigten mit reduzierter Dosis geimpft worden seien. Es habe
       stets einen medizinischen Grund gegeben.
       
       Matthes stellt bei der Versammlung noch andere Optionen vor: Es sei
       möglich, einen Genesenenstatus zu erlangen oder gegen die Impfpflicht zu
       klagen, diesen Weg erklärt er ausführlich. Es gebe mit dem Beginn der
       Impfpflicht im Krankenhaus auch kein automatisches Betretungs- oder
       Tätigkeitsverbot für die Beschäftigten. Da müsse sich erst mal das
       Gesundheitsamt melden.
       
       Eine weitere Möglichkeit: ein Attest als Bescheinigung, dass man gegen
       einen der Hilfsstoffe der Vakzine allergisch sei, sich deshalb nicht
       impfen lassen könne und somit weiter beschäftigt werden dürfe. Ein
       einfaches Attest ohne Verweis auf eine anerkannte Kontraindikation reiche
       aber nicht aus, heißt es in der Präsentation, gleichsam als Warnung. Und:
       Die Atteste würden vom Gesundheitsamt geprüft.
       
       Es lässt sich anhand der schriftlichen Präsentation nicht schildern, was
       genau bei der Versammlung gesagt wurde. Der Berliner Kinder- und
       Jugendmediziner Martin Terhardt, der auch Mitglied der Stiko ist, hat sich
       die fraglichen Folien angeschaut und meint: „Ich habe einige Zweifel, dass
       Ungeimpfte korrekt informiert wurden.“
       
       Derzeit hat das Krankenhaus Havelhöhe das Problem, dass in der aktuellen
       Omikron-Welle viele Mitarbeitende von Corona betroffen sind. Ende Januar
       waren bereits gut ein Viertel der Pflegekräfte in Quarantäne, wie die
       Klinik mitteilte. Es mussten schon Betten auf verschiedenen Stationen
       geschlossen werden. „Wenn die Impflicht kommt, haben wir akuten
       Personalmangel“, sagt ein Oberarzt. Seine Station musste schon 2020 wegen
       eines Corona-Ausbruchs geschlossen werden. Er wisse von vier oder fünf
       Pfleger:innen auf seiner Station, die sich nicht impfen lassen wollten.
       Wie sollten sie dann bitte schön noch arbeiten? Jetzt schon könnten sie nur
       18 von 30 Betten belegen, sagt er.
       
       In den vergangenen zwei Pandemiejahren wurden in der Klinik immer wieder
       Stationen wegen Corona-Ausbrüchen geschlossen, zuletzt wohl im Herbst.
       Stationsschließungen gab es auch in anderen Krankenhäusern. In Havelhöhe
       sehen manche Mitarbeitende als Grund für die Schließungen, dass die
       Coronaschutzregeln nicht eingehalten wurden. So hätten etwa viele
       Mitarbeitende einen eher laxen Umgang mit Masken, besonders wenn sie in
       Pausen in engen Räumen zusammensäßen.
       
       Eine Pflegefachkraft hat nach eigenen Angaben schon vor Monaten telefonisch
       das Gesundheitsamt über die Zustände informiert, nachdem sie bei ihren
       Vorgesetzten kein Gehör gefunden habe. Krankenhaus-Chef Matthes sagt: „Ich
       kann nur etwas sagen, wenn ich jemanden sehe. Und ich sehe keinen bei mir
       im Krankenhaus, der ohne Maske rumläuft.“
       
       Andere Krankenhäuser in Berlin, etwa die Charité oder das Virchow-Klinikum,
       nehmen die Sache ernster. Auch hier machen wir einen Testbesuch. Viele
       Eingänge sind geschlossen, um die Zugangsmöglichkeiten übersichtlich zu
       halten. An jedem einzelnen Hauseingang steht Sicherheitspersonal. Die
       Charité hat zuletzt ein komplettes Besuchsverbot verhängt, das sogar im
       Freien gilt.
       
       Im Krankenhaus Havelhöhe hingegen: Livemusik. An einem Sonntagmorgen im
       Januar findet ein Neujahrskonzert statt. Spanische Klassik und
       argentinischer Tango. Patient:innen sind gekommen und auch
       Besucher:innen von außerhalb. Bei der Sieben-Tage-Inzidenz gibt es fast
       täglich neue Rekorde, in Berlin liegt sie gerade bei 1.024. Seit dem Vortag
       gelten daher strengere Maßnahmen: Bei Veranstaltungen ab zehn Personen im
       Innenraum gilt 2G+ und Maskenpflicht – auch am Platz.
       
       Mit flüchtigem Blick überprüfen drei ältere Damen am Eingang des Saals die
       negativen Testergebnisse. Sie sind dabei nicht ganz so streng und erlauben
       auch einer ungetesteten Frau, sich an den Rand zu setzen. Bei der Begrüßung
       teilte die Organisatorin des Konzerts mit, dass die Masken am Platz gerne
       abgenommen werden dürfen. Eine Stunde lang spielen die zwei Musiker:innen,
       Geige und Flamencogitarre. Von den 33 Anwesenden tragen nur drei ihre
       Maske während des Konzerts über Mund und Nase.
       
       Zur Erinnerung: Wir sind in einem Krankenhaus, in dem sich viele Menschen
       aufhalten, für die eine Covid-19-Erkrankung besonders schwere Folgen hätte.
       
       Gudrun Widders ans Telefon zu bekommen ist in diesen Tagen nicht leicht.
       Aber dann erklärt die Leiterin des Gesundheitsamts Spandau gerne
       ausführlich, dass sie gerade völlig überlastet sind.
       
       Zu der Beschwerde der Pflegekraft gebe es keinen schriftlichen Vorgang. Das
       sei bei telefonischen Hinweisen auch nicht üblich. Ihnen werde aber stets
       nachgegangen, sagt Widders. Überhaupt sei erst mal der Krankenhausbetreiber
       verantwortlich. Für die täglichen Tests des Personals etwa seien die
       Vorgesetzten zuständig, da werde nichts an das Gesundheitsamt gemeldet.
       Auch bei der kommenden Impfpflicht für Krankenhauspersonal sei zunächst der
       Arbeitgeber in der Verpflichtung. Ungeimpfte Personen sollen ans
       Gesundheitsamt gemeldet werden, dort soll das dann überprüft werden. Es
       wird auf die Ämter abgewälzt, so sieht es Widders. Sie hätten gar keine
       Kapazitäten dafür.
       
       Im Herbst, berichtet Widders, hätten sie nach einem Jahr pandemiebedingter
       Pause endlich wieder die jährliche Krankenhausbegehung in Havelhöhe machen
       können. Zwei bis drei Mitarbeitende aus dem Gesundheitsamt, der Ärztliche
       Leiter, Vertreter:innen der Krankenhaushygiene. Es ging nicht speziell
       um Corona, sondern allgemein um die Frage: Werden hier alle Vorschriften
       eingehalten? Sie seien drei Tage vor Ort gewesen und hätten sich alles
       zeigen lassen, sagt Widders. Es habe keine gravierenden Beanstandungen
       gegeben.
       
       4 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Urspruenge-der-Impfskepsis/!5818070
   DIR [2] /Herkunft-der-Impfgegner-und-Querdenker/!5815438
   DIR [3] https://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache%3AU4emLxWTtJAJ%3Ahttps%3A//www.akanthos-akademie.de/app/download/14146522227/2021.11.24MABrief.pdf
   DIR [4] /Gesundheitsaemter-an-der-Belastungsgrenze/!5829689
   DIR [5] https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/wie-einem-15-jaehrigen-eine-halbe-impfdosis-verabreicht-wurde-li.187328?pid=true
       
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       Klientel und Lehrerschaft. Zwei Ulmer Schulen gehen unterschiedliche Wege.
       
   DIR Impfpflicht für Pflegekräfte in Berlin: Bei der Quote ist Luft nach oben
       
       Trotz Impfpflicht im medizinischen Bereich liegt die Quote der Geimpften in
       Kliniken teils nur knapp über 80 Prozent.
       
   DIR Pflegekräfte über Care-Arbeit: „Sabine, halte durch!“
       
       In Facebookgruppen erzählen Pflegekräfte von ihrem Stress, aber auch von
       ihrem Engagement für die Patient:innen. Unsere Autorin hat mitgelesen.
       
   DIR Nachrichten in der Coronakrise: Inzidenz erreicht neuen Höchstwert
       
       Laut RKI steigt die Sieben-Tage-Inzidenz auf 1400,8. Die politisch
       motivierte Kriminalität gegen Politiker:innen hat einem Bericht
       zufolge drastisch zugenommen.
       
   DIR Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Die Erdoğans haben sich angesteckt
       
       Türkeis Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Frau Emine wurden
       positiv getestet. In Österreich gilt seit Samstag die Impfpflicht. Das
       Impftempo sinkt.
       
   DIR Niedrige Impfquote in Rosenheim: Hier gibt's koa Pandemie
       
       Markus Reum pflegt im bayerischen Rosenheim Covidpatienten. Er hat Menschen
       erlebt, die noch schwer erkrankt die Coronapandemie leugnen.
       
   DIR Antroposophie und das Impfen: Der Zweifel wächst trotz Wissen
       
       Unter Anthroposoph:innen gibt es viel Skepsis gegenüber den
       Corona-Impfungen. Aber gilt das auch für anthroposophische Ärzt:innen?
       
   DIR Ursprünge der Impfskepsis: Eine deutsche Besonderheit
       
       In deutschsprachigen Ländern herrscht Misstrauen gegenüber der Impfung. Das
       ist auf die Romantik zurückzuführen – aber auch auf Politikversagen.