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       # taz.de -- Gedenken an Hatun Sürücü: Sexismus raus aus den Köpfen
       
       > Seit 2007 arbeitet das Projekt Heroes mit Jungen in Schulworkshops zu
       > männlichen Rollenbildern. Es ist nach dem Mord an Hatun Sürücü
       > entstanden.
       
   IMG Bild: Kerzen am Gedenkstein von Hatun Sürücü zum zehnten Jahrestag ihrer Ermordung 2015
       
       Berlin taz | „Sei ein Mann“, das bekam Hamoudi von seinem Vater täglich zu
       hören, mitsamt einer konkreten Vorstellung davon, wie er das anstellen
       solle. „Gerader Rücken, und wenn jemand Stress macht, auf die Schnauze
       hauen.“
       
       Diese Denkweise hat Hamoudi aber nicht angenommen. Dabei geholfen hat ihm
       das [1][Projekt Heroes], das mit Workshops an Schulen Jungen neue
       Rollenangebote machen möchte. Gegründet wurde es nach dem Mord an Hatun
       Sürücü, die 2005 von ihrem Bruder erschossen wurde.
       
       Die Kernarbeit des Projekts besteht aus einer einjährigen Ausbildung in
       Form von Gesprächskreisen und Workshops. Am Ende ist jeder Teilnehmer
       zertifizierter Hero – ein Multiplikator, der dann selbst Workshops etwa zu
       Sexualität und Ehre in Schulklassen leitet: für Begegnungen auf Augenhöhe.
       
       ## Eigene Meinung bilden
       
       Die Neuankömmlinge sind meist zwischen 16 und 20 Jahre alt. Hamoudi selbst
       ist seit 2012 dabei, auch er hat als Teenager in die Gruppe gefunden. Heute
       weiß der 26-Jährige, warum er sich so oft in Diskussionen zurücknahm, auch
       wenn er ganz anderer Meinung war. „Es gab vieles, das ich gegenüber meinen
       Eltern gern ausgesprochen hätte, mich aber nie getraut habe“, sagt er. „Im
       Projekt habe ich gelernt, mir eine eigene Meinung zu bilden. Und wenn meine
       Eltern sie nicht teilen, sie trotzdem zu haben.“
       
       In den Workshops an Schulen arbeiten sie etwa mit folgendem Szenario:
       „Stellt euch vor, eure Schwester hat einen Freund.“ Ein tonangebender
       Schüler sagt dann, er würde seine Schwester umbringen. „Nicht alle
       Jugendlichen denken so“, meint der Gruppenleiter Tayfun Guttstadt. „Viele
       trauen sich aber nicht, der dominanten Meinung auf dem Schulhof zu
       widersprechen. Dann hilft es, wenn unsere Jungs vorbeikommen und ganz klar
       sagen: Das sehe ich nicht so.“
       
       Wenn Hamoudi von seiner Gruppe spricht, fällt häufig das Wort Familie. Bei
       den regelmäßigen Treffen erzählen die Jugendlichen von ihren Problemen,
       tauschen sich aus. Dann reflektieren sie über Themen wie das Patriarchat,
       Sexualität und toxische Männlichkeit, also überkommene und schädliche Denk-
       und Verhaltensmuster von Männern – etwa die Annahmen, dass Männer ihre
       Macht durch Verbote demonstrieren müssen, dass die Schwester keinen kurzen
       Rock tragen soll und keinen Freund haben darf.
       
       Manchmal stoßen Fachleute dazu. Eine Frauenärztin erklärt dann, warum das
       Konzept der Jungfräulichkeit aus medizinischer Sicht nicht haltbar ist und
       auf ein kulturelles und restriktives Verständnis von der Sexualität der
       Frau zurückgeht. An anderen Tagen begleiten Theaterpädagog:innen
       Rollenspiele. So sollen tradierte Rollenbilder aufgezeigt und im Anschluss
       gemeinsam mit den Schüler:innen diskutiert werden.
       
       ## Über Rollenbilder reden
       
       In den Workshops geht es oft darum, was Ehre für die Schüler:innen
       bedeutet. Ein Hero schlüpft dann zum Beispiel in die Rolle eines neuen
       Teamkameraden, die anderen aus seiner Fußballmannschaft können ihn gut
       leiden, denn er sorgt für Erfolg. Ob er sich den anderen anschließen
       möchte, später gehen alle feiern. „Es gibt geile Weiber, komm doch mit.“
       Der Neue sagt, dass er schon mit seinem Freund verabredet sei. Na, dann
       soll er seinen Kumpel doch mitbringen. „Nein, kein Kumpel, ich bin schwul“
       – „Oh.“
       
       Danach folgt die Inszenierung eines gängigen Schlagabtauschs: Verurteilung,
       Ausgrenzung – Homophobie. Gruppenleiter Guttstadt sagt, die Jugendlichen
       würden sich meist auf ein kollektivistisches Selbstverständnis berufen,
       weil sie eine Minderheit innerhalb einer individualistisch ausgelegten
       Mehrheitsgesellschaft sind. Sie hätten meist nicht das Privileg, sich als
       eigenständige Person entfalten zu können, sondern unterliegen den
       Erwartungen ihrer sozialen Gruppe. Die Jugendlichen sagten oft nur: Ich bin
       Kurde. Ich bin Alevite. „Wir sagen dann: Hey, es interessiert mich nicht,
       was du denkst, wie du dich als türkischer Junge verhalten sollst. Du kannst
       auch einer sein, der sich freut, wenn seine Schwester verliebt ist.“
       
       Durchbrechen die Heros langfristig patriarchale Strukturen in den Köpfen?
       „Erst mal kümmern wir uns um die Jungs“, sagt Guttstadt.
       
       6 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.heroes-net.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Büşra Delikaya
       
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