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       # taz.de -- Anklage gegen Boliviens Ex-Präsidentin: „Putsch 2“ vor Gericht
       
       > Boliviens Ex-Präsidentin Áñez muss sich ab Donnerstag vor Gericht
       > verantworten. Kam sie rechtmäßig ins Amt? Ein fairer Prozess ist
       > zweifelhaft.
       
   IMG Bild: Auf der Anklagebank: Boliviens Ex-Präsidentin Jeanine Áñez
       
       Berlin taz | Es ist so weit: An diesem Donnerstag um 9 Uhr Ortszeit beginnt
       das mündliche Verfahren gegen die [1][Ex-Präsidentin Boliviens, Jeanine
       Áñez]. Seit März 2021 sitzt die rechtskonservative Politikerin in mehrfach
       verlängerter Präventivhaft. Gegen sie laufen Ermittlungen in sieben Fällen.
       Im ab Donnerstag mündlich verhandelten Fall „Putsch 2“ geht es darum, wie
       Áñez Präsidentin wurde. Die Anklage lautet auf „Nichterfüllung der
       Pflichten und verfassungs- und gesetzwidrige Beschlüsse“. Bei einer
       Verurteilung drohen Áñez bis zu zwölf Jahren Haft.
       
       Der Prozess ist schon jetzt eine Posse. Beim ersten Anlauf war die
       Verteidigung nicht fristgerecht geladen worden. Dieses Mal vergaß das
       Gericht laut Áñez’ Verteidigung die Zeug*innen. Das sind nur einige der
       Formfehler, die diese bemängelt hatte. Die mündliche Anhörung von Añez
       findet laut ihrem Anwalt virtuell statt, was gegen das
       „Unmittelbarkeitsprinzip“ verstoße.
       
       Staatsanwaltschaft und Justiz in Bolivien orientieren sich stark an der
       jeweiligen Regierung und werden zur Verfolgung politischer Gegner*innen
       benutzt. Diese fehlende Unabhängigkeit kritisierten unter anderem die
       US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und die Vereinten Nationen
       – im fallen gelassenen Fall der Anklagen gegen den früheren Präsident Evo
       Morales ebenso wie im Fall Áñez.
       
       Zur Erinnerung: Der linksgerichtete indigene Präsident Evo Morales wollte
       sich im Oktober 2019 zum vierten Mal wieder wählen lassen. Die Kandidatur
       war umstritten, die Wahl von Manipulationsvorwürfen überschattet. Morales
       erklärte sich ohne Stichwahl zum Wahlsieger. Darauf gingen Tausende auf die
       Straßen und forderten erst eine Stichwahl, schon bald aber Morales’
       Rücktritt wegen Wahlbetrugs.
       
       ## Offene Fragen
       
       Im November meuterten erste Polizisten und auch das Militär legte ihm den
       Rücktritt nahe. Morales kam dem schließlich nach und floh nach Mexiko. Die
       rechtskonservative Hinterbänklerin Áñez wurde Interimspräsidentin und zog
       Bibel schwenkend in den Präsidentschaftspalast ein.
       
       Áñez bezog sich damals auf eine Erklärung des Verfassungsgerichts von 2001,
       wonach ein Machtvakuum bei Nachfolgeproblemen vermieden werden soll.
       Allerdings lässt auch diese Erklärung Fragen offen.
       
       José Luis Exeni Rodríguez ist Politologe bei der Friedrich-Ebert-Stiftung
       in La Paz. Er war Präsident des Nationalen Wahlgerichts und Vizepräsident
       des Obersten Wahlgerichtshofs. Für ihn steht fest: „Ein verfassungsgemäß
       gewählter Präsident wurde abgesetzt, das heißt zum Rücktritt gezwungen.“
       
       Exeni sieht außerdem Verstöße bei dem Verfahren zur Ernennung von
       Übergangspräsidentin Áñez: Das vorgeschriebene Quorum bei der Sitzung sei
       weder erfüllt noch die Rücktrittserklärung öffentlich verlesen
       beziehungsweise angenommen worden. Es sei kaum Zeit für eine Debatte
       gewesen, Áñez sei weder zuerst zur Senatspräsidentin noch anschließend zur
       Präsidentin gewählt worden. „Es war eine Selbsternennung
       (autoproclamación).“
       
       ## Keine Beweise
       
       Waren Morales’ Abgang ein normaler Rücktritt, eine Entmachtung oder ein
       Putsch? Ging dem ein Wahlbetrug voraus – der so gravierend war, dass er den
       Ausgang der Präsidentschaftswahl veränderte? Diese Fragen werden bis heute
       in den bolivianischen Medien und in der Politik diskutiert und es ist
       fraglich, ob sie sich jemals werden komplett klären lassen.
       
       Exeni sagt: „Bis heute sind der Justiz keine definitiven Beweise
       präsentiert worden, dass es einen Betrug gab, der das Wahlergebnis
       entscheidend veränderte.“ Ein Teil der Wahlakten aus Papier wurden, wie
       auch die fünf regionalen Wahlgerichte, bei den folgenden Unruhen
       angezündet.
       
       Tatsächlich hat [2][die MAS-Partei bei den Wahlen 2020], der Morales und
       der jetzige Präsident Luis Arce angehören, noch bessere Ergebnisse geholt,
       als Morales 2019 gehabt haben soll. Darin sah die Organisation
       Amerikanischer Staaten ein Indiz für Manipulationen. Dafür, dass Morales
       kein viertes Mal hätte antreten dürfen, spricht nicht nur sein verlorenes
       Referendum, sondern seit August 2021 auch eine Resolution des
       Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
       
       Jeanine Áñez hat sich auf Twitter beklagt, dass all ihre Rechte verletzt
       würden. In Haft soll sie mangelhaft medizinisch versorgt worden sein,
       unternahm angeblich einen Selbstmordversuch und begann einen Hungerstreik.
       Das EU-Parlament nominierte sie wohl auch deshalb für den Sacharow-Preis
       für geistige Freiheit.
       
       Doch zur Heldin taugt sie wenig: Während ihrer Präsidentschaft sind –
       gedeckt durch ein von ihr unterzeichnetes Dekret, das den
       Sicherheitskräften Straffreiheit zusicherte – zwei offiziell von der
       Interdisziplinären Gruppe Unabhängiger Experten anerkannte Massaker in
       Sacaba und Senkata verübt worden. 37 Menschen starben. Die rechtliche
       Aufarbeitung dieser Fälle, für die Áñez ebenfalls Verantwortung übernehmen
       muss, gerät wegen der beiden Putsch-Prozesse ins Hintertreffen.
       
       10 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Wojczenko
       
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