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       # taz.de -- Mitgeballter Faust
       
       > Mag ja sein, dass Faustball nicht die berühmteste aller Sportarten ist.
       > In Schneverdingen und Brettorf allerdings schon – wo gerade die
       > Bundesliga ausgetragen wird. Ein Besuch am Spielfeldrand
       
   IMG Bild: Schneverdingen auf dem Weg zum Sieg
       
       Aus Schneverdingen Hagen Gersie
       
       Wo später im Jahr die Heidelandschaft aufblühen wird, regnet es im Februar
       nur. Die Landschaft ist kahl, und der graue Himmel drückt. In der Turnhalle
       der Schneverdinger Gesamtschule wärmen sich die Spielerinnen zweier
       Mannschaften mit Bällen auf, die sie einander mit Armen und Fäusten
       zuspielen: Faustball heißt dieser Sport.
       
       Von einer Biertischgarnitur aus verkaufen zwei Mütter der Spielerinnen
       belegte Brötchen, Kuchen, Salat und Getränke. An den Wänden hängen
       Sponsorenbanner der Bank vor Ort, des lokalen Getränkemarkts, eines
       Dachdeckermeisters und eines Restaurants. Ein Plakat sagt: „Der TV Jahn
       Schneverdingen grüßt seine Gäste“, drum herum laufen gezeichnete und
       rot-weiß ausgemalte Heidschnucken – die Schafrasse der Region.
       
       Hier in der Schulturnhalle der „Heideblütenstadt“ in der Lüneburger Heide
       startet gleich das Faustball-Bundesligaspiel. Es stehen sich der
       Tabellenerste und der Tabellenzweite der Nord-Staffel gegenüber: TV Jahn
       Schneverdingen gegen TV Brettorf.
       
       Brettorf ist ein knapp 800 Einwohner:innen zählendes Dorf zwischen
       Bremen und Oldenburg. Der Verein hat ungefähr genauso viele Mitglieder. „Da
       gibt es nur Faustball. Das ist wirklich das verrückteste Faustballdorf, was
       es gibt“, sagt Olaf Neuenfeld, Schneverdingens Co-Trainer und Trainer der
       Männernationalmannschaft. Schneverdingen hingegen ist vielleicht etwas
       weniger verrückt – immerhin leben hier auch mehr als 18.000 Menschen –,
       aber dafür auch etwas erfolgreicher. Siegen ist hier so alltäglich wie das
       Heidekraut.
       
       Mit mehr als 20 gewonnenen deutschen Meisterschaften seit 1983, gar zwei
       Weltpokalsiegen und vielen weiteren deutschen und Landestiteln im
       Jugendbereich ist die Faustballabteilung des TV Jahn das absolute
       Aushängeschild des Vereins. Und der ganzen Stadt, sagt die parteilose
       Bürgermeisterin Meike Moog-Steffens. Sie sieht in den Spielerinnen
       „Botschafter für Schneverdingen, deutschland- und weltweit“.
       
       Das Besondere an den Faustballern: Es sind fast alles Faustballerinnen. Von
       insgesamt 13 Faustball-Mannschaften ist nur eine eine Herrenmannschaft. Die
       restlichen Gruppen sind Mädchen- und Frauenteams, von der U10 bis zur
       Bundesliga.
       
       In den 1970er Jahren belebte das Ehepaar Jürgen und Annelie Meyerhoff die
       zwischendurch eingeschlafene Faustballabteilung in Schneverdingen neu, die
       bereits seit 1913 existiert. Bereits Jürgen Meyerhoffs Eltern hatten
       Faustball im Verein gespielt. Er lernte seine spätere Frau als
       Sportstudentin kennen, und zusammen bauten sie die Sparte auf. Annelie
       Meyerhoff war es möglich, als Sportlehrerin viele Schülerinnen anzuwerben.
       
       Abteilungsleiter Eric Heil erzählt, dass die meisten Jungs in dem Alter
       längst schon Fußball oder Tennis gespielt hätten, die meisten Mädchen
       jedoch nicht und sich für die ungewöhnliche Sportart begeisterten. Zudem
       hatten die Meyerhoffs damals zwei junge Töchter, die sie direkt zum Spielen
       animierten. So entwickelte sich der Schneverdinger Faustball zu einer
       Mädchen- und Frauendomäne.
       
       Faustball war früher ein Ausgleichssport für Turner:innen, bevor er sich
       eigenständig weiterentwickelte. Gespielt wird in der Halle auf einem
       Handballfeld ohne die Tore. Im Sommer ist das Außenfeld sogar noch zehn
       Meter länger. Wegen dieses riesigen Bereichs, der von nur fünf Spielerinnen
       verteidigt wird, darf der Ball einmal auf dem Boden aufspringen, bevor er
       mit dem Arm oder der Faust gespielt wird. Mittig durchtrennt eine rot-weiße
       Leine das Spielfeld auf knapp zwei Meter Höhe, die der Ball überqueren
       muss.
       
       Im Normalfall ist bei den Bundesligaspielen die Halle voll. Wegen der
       Pandemie sind selbst zu diesem Spitzenduell nur rund 80 Zuschauer:innen
       gekommen, darunter Heidrun Jonas und ihr Mann. Sie war 1979 Teil der
       Mannschaft, die in die Bundesliga aufstieg. Das Ehepaar sagt, dass auch an
       normalen Spieltagen das Interesse nicht mehr ganz so hoch sei wie in den
       ersten Jahren – das Publikum inzwischen zu erfolgsverwöhnt.
       
       Kurz nach Spielbeginn steht Schneverdingens Angreiferin Theresa Schröder an
       der Aufschlagslinie, wiegt den Ball in ihrer linken Hand, wirft ihn nach
       oben und haut mit ihrer rechten Faust drauf, sodass er bis ans Ende der
       gegnerischen Hälfte rast.
       
       Gerade noch kann die Brettorferin Jule Weber einen Arm hochreißen und den
       Ball vor dem Aus bewahren, der daraufhin in hohem Bogen unter die Decke
       fliegt. Dort verfängt er sich kurz in hochgezogenen Turnerringen, bevor er
       wieder nach unten trudelt.
       
       „Wir haben hier keine sehr faustballfreundliche Halle“, kommentiert
       Co-Trainer Neuenfeld fast entschuldigend das Geschehnis. „Wenn man gut
       spielt, dann geht der Ball auch nicht bis an die Decke“, fügt er hinzu.
       
       In anderen Momenten prallen die Außenverteidigerinnen beider Mannschaften
       gegen die Hallenwand, die knapp neben der Seitenauslinie eine
       schmerzvolle Grenze setzt: keine idealen, aber gewöhnliche Bedingungen.
       „Solche Momente gehörten in der Bundesliga einfach dazu“, sagt Neuenfeld.
       
       Das erste von zwei Spielen gewinnt Schneverdingen klar mit 3:0. Sie sind in
       der Saison bislang ungeschlagen, genauso wie im Vorjahr, wo sie die
       Feldmeisterschaft gewannen.
       
       Die Leistung ihres Teams ist Ergebnis langer, harter Arbeit, erzählt
       Trainerin Tine Seitz. „Es geht darum, bei Hunderten von Bällen dasselbe zu
       machen. Es geht um stumpfe Basics. Man muss es immer wiederholen.“ Das
       mutet man sich aber nur zu, wenn man etwas „faustballverrückt“ ist, wie
       Seitz sagt. Denn Bekanntheit und Reichtum sind in diesem Sport nicht zu
       finden. Für Olaf Neuenfeld wird Faustball gerade deshalb so attraktiv: „Es
       ist ein körperloser Sport, es gibt keinen Kontakt, keine verbalen
       Geschichten. Es ist noch ein ehrlicher Sport, es geht nicht um Geld.“
       
       In der Szene kennt man einander gut: „Ich weiß, Familie sagt man immer
       schnell“, meint Neuenfeld, „aber in gewissem Sinne ist es so.“ Brettorfs
       Trainer Christian Kläner war etwa jahrelang Nationalspieler und spielte als
       Kapitän unter Neuenfeld. Auch Schneverdingens Bürgermeisterin Moog-Steffens
       hat früher Faustball gespielt. „Wer hier als Mädchen zur Schule gegangen
       ist, ist beim Faustball gelandet“, sagt sie. Spielerin Theresa Schröder
       sagt: „In Schneverdingen hat fast jeder mal Faustball ausprobiert.“
       Trainerin Seitz erklärt, dass es vielen Mädchen hilft zu sehen, dass
       Teamsport auch so funktioniert: ohne Körperkontakt und ruppiges
       Gegeneinander zu zeigen, was man kann.
       
       Dabei rennen und rutschen die Spielerinnen durch die Gegend, retten mit
       Strecksprüngen verloren geglaubte Bälle und legen ihren beiden
       Angreiferinnen auf, die dann mit voller Wucht den Ball ins gegnerische Feld
       schmettern. Bei der Ballabwehr fliegen dann auch mal die Verteidigerinnen
       um.
       
       Die Arbeit mit den „Eigengewächsen“, die motiviert sind zu spielen, mache
       ihr Spaß, sagt Seitz. Sonst würde sie sich auch nicht zwei Tage in der
       Woche von nachmittags bis spät in den Abend hinein in die Halle stellen und
       fast alle Altersklassen trainieren.
       
       „Sie haben Lust. Die Halle ist leer, und zack, gehen sie aufs Feld und
       fangen an zu spielen“, sagt Seitz. Das motiviere weiterzumachen, auch wenn
       es mit der Nachwuchsarbeit schwieriger werde. Einige jüngere Mädchen in
       rot-weißen Trainingsjacken laufen in der Pause zwischen den Spielen aufs
       Feld und spielen sich die Faustbälle zu.
       
       Auch hier eine Erfolgsgeschichte: Nur zwei Jahre zuvor war das Team die
       jüngste Bundesligamannschaft aller Zeiten. Die meisten kennen sich schon
       aus den Jugendmannschaften, spielen entsprechend seit Jahren miteinander.
       
       Nach der 0:3-Niederlage im ersten Spiel beginnt das zweite besser für
       Brettorf. Um sich für die Meisterschaftsrunde zu qualifizieren, müssen sie
       unbedingt eins der beiden Spiele gewinnen. Beim ersten Satz gelingt das
       knapp, es soll aber der einzige an diesem Tag bleiben. Als Reaktion auf den
       verschlafenen Einstieg lassen die Schneverdingerinnen den Gegnerinnen im
       nächsten Satz mit 11:1 nämlich keine Chance. Die nächsten beiden Sätze
       gehen auch an die Heimmannschaft, sodass der TV Jahn Anfang März
       ungeschlagen zur Meisterschaftsrunde fahren wird.
       
       Und das ist übrigens auch nicht ganz billig. Eine Amateursportart auf
       höchstem Level zu bestreiten ist nämlich auch finanziell anspruchsvoll:
       Fahrten, Übernachtungen und Verpflegung will Abteilungsleiter Heil gerne
       vereinsseitig mittragen, damit nicht alles an den Eltern hängen bleibt.
       
       Nur dank der Finanzspritzen von Sponsoren, Stiftungen und hin und wieder
       von der Stadt kommen sie ganz gut klar, sagt Heil. Die Verbindung zu
       Bürgermeisterin Moog-Steffens und ihrer Faustball-Vergangenheit dürfte
       dabei helfen. Weil der Sport für sie einen gehobenen Stellenwert in der
       „Stadtfamilie“ hat, zahlt sie gerne einen „Obolus“, um Veranstaltungen und
       Fahrten zu unterstützen.
       
       Ziel für die nahe Zukunft ist jetzt erst mal ganz klar: „deutscher Meister
       werden“, sagt Spielerin Hinrike Seitz, Tochter von Tine Seitz. Und für ihre
       Mutter gilt langfristig: „Das wäre schön, wenn man das noch ein paar Jahre
       machen kann. Solange das noch funktioniert, versuchen wir das noch
       weiterzumachen.“
       
       12 Feb 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hagen Gersie
       
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