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       # taz.de -- Konflikt zwischen Russland und Ukraine: In der Vorkriegszeit
       
       > Jeden Tag gibt es neue düstere Vorhersagen darüber, wann ein Krieg in der
       > Ukraine beginnen könnte. Warum die Stimmung so bedrohlich erscheint.
       
   IMG Bild: In Kiew machen diese Frauen keinen Hehl aus ihrer Abscheu gegen Putins Militäraufmarsch
       
       Greift Russland am 16. Februar die Ukraine an, direkt nach der Abreise von
       Bundeskanzler Olaf Scholz aus Moskau? Oder am 20. Februar, während der
       Abschlusszeremonie der Olympischen Winterspiele in China? Oder an einem
       anderen Tag? Oder überhaupt nicht? Wir wissen es nicht. Jeden Tag gibt es
       neue düstere Vorhersagen darüber, wann der große Krieg in der Ukraine
       beginnen könnte. Jeder Tag vergeht in quälender Ungewissheit. Aber wenn es
       einmal Gewissheit gibt, wird es zu spät sein.
       
       Natürlich kann man die vielen Prophezeiungen über einen russischen Angriff
       als Hysterie abtun. Man sollte dann aber auch eine überzeugende alternative
       Erklärung dafür vorbringen, warum Russland an der ukrainischen Grenze
       [1][so viele Soldaten zusammenzieht wie seit Jahrzehnten nicht mehr] an
       einem Ort; wieso für angeblich ganz normale Manöver modernste Luftabwehr
       aufgestellt und Sanitätskapazitäten wie für den Ernstfall bereitgestellt
       werden; und warum zeitgleich zum Aufmarsch von 140.000 Soldaten an der
       Grenze zu einem Nachbarland, dessen Existenzrecht als souveränen Staat
       Russland bestreitet, ein massives Aufgebot an Kriegsschiffen im Schwarzen
       Meer in Stellung gebracht worden ist.
       
       Genau so sehen Kriegsvorbereitungen aus.
       
       Wladimir Putin weiß als geschulter Geheimdienstler: die beste Art, [2][eine
       fragwürdige Operation durchzuführen, besteht darin, es ganz offen zu tun].
       Das Offensichtliche erweckt weniger Misstrauen als ein
       Verschleierungsversuch. Die Propagandakampagne, die eine militärische
       Aktion jedweder Art im Nachhinein zugleich leugnen und rechtfertigen wird,
       läuft in sozialen Medien bereits auf Hochtouren.
       
       ## Klare Warnungen vor den Plänen Russlands
       
       Und natürlich kann man immer behaupten, dass Geheimdienstinformationen der
       USA beispielsweise über abgehörte russische Funksprüche, die auf einen
       Kriegsbeginn mit Raketenangriffen auf Kiew am kommenden Mittwoch hindeuten,
       Lüge sind oder auch gezielte Desinformation. Aber diejenigen, an die sich
       diese Berichte richten, nehmen sie seit ein paar Tagen deutlich ernster als
       vorher. Als die ersten Länder begannen, Familienangehörige diplomatischen
       Personals aus Kiew abzuziehen, wurde das von anderen noch belächelt.
       Inzwischen lächelt niemand mehr. Selbst das unerschrockene Israel bittet
       seine Landsleute um die sofortige Ausreise, das coole Kanada evakuiert
       seine komplette Botschaft aus Kiew nach Lviv, Fluglinien verlieren ihre
       Versicherung beim [3][Durchqueren ukrainischen Luftraums].
       
       Das sind neue, beunruhigende Töne. Denn es sind nicht nur Ängste, sondern
       bereits reale Konsequenzen.
       
       Man darf Angst vor Blutvergießen nicht relativieren mit dem Hinweis darauf,
       man bleibe doch mit dem Aggressor im Gespräch. Auch am Vorabend des Ersten
       Weltkrieges gab es jede Menge geschliffene Diplomaten, die davon überzeugt
       waren, sie täten alles für den Frieden – und ohnehin sei das Europa des
       Jahres 1914 viel zu zivilisiert für einen großen Krieg.
       
       Vorkriegsstimmung baut sich schleichend auf. Erst ist alles weit weg,
       zeitlich wie räumlich. Man liest oder sieht Berichte darüber und denkt: Zum
       Glück geht mich das alles nichts an oder nicht direkt. Und irgendwann
       werden aus abstrakten Warnungen plötzlich und unvermittelt reale Gefahren.
       Aus der Frage „Wie können wir den Krieg verhindern?“ wird die Frage „Wie
       schützen wir uns?“. Aus Krisendiplomatie wird Selbstschutz. Bevor man es
       gemerkt hat, ist der Weg zurück versperrt.
       
       ## Gibt es noch einen gesichtswahrenden Ausweg?
       
       An diesem Punkt befindet sich die Welt heute. Das heißt nicht, dass die
       andauernde Telefon- und Reisediplomatie mit Moskau ihren Sinn verloren
       hätte. Jede Stunde, die ein westlicher Staats- oder Regierungschef im Kreml
       verbringt, ist eine Stunde weniger für das Erteilen eines russischen
       Angriffsbefehls. [4][Die westliche Dauerbeschallung mit Warnungen vor dem
       einen oder anderen Angriffsplan] hat den möglicherweise nicht intendierten,
       aber zu begrüßenden Effekt, dass das russische Militär sich immer neue
       Gedanken machen muss.
       
       Und jeder verbale Austausch mit einem Amtskollegen, wie fruchtlos auch
       immer, ist auch eine Gelegenheit für Wladimir Putin, sich einen
       gesichtswahrenden Ausweg aus der selbstgestellten Falle der militärischen
       Alternativlosigkeit zu basteln.
       
       Denn auch Putin müsste eigentlich wissen: Sein Regime könnte zwar einen
       Krieg gegen die Ukraine im Handumdrehen militärisch gewinnen, aber es würde
       weltpolitisch und bald auch innenpolitisch alles verlieren. Ihm das
       klarzumachen, ist die einzige Aufgabe, die der Diplomatie noch bleibt. Aber
       man sollte sich keine Illusionen machen: Verhindern lässt sich ein Krieg
       dadurch nicht.
       
       Deswegen ist es so wichtig, weiter Solidarität mit der Ukraine zu zeigen,
       und zwar nicht nur verbal. Darin besteht die einzige Chance, noch
       abzuwenden, dass man sich irgendwann an diese ruhigen Sonnentage Mitte
       Februar 2022 als die letzten Friedenstage in Europa erinnert. Die Chance
       schwindet mit jedem Tag.
       
       14 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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