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       # taz.de -- Die Wahrheit: Mythos vom kollektiven Tod
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (139): Die wandernden
       > Lemminge haben sich ihre eigene weltbekannte Legende geschaffen.
       
   IMG Bild: Der lebensfrohe Lemming gilt vollkommen zu Unrecht als suizidal
       
       Lemminge nennen die Dänen die in den arktischen Tundren lebenden Wühlmäuse.
       Die hiesigen werden bekämpft, weil sie die Wurzeln von Gemüsepflanzen
       fressen, die im Permafrost lebenden dagegen werden erforscht, unter anderem
       vom Freiburger Naturwissenschaftler Benoît Sittler, der ihnen auf einer
       grönländischen Insel nachspürt. Sie sind graubraun, bekommen im Winter aber
       ein weißes Fell und zum Graben im hartgefrorenen Boden an den Vorderfüßen
       Doppelkrallen.
       
       „Seit 34 Jahren stellt sich der Forscher jeden Sommer die Frage: ‚Werden
       wir Lemminge finden, wenn ja, wie viele, wenn nein, wieso nicht?‘“, heißt
       es auf spektrum.de unter: „Das Schweigen der Lemminge“. Diese Wühlmäuse
       nehmen in der grönländischen Tundra eine Schlüsselrolle ein. Mit sechs
       Landsäugetierarten gehört die Region „zu den artenärmsten terrestrischen
       Ökosystemen“. Wenn der Schnee schmilzt, zählt Sittler die Nester. Es werden
       immer weniger: Einst waren es 4.000, jetzt 400. Mit seinen Datenreihen
       beweist er den Klimawandel.
       
       Über die sibirischen Lemminge heißt es: „Diese Art lebt in großen Kolonien,
       ist sehr fruchtbar und unternimmt saisonale Wanderungen zwischen hohem,
       buschigen Grasland und dem schützenden Tiefland zum Überwintern. Die
       Wanderungen sind weniger spektakulär als die des Berglemmings, der manchmal
       instinktgetrieben versucht, Flüsse zu durchschwimmen oder Klippen
       herunterzuspringen. Der Sibirische Lemming frisst Moose, Flechten, Gräser,
       weiche Zweige und manchmal Vogeleier. Er ist lebhaft, voller Energie und
       piepst laut beim Graben und Fressen.“
       
       Seine Feinde sind Raubmöwen, Polarfüchse und Schneeeulen. Unterirdisch, in
       Nestern und Gängen, wird er vom Hermelin gejagt. Dem Feinddruck wirken die
       Lemminge mit großer Fruchtbarkeit entgegen – drei Würfe im Jahr mit jeweils
       einem Dutzend Junge. Neuerdings werden sie gezüchtet und als Haustiere in
       Käfigen gehalten – ein Lemming kostet 15 Euro, man soll diese sozialen
       Tiere aber nicht einzeln halten.
       
       ## Dem Sonnenuntergang entgegen
       
       Sie sind so sozial, dass bei Überbevölkerung große Teile ihrer Population
       auswandern. Ihre Wanderungsbewegungen sind ein Fest für ihre Fressfeinde
       und Filmer. 1958 veröffentlichte Walt Disney den Tierfilm „Weiße Wildnis“,
       in der die Lemminge einen bleibenden Eindruck hinterließen, indem sie
       kollektiv Selbstmord begingen: Ihre Massenauswanderung führte dazu, dass
       sie sich von einer Klippe ins Meer stürzten und dem Sonnenuntergang
       entgegenschwammen …
       
       „Unter anderem durch diesen Film entstand der populäre Mythos, Lemminge
       würden alle paar Jahre Massenselbstmord begehen, indem sie sich zu
       Tausenden ins Meer oder in Flüsse stürzen und anschließend ertrinken“,
       heißt es auf Wikipedia. „Zuvor war diese Legende auch bereits in
       Skandinavien aufgetaucht, vermutlich weil man dort regelmäßig die
       massenhaften Wanderungen beobachten konnte und oftmals Tiere auf der Suche
       nach neuen Lebensräumen nicht überlebten. ‚Wie die Lemminge‘ wurde so zur
       sprichwörtlichen Metapher für jede Art von Massenverhalten. Aufbauend auf
       diesem Mythos erschien 1991 das von DMA Design entwickelte Spiel
       ‚Lemmings‘, das vor allem in den 1990er Jahren sehr populär war.“
       
       Die wirklichen Lemminge haben diese „sprichwörtliche Metapher“ aber
       anscheinend umgedreht – indem sie damit immer bekannter wurden und dann
       Haustiere. Mit der Klimaerwärmung und den auftauenden Dauerfrostböden sind
       sie quasi zu den Menschen gewandert, die ihnen sowieso in ihren
       ursprünglichen Habitaten immer näher kommen.
       
       Es gibt inzwischen jede Menge Ratgeberbücher für ihre Haltung und Zucht und
       Schnickschnack für „Lemming-Lovers“, beispielsweise Notizbücher mit der
       Aufschrift „Unterschätze nie ein Mädchen, das Lemminge liebt“. In Karlsruhe
       nennen sich die Triathlon-Sportler „Lemminge“, sie sind in der
       „zweithöchsten deutschen Triathlon-Liga“ vertreten. Dies alles spielt sich
       zwischen der Lemming-Alternative „Massenselbstmord in Freiheit“ und
       „Knuddeltier im Käfig (mit Laufrad zur Stressreduktion)“ ab.
       
       Die Bücher, die den Massenselbstmordmythos mathematisch widerlegen oder als
       verderblichen Konformismus vertiefen, haben Titel wie „March of the
       Lemmings: Brexit“ oder „Das Lemming-Prinzip“. Auf dem Umschlag des
       letzteren sind Schafe abgebildet: Schafe verhalten sich ähnlich wie
       Lemminge, soll das heißen, aber auch, dass Lemminge, die aussehen wie
       niedliche kleine Meerschweinchen (inzwischen auch mehrfarbig), nur schlecht
       den freiheitsgefährdenden „Hang zur Konformität“ illustrieren.
       
       ## Vielfalt in Moor und Wald
       
       Im Gegenteil: Sie werden in Gefangenschaft immer individueller, obwohl sie
       kaum länger als zwei Jahre leben, und in Freiheit gibt es immer mehr Arten:
       Dank der Mikrobiologie entdeckt man zwischen den Lemming-Populationen immer
       mehr genetische Unterschiede und damit eine Vergrößerung ihrer
       Artenvielfalt. „Je nach Lehrmeinung zählen zu den ‚Echten Lemmingen‘ drei
       bis fünf Arten“, dazu kommen die ebenfalls gentechnisch differenzierbaren
       Moor- und Waldlemminge.
       
       1965/66 schrieb der italienische Naturwissenschaftler und Auschwitzhäftling
       Primo Levi eine Erzählung mit dem Titel „Richtung Sonnenuntergang“. Darin
       wollen zwei Forscher am Beispiel des Massenselbstmords von Lemmingen
       herausfinden, ob dieser periodisch auftretende Drang genetisch verankert
       ist – und einem Empfinden nahe kommt, das uns nicht fremd ist: „Dieses
       Loch. Diese Leere. Diese Empfindung von … Unnützsein, mit all dem Unnützen
       ringsum, ertrinkend in einem Meer von Unnützem.“ Die Forscher versuchen
       vergeblich, einen „Zug der Lemminge“ mit verschiedenen Medikamenten
       aufzuhalten.
       
       Erst 1982 wurde bekannt, dass die Lemminge für den Disney-Naturfilm
       gefangen und an einem Drehort von Hunden in den Abgrund gejagt worden
       waren. „Die Hunde selbst treten im Film jedoch nicht in Erscheinung“, heißt
       es auf Wikipedia.
       
       ## Unzutreffende Metapher
       
       Mit zunehmendem Alter empfand Primo Levi ebenfalls eine „Leere“, gegen die
       er Antidepressiva nahm. Seine Lektorin Natalia Ginzburg erinnert sich: „Er
       hatte Jahre von Selbstmord gesprochen. Niemand glaubte ihm je.“ Ein Arzt
       sagte ihm einmal: „Ihre Erinnerungen an vorher und nachher sind in
       Schwarz-Weiß: Die Erinnerungen an Auschwitz und Ihre lange Heimreise sind
       in Technicolor.“ Primo Levi äußerte in einem Interview mit der
       US-Zeitschrift Partisan Review 1987: „Die Zeit in Auschwitz war zwar
       schmerzhaft, aber auch – so zynisch das klingen mag – die interessanteste
       Zeit meines Lebens. Sie war ein Abenteuer.“
       
       Im selben Jahr stürzte er sich – „vermutlich absichtlich“ – in den Tod, er
       wurde 68 Jahre alt. Nicht wenige Auschwitz-Überlebende haben später
       Selbstmord begangen, unter anderem litten sie an der Schuld, überlebt zu
       haben. Levis Biografin Myriam Anissimov schreibt über seine
       Lemming-Geschichte „Richtung Sonnenuntergang“ (in „Primo Levi: Die Tragödie
       eines Optimisten“, 1999): „Die Metapher des kollektiven Todes, der stärker
       als der Wille zum Leben ist, macht diese Erzählung zur Metapher auf das
       Lager.“ Das ist jedoch in jeder Hinsicht unzutreffend.
       
       14 Feb 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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