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       # taz.de -- Alter Bankräuber vor Gericht: Für fünf Minuten Angst
       
       > In Halle soll geklärt werden, ob Martin B. geläutert ist oder mit 76 noch
       > einer von ihm lange ausgeübten „Profession“ nachgeht – der des
       > Bankräubers.
       
   IMG Bild: Martin B. im Gespräch mit seinem Anwalt Dimitar Krassa
       
       Am Morgen ist Martin B., Ketten an den Füßen, ins Landgericht Halle
       getrottet. Nun ist Verhandlungspause und B. zeigt sich gesprächig. Wie
       viele Banküberfälle auf sein Konto gehen? „Vierzehn oder fünfzehn.“ So
       genau könne er sich nicht mehr erinnern. Auch wenn Details zu früheren
       Raubzügen verblassen, Martin B. ist 76 Jahre alt, eines weiß er genau: Mit
       dem Überfall, den ihm der Staatsanwalt heute anhängen will, hat er nichts
       zu tun. Ein Raub lohne sich nicht mehr, schimpft er. Vieles laufe heute
       bargeldlos ab und das bisschen Cash, bestenfalls ein paar Tausend Euro,
       stecke in Tresoren mit Zeitschaltuhr. Nein, der Beruf des Bankräubers, den
       Martin B. so lange ausgeübt hat, [1][gehöre zu den aussterbenden
       Professionen.]
       
       Aber zu den abwechslungsreichen. Zwar hat B. insgesamt fünfunddreißig Jahre
       hinter Gittern verbracht, doch mit frischem Geld hat er dazwischen immer
       wieder das Leben eines Hedonisten geführt – Faulenzen, Reisen, „sackweise
       schöne Frauen“. Martin B. ist aus Berlin-Tegel ausgebrochen und aus einer
       JVA in Bayern. „XY ungelöst“ hat nach ihm gefahndet und Banken in
       Österreich und in der Schweiz waren vor ihm nicht sicher.
       
       Frankreich hat er nur als Unterschlupf genutzt. Fünf Jahre lang war er auf
       der Flucht. Wo ist das Geld von den früheren Überfällen geblieben, will der
       Vorsitzende Richter Detlev Bortfeldt wissen. „Alles weg!“, versichert B.
       Das Leben auf der Flucht sei teuer, die ganzen gefälschten Papiere. „Das
       kostet.“
       
       Milde blickt Bortfeldt auf den Mann mit dem zerfurchten Gesicht, den wachen
       Augen und den grauen Löckchen. „Sie haben keinen Verdacht, wer die Bank
       überfallen hat?“ – „Nee!“ Martin B. ist gut zu verstehen. Er selbst hat
       Probleme. Die Hörgeräte taugen nichts, schimpft er und tauscht mit seinem
       Anwalt den Platz, um näher an der Richterbank zu sein mit den zwei
       Hauptamtlichen, einem Mann und einer Frau, und den beiden Schöffen.
       
       ## Im Anstaltsgarten beim Schach
       
       Die vier müssen klären, ob da ein notorischer Bankräuber sitzt, der Anfang
       April 2021, verhüllt mit Regenponcho und Mund-Nasen-Schutz, die Volksbank
       von Mücheln ein paar Kilometer südlich von Halle überfallen hat. Oder ist
       er doch ein Geläuterter, der nach einem letzten Raubzug, für den er neun
       Jahre Knast aufgebrummt bekam, zum Schluss in der Seniorenabteilung im
       sächsischen Waldheim, seinem Gewerbe abgeschworen hat?
       
       [2][Spiegel TV besuchte 2019 die Altenabteilung] von Waldheim. Zu den
       Privilegien gehören häufigere Hofgänge, mehr Besuche und Ergotherapie.
       Martin B. präsentiert sich gutgelaunt vor einer Staffelei, wo er erzählt,
       dass er zu malen begonnen hat. Später sieht man ihn im Anstaltsgarten beim
       Schach mit einem falschen Fürsten von Anhalt.
       
       Viel hat der Staatsanwalt nicht in der Hand. Ein paar auffallende
       Kontobewegungen im April 2021, dazu die Aussage von B.s Ex-Freundin, dass
       er ihr den Bankraub gestanden habe. Und dann ist da noch B.s Handy, dass
       sich zur Tatzeit in die Funkzelle von Mücheln eingeloggt haben soll. Eine
       Bank ausrauben und hinterher als Erstes das Handy einschalten? „Das ist ja
       hirnrissig“, poltert B.
       
       „Wo waren Sie denn?“, fragt der Vorsitzende Richter. „In Bayern, bei einer
       Altenpflegerin. Die geht nebenbei auf den Strich.“ Das Handy habe er
       vergessen, irgendwo in Halle oder bei seiner jungen Freundin, die ihn wenig
       später bei der Polizei angezeigt hat. Ganze 45 Sekunden hat die „schwere
       räuberische Erpressung“ gedauert. Erstaunlich kurz für die vielen
       Geldbündel. Denn entgegen dem Trend hat sich der Überfall in dem
       8.000-Seelen-Städtchen gelohnt. Rund 110.000 Euro hat die Angestellte dem
       Mann in den Stoffbeutel getan, der sie, wie der Staatsanwalt ausführte, mit
       einem „pistolenähnlichen Gegenstand“ bedroht haben soll.
       
       ## Lange Karriere
       
       Natürlich sei er der „dümmste Staatsanwalt“, der ihm je begegnet sei,
       schimpft B. in der Pause, und „die beiden Deppen von der Kripo“ seien auch
       nicht besser. Nur über die vier auf der Richterbank schweigt sich B.
       wohlweislich aus. Vermutlich hat Martin B. zum Prozessauftakt ein Team von
       RTL erwartet. 2020 begleitete ihn der Privatsender bei seinen letzten
       Hafttagen und besuchte ihn nach seiner Entlassung in Waldheim – [3][Martin
       B. auf der Couch.] Tenor: Ein Bankräuber setzt sich zur Ruhe.
       
       B. plaudert darin über seine lange Karriere. Nur die Anfänge ließ er aus.
       1945 in Berlin geboren, hat B. nie Tritt gefasst. Nach ersten Vergehen wird
       der 15-Jährige in [4][Freistatt eingewiesen, eine berüchtigte Anstalt der
       Diakonie für „schwer erziehbare Jugendliche“.] „Schwere Jungs“ seien sie
       gewesen, erzählt B. und deutet mit einer Handbewegung den Alltag in der
       niedersächsischen Einöde an. Die Jugendlichen mussten Torf stechen. Wenn
       jemand ausbrach, tönte die Sirene über das Moor. Nach diesem Kapitel war
       Martin B. für das bürgerliche Leben verloren.
       
       Irgendwann wagte er den ersten Banküberfall. „Fünf Minuten Angst“, danach
       jede Menge Geld. So beschreibt B. RTL seinen Job. „Ich habe dreißig Jahre
       vergeudet. „Den Rest aber hätte ich mir mit normaler Arbeit nie leisten
       können.“ RTL hat errechnet, dass er so mehr als 2 Millionen Euro
       eingesammelt haben muss.
       
       Eine der wenigen legalen Einkünfte, neben dem kargen Häftlingslohn, dürften
       die 15.000 Euro Entschädigung für die Fronarbeit in Freistatt sein, die ihm
       nach Jahrzehnten zugesprochen wurden. Da saß er gerade in Waldheim. Mit
       einem Teil hat B. seine Zahnsanierung bezahlt, mit einem anderen die
       Hörgeräte, über die er den ganzen Vormittag lamentiert.
       
       ## Finaler Coup?
       
       Der letzte nachgewiesene Überfall, 2012 im Salzburgischen, ging schief. Der
       damals 66-Jährige hatte eine Raiffeisenbank ausgeraubt und flüchtete mit
       dem Fahrrad. Doch dabei brach das Stützkorsett für seine Wirbelsäule. Mit
       den plötzlichen Schmerzen konnte sich B. nur noch im Gebüsch verstecken.
       Dort wurde er von Hunden gestellt. Das Ergebnis – neun Jahre Haft, erst in
       Straubing, dann in Waldheim. Im April 2020 wird B. entlassen.
       
       Sollte Martin B. nach diesem Fiasko tatsächlich einen finalen Coup in der
       sachsen-anhaltischen Provinz versucht haben? Der Überfall, so berichtet die
       Mitteldeutsche Zeitung, war der erste Bankraub seit fünf Jahren im
       südlichen Sachsen-Anhalt. Viel häufiger ist deutschlandweit inzwischen das
       Sprengen von Bankautomaten, bei denen die Täter, oft ganze Banden,
       rücksichtslos vorgehen, Die Wucht der Explosion gefährdet immer wieder
       Menschen.
       
       Martin B. streitet alles ab. Die Anklage stützt sich auf Indizien. Das Geld
       sei bis heute nicht aufgetaucht, sagt sein Anwalt. Das Handy im Funknetz
       von Mücheln ist der einzige handfeste Hinweis, dass Martin B. in den
       Bankraub verwickelt sein könnte. Der Prozess ist bis Ende März terminiert.
       Inzwischen hat seine Ex-Freundin als Zeugin ausgesagt und sich in
       Widersprüche verwickelt. Martin B. hat nach diesem Auftritt die Aussetzung
       des Haftbefehls beantragt.
       
       Kommt er frei, kann er sich endlich wieder um Emma kümmern, eine
       Mischlingshündin, die er bei seiner Verhaftung zurücklassen musste und mit
       der, nach Ansicht von B., das Malheur seinen eigentlichen Anfang nahm. Bei
       einer abendlichen Runde in Waldheim habe er sich bei einem Halt am
       Hundetreff abfällig über seine Ex-Freundin und ihr Umfeld ausgelassen. Die
       24-Jährige erfuhr davon und war dermaßen erbost, dass sie zur Polizei ging
       und ihn als den Bankräuber von Mücheln anzeigte.
       
       ## Legale Einnahmequelle
       
       Das Gericht will in dieser Woche über das Ende der U-Haft entscheiden.
       Sieht es weiterhin einen dringenden Tatverdacht, muss B. hinter Gittern
       bleiben. Hält es B. für einen Geläuterten, dem kaum etwas nachzuweisen ist,
       braucht man auch eine Flucht nicht mehr zu fürchten.
       
       Eine neue, legale Einnahmequelle hat B. jedenfalls schon erschlossen. Im
       September 2020 stellte er in Lindau am Bodensee in der Galerie Art Royal
       eines echten Fürsten zu Sayn-Wittgenstein erstmals eigene Bilder aus. Zwei
       seien für 1.300 Euro verkauft worden, erzählte er dem Richter. Schließlich
       ist er von Waldheim nach Halle gezogen, weil er in der Stadt auf eine
       Kunstszene und viele Galerien hofft.
       
       Auf Instagram präsentiert Martin B. schon länger einige Werke. Sie sind
       abstrakt, farbig und irgendwie lebensfroh. Dazwischen zeigt sich ein
       Grauhaariger, er lebte da noch in Waldheim, der Spaß am Albern hat, mal mit
       Zigarre, mal mit Bier und oft mit Emma. Der Name seines Kanals –
       „bankraeuberkunst“.
       
       17 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Cybercrime-und-Wirtschaftsschutz/!5784542
   DIR [2] https://www.spiegel.de/video/spiegel-tv-senioren-in-der-jva-waldheim-video-99027860.html
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=8Uiu7et2cQY
   DIR [4] /Filmische-Aufarbeitung-kirchlicher-Kindesmisshandlungen/!5205997
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
       
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