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       # taz.de -- Zwei Jahre nach Terroranschlag in Hanau: Was bleibt
       
       > In Hanau kämpfen Bekannte und Angehörige der Opfer gegen das Vergessen
       > und die eigene Angst. Der Schmerz sitzt tief.
       
       Hanau taz | Dieser Ort in Kesselstadt war einmal nur ein Parkplatz. Bis er
       zu einem Parkplatz wurde, an dem Menschen erschossen wurden. Heute hält er
       die Toten und Lebenden zusammen. Betritt man den Kurt-Schuhmacher-Platz und
       geht circa fünf große Schritte nach links, öffnen sich die automatischen
       Schiebetüren vom Lidl, piepende Kassenscanner und dunkel tönendes Surren
       der Kühlabteilung setzen an. Wenn man kehrtmacht, steht drei Schritte
       weiter ein marmornes Gedenkkreuz, mit Gravur auf der Sichtseite. Dieses
       Kreuz wurde errichtet im Namen von Jesus Christus für den Helden
       VILI-VIOREL PĂUN.
       
       Zwischen Blumen und Kerzen wurde ein kleines Weihrauchfass niedergelegt,
       ein aromatischer Geruch hängt in der Luft. Anwohner:innen laufen quer
       über den Parkplatz zu den allseitig umliegenden Hochhäusern. Ein Mann zieht
       an der Leine seines Hundes. Hinter ihm ein Kiosk, auf dem in blauer
       Schrift steht: ARENA BAR & CAFE. In diesem Kiosk und dem nebenan liegenden
       Raum und auf dem Parkplatz draußen erschoss ein rechtsextremer Schütze am
       19. Februar 2020 sechs Menschen mit Migrationshintergrund.
       
       Kurz zuvor tötete er wenige Kilometer entfernt drei weitere. Insgesamt neun
       Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Zwei Jahre sind seitdem vergangen,
       die Schüsse längst verhallt, die Spuren gesichert. Wenn der Name der Stadt
       Hanau fällt, folgen ihm seit zwei Jahren neun weitere.
       
       Gökhan Gültekin. Ferhat Unvar. Sedat Gürbüz. Said Nesar Hashemi. Mercedes
       Kierpacz. Hamza Kurtović. Vili Viorel Păun. Fatih Saraçoğlu. Kaloyan
       Velkov.
       
       Das Leben hier geht augenscheinlich weiter. Plattenbauten umstehen den
       Stadtteil Kesselstadt, grenzen von umliegenden Einfamilienhäusern ab. Wenig
       Grünfläche, keine Geschäfte weit und breit, höchstens Supermärkte, ein paar
       Kioske, einer davon ist der am Kurt-Schuhmacher-Platz und hat seit zwei
       Jahren geschlossen. „Ja, schau, da hinten direkt. Siehst du schon, wenn du
       rübergehst.“
       
       ## Alle kennen die Ermordeten
       
       „Juz“ sagen alle in Kesselstadt und meinen das Jugendzentrum in der
       Nachbarschaft. In diesem haben sich drei der Opfer, [1][Ferhat], Hamza und
       Said, bis zu ihrem Tod regelmäßig, teilweise täglich aufgehalten. Aus dem
       Innenhof des Jugendzentrums kommen gedämpfte Stimmen, das Tor steht halb
       offen, das Gelächter wird lauter. Zwischen den bunten Restbasteleien und
       Informationspapieren am Fenster hängt ein Foto, das heraussticht. Darauf
       sind alle neun Opfer abgebildet, die durch den rassistischen Mord im
       Februar 2020 in Hanau ums Leben kamen.
       
       Vor den Eingangstüren stehen vier junge Männer und unterhalten sich, feixen
       herum. Sie stehen in weiten Abständen voneinander entfernt, bewegen sich
       hin und her, sind ruhelos und wechseln dauernd ihren Steh- und Sitzort, als
       würden sie jeden Moment aufbrechen wollen. Dabei rufen sie sich über den
       Platz hinweg Neckereien zu, die mit lauten Lachern quittiert werden. Zwei
       von ihnen sind an eine Wand gelehnt und alle vier tragen dicke Jacken,
       Sneaker und eine jugendliche Unbeschwertheit, die sich in verschmitzt
       grinsenden Gesichtern ausdrückt.
       
       Sie alle sind seit Kindheitstagen mit den Ermordeten Ferhat und Hamza
       befreundet gewesen. Auch Said Nesar war oft da, hier, wo die Opfer sich von
       leblosen Fotos lösen und Gestalt annehmen, Menschen mit einer Geschichte,
       vielen Eigenarten und unterschiedlichen Charakterzügen, keine fremden
       Toten. Spricht man auch in anderen Stadtteilen Hanaus irgendwen mit
       Migrationshintergrund an, dann sind die Ermordeten alte Schulfreund:innen,
       verbliebene Namen aus der Kindheit, langjährige Nachbar:innen. Ihr
       Schicksal und alles, was dahintersteht, überschneidet sich zwangsläufig mit
       ihren Leben. So auch bei Eray, Isa, Hüseyin und Sinan.
       
       Wie alle Jugendzentren verströmt auch das Juz, in dem die vier Freunde sehr
       oft sind, ein Gefühl von Schulschluss und Heimeligkeit. Ab dem frühen
       Nachmittag laufen junge Leute ein und aus, oft steht ein:e
       Sozialarbeiter:in vor der Tür, raucht eine, unterhält sich dabei mit
       den Jugendlichen draußen über Schulnoten und Corona. Dann gehen die
       Teenager zusammen rein, erzählen sich Dinge sehr schnell und laut.
       
       Aber im Juz sind auch Tod und Verlust präsent, daran erinnert ein Graffiti
       – FIGHT RACISM – und eine Plane an der roten Klinkerfassade des Gebäudes.
       Auf der steht: #SayTheirNames. Darunter die neun Gesichter der Ermordeten,
       auf Kunststoff gedruckt und in die Mittagssonne gespannt.
       
       ## „Die haben den ja als verrückt betitelt“
       
       „Wir zeigen hier Präsenz. Wir gehen hier nicht weg“, sagt Eray, löst seine
       Arme aus der verschränkten Haltung, seine Hände steckt er in die
       Jackentaschen. „Wir lassen uns nicht verscheuchen von hier.“ Er hat viel zu
       sagen, seine Freunde geben ihm den Vorrang, hören nur zu, ergänzen und
       bekräftigen ab und zu, „ja Mann“. Sobald er von der Tat und seinen Folgen
       spricht, wird er ernst, die weichen Gesichtszüge verhärten sich. Das löst
       sich, wenn Ferhats und Hamzas Namen fallen. Dann runzelt er wieder die
       Stirn, weil er von den trauernden Familien spricht. Wenn er wiederholt,
       dass sie keine Angst haben, bleibt es still, keine Bejahungen der anderen.
       
       Na ja, setzt Isa plötzlich in die kurze Stille hinein an. Angst sei ja
       trotzdem da, sagt er. Er hat sich zwischenzeitlich auf eine Erhebung am
       Boden gehockt, auf seinem Gesicht ließ sich die ganze Zeit ein sich
       anbahnendes Lächeln erkennen, das weicht jetzt zum ersten Mal ganz. Er
       gestikuliert vor sich hin, während er nach dem passenden Wort sucht, nennt
       es dann „Komplexe“, also der zweite Blick auf ein anfahrendes Auto. Immer
       im Blick haben, wer da aussteigt.
       
       Wie erinnert man hier? Man will auch vergessen, antwortet Eray. „Natürlich
       wollen wir nicht, dass die Namen vergessen werden.“ Sie würden ja kämpfen,
       damit das eben nicht passiert. Und trotzdem: „Irgendwie will man’s auch
       vergessen, die Tat selbst jedenfalls, um mit dem Leben weitermachen zu
       können.“
       
       Von ihren Freunden sprechen sie, als wären sie weg, aber nicht tot. Wenn
       Eray sagt, „das waren sehr gute Jungs“, dann klingt er wie jemand, der
       gerade Bilder im Kopf hat. Er lächelt, die anderen nicken. In der Clique,
       so wie sie hier steht und lacht und sich erinnert, ist das Trauern noch da,
       aber auch die Ausgelassenheit des alltäglichen Lebens hat sie eingeholt.
       
       Es wirkt wie ein Zwischenzustand, den sie sich nur gegenseitig begreiflich
       machen können. Abschließen geht nicht, sagen sie, „wir haben noch viele
       offene Fragen“. Wie es sein kann, [2][dass die Polizei angerufen wird und
       nicht rechtzeitig da ist], wollen sie wissen. Eray sagt: „Die haben den ja
       als verrückt betitelt“ und deutet auf die Hochhäuser hinter ihm, dort hat
       der Täter gewohnt und bis heute sein Vater. Dann, nach der Fragerei, sagt
       einer von ihnen: „Der deutsche Staat hat uns im Stich gelassen.“
       
       Mehrere Jugendliche laufen derweil ins Juz rein. Im großen Innenraum, dem
       „offenen Treff“, läuft HipHop, einige stehen in der Mitte am Billardtisch,
       andere kickern nebenan, rufen sich den Punktestand zu und kurbeln hörbar
       kräftig. Auch viele Schülerinnen sind da, einige von ihnen sind zum
       Boxtraining für Mädchen gekommen. Aber bis dahin sind es noch zwei Stunden.
       
       Knapp vier Kilometer vom Juz entfernt, im angrenzenden Stadtteil Steinheim.
       Dort fahren die ersten Autos in einer zugeparkten Straße vor der
       rumänisch-orthodoxen Kirchengemeinde „Hl. Johannes der Täufer“ raus. Gerade
       endete die Liturgie, an denen vor allem die Hanauer:innen in der
       Umgebung teilnehmen. Im großen Gemeinderaum drinnen stehen einzelne
       Personen am Rand, essen aus Pappbechern: Colivă, ein rumänisches Gericht
       aus Roggen, dass zum Gedenken für Verstorbene zubereitet und in der
       Gemeinde verteilt wird, erklärt eine Frau. Klar sei das auch für Vili, sagt
       sie, sein Schicksal habe alle hier getroffen.
       
       Ektenie für die Entschlafenen. Bis dahin blättert ein Mann, der auf einer
       der Sitzbänke vor dem Gemeinderaum Platz genommen hat. Sein Zeigefinger
       streicht über ein paar Zeilen, die sich in seinem Gebetsheft befinden. Wir
       bitten Dich auch für die Seelenruhe der entschlafenen Knechte und Mägde
       Gottes [N] – „hier fiel auch oft Vilis Name“, sagt er. Für die Seelenruhe
       der entschlafenen Knechte und Mägde Gottes Vili Viorel Păun.
       
       Auf der Einschlagklappe des Heftchens klebt ein Foto von Iulia und
       Niculescu Păun, die Eltern von Vili Viorel. Beide stehen mit einem Lächeln
       in der Mitte des Raumes Pose, in dem soeben der heutige Gottesdienst
       stattfand. Die Mutter hält mit beiden Armen einen großen Strauß Blumen
       umklammert, der Vater trägt einen hellblauen Anzug, zwischen ihnen Pfarrer
       Rafael. Nach dem Tod ihres Sohnes ließ sich das bislang nur standesamtlich
       verheiratete Paar in dieser Gemeinde kirchlich trauen.
       
       Sonnenstrahlen durchfluten den Raum, Schattenspiele über Bilder von
       Heiligen der orthodoxen Kirche. Nach dem Gottesdienst hat Pfarrer Rafael
       Zeit. „Auch nach zwei Jahren haben die Leute aus meiner Gemeinde nicht
       vergessen. Nur langsam kehrt Normalität ein.“ Normalität, das heißt, dass
       man keine Angst mehr hat, bei Dunkelheit das Haus zu verlassen. Wie das im
       Jahr des Anschlags ausgesehen habe? Der Pfarrer schnaubt zur Antwort auf,
       seine Augen geweitet. Aber mittlerweile hätten die Leute keine Angst mehr.
       
       Die deutsche Behörden, sagt er, müssten auch die religiösen Gemeinden
       schützen. Viele seiner Gemeindemitglieder seien aus Rumänien, aber eben
       auch Hanauer:innen. „Ihre Sicherheit ist die Aufgabe der deutschen
       Behörden.“ Auf seinem Smartphone zeigt er mir ein Foto von Claus Kaminsky,
       dem Oberbürgermeister aus Hanau, wie er neben Rafael hier in der Gemeinde
       steht. Das war sechs Wochen nach dem Anschlag. „Viel Papperlapapp“ sei das
       gewesen.
       
       Sechs Minuten Autofahrt, einen Stadtteil weiter: Lamboy. Ein Mann mit einem
       runden Serviertablett voller bis zum Rand gefüllter Teegläser steigt die
       Treppen hoch, öffnet die Bürotür von Servet Uçar, dem Vorsitzenden des
       Vereins AYDD e. V, übersetzt Verein der Solidarität und Gemeinschaft Agirî.
       In Hanau leben viele Menschen aus Agirî, einer Stadt in der kurdischen
       Region der Türkei. So wie Gökhan Gültekin, der beim Anschlag vor zwei
       Jahren ermordet wurde. Nur einen Monat später erlag Behçet Gültekin seiner
       Krebserkrankung, ihn kennen hier alle. Sieben Tage über saß der trauernde
       Vater in den Vereinsräumen, nahm Beileidsbekundungen entgegen, erzählt
       Servet Uçar.
       
       „Onkel Behçet war langjähriges Vereinsmitglied. Aber vor allem ein sehr
       geschätzter Freund.“ Viele Politiker:innen seien hier zu Besuch
       gewesen, sagt er. Nebenher organisierte der Verein Demonstrationen und
       Kundgebungen mit. Diese Tat gelte nun zwar als vergangen und der Fall vor
       Gericht als abgeschlossen, aber ihr Verein mit rund 600 Mitgliedern würde
       sich auf dem Laufenden halten, Neuigkeiten zum Themenkomplex #Hanau sind in
       ihren Whatsapp-Gruppen abrufbereit. „Für uns ist das Thema nicht
       abgeschlossen. Für unseren Verein erst recht nicht.“
       
       Es werde noch immer viel über den rechten Terroranschlag gesprochen,
       Versammlungen zum Umgang damit finden in regelmäßigen Abständen hier statt.
       „Wir sind in ständigem Kontakt mit den Angehörigen der Opfer. Und auch mit
       Politikern.“ Erst wenige Tage zuvor ist Heike Hofmann hier gewesen. Die
       SPD-Abgeordnete des hessischen Landtags besuche den Verein oft. „Das machen
       wir alles nur, um nicht zu vergessen“, sagt Uçar und sinkt in den Bürostuhl
       zurück: „Ja, die Zeit nach dem Anschlag ist immer noch eine schwere Zeit.“
       
       In einem Nebenzimmer des Vereins sitzt eine Frau mit ihrer Tochter. Die
       Frau stellt sich als Nazik vor, sie kommt aus Kesselstadt. Nach dem
       Anschlag ist sie umgezogen. Zu groß war die Angst, zu präsent die
       Erinnerungen an die Tatnacht. „Ich war sehr gut mit der Mutter von Mercedes
       Kierpacz befreundet. Wir sahen uns ständig, waren Nachbarinnen.“ Eine sehr
       zuvorkommende Frohnatur, genauso wie ihre heute tote Tochter. Wie es ihr
       nach dem Anschlag ergeht? Eine lebende Tote, antwortet Nazik lapidar. Sie
       weint leise und sagt: „Die Schreie der Mutter. Es war schlimm.“
       
       Und nach der Tat? „Meine Kinder konnten wochenlang nicht in die Schule. Sie
       sagten: Nein, da kommt wieder jemand mit einer Waffe.“ Sie haben Gökhan
       Gültekin gekannt, erzählt Nazik. Gökhan ist im Kiosk unter ihrer Wohnung
       ermordet worden, auch er war ein Nachbar. Nazik erzählt lächelnd, wie sehr
       ihre Kinder ihn geliebt haben: „Sie sind immer zu ihm ins Kiosk gegangen,
       haben sich Süßigkeiten gekauft, Kaugummis. Natürlich sind sie
       traumatisiert, sie denken ja bis heute daran.“
       
       Sobald etwas zu Hanau im Radio oder Fernsehen läuft, schaltet Nazik aus.
       Ausschalten, vergessen, das gehe aber nie wieder. „Diese Nacht verschwindet
       nicht vor meinem inneren Auge. Ich hatte monatelang Angst, aus meinem
       Balkon nach unten zu schauen. Dort, wo ich Mercedes Mutter auf dem Boden
       knien sah.“ Auch Mercedes ist im Kiosk am Kurt-Schuhmacher-Platz erschossen
       worden. Als ihre Mutter von ihrem Tod erfuhr, fiel sie auf die Knie und
       schrie, vor dem abgesperrten Kiosk, in dem sich die Leiche ihrer Tochter
       noch befand, sagt Nazik.
       
       In der Klasse ihrer Kinder sei das damals wie heute kein Thema gewesen. Das
       macht sie wütend. Es sei unfassbar, dass die Lehrkräfte das Thema gar nicht
       besprochen haben. „Als wäre das normal, was passiert ist. Es ist passiert.
       Und das war’s jetzt. Oder wie?“ Ihr Blick wird starr vor Entsetzen, als
       hätte sie all das zum ersten Mal gedacht und gesagt. Sie schnalzt mit der
       Zunge, mehrmals, dabei deutet sie auf das Tuch, das sie über ihrem
       Hinterkopf zu einen festen Knoten gedreht hat: „Deswegen, oder was?“ Sie
       sagt: Die Menschen waren tot, die Polizisten hatten alles abgesperrt,
       unterhielten sich und sie lachten. Dann wiederholt sie: „Wir waren auch
       unten und weinten. Und die Polizisten unterhielten sich und lachten.“ Ihre
       Augen sind nass. „Sie lachten.“
       
       Im Friseurgeschäft gleich um die Ecke herrscht reger Betrieb. Einige hier
       kennen sich aus dem Verein der Solidarität und Gemeinschaft Agirî. Alle
       Stühle sind besetzt, die Kunden warten. Der Inhaber Zekeriya bietet mir
       einen Platz neben sich an. Zu hören ist türkische Popmusik und das
       geschäftig tönende Vibrieren der Rasierapparate, die über den Köpfen der
       Kunden schweben. „Ich bin seit 1991 in Hanau. Mein Geschäft habe ich 2004
       eröffnet.“ Oberbürgermeister Claus Kaminsky sei oft vorbeigekommen, auch
       ihn habe er frisiert und rasiert. „Kaminsky ist ein guter Mann. Aber die
       Feindlichkeit uns Ausländern gegenüber spüren wir ja trotzdem. Daran ändert
       sich nichts.“ Er sehnt sich nach einem Staat, der Sicherheit gibt. Seit
       Februar 2020 wird Zekeriya besonders unruhig, wenn die erwachsenen Kinder
       sich nicht melden, während sie abends noch unterwegs sind. „Wir schreiben
       ihnen dann: Wo bleibt ihr? Und wir denken an das Schlimmste.“
       
       Auch einige der Opfer seien seine Kunden gewesen, etwa Gökhan Gültekin.
       „Ein sehr anständiger, junger Mann“, er wendet den Blick ab. „Er ist weg.
       Die Unschuldigen gehen eben“, sein Blick wandert zur gläsernen Eingangstür,
       er schweigt und sagt dann: „Jemand könnte jetzt hier reinkommen, uns alle
       abknallen. Dabei sitzen wir hier nur, arbeiten, gehen unserem Tagesgeschäft
       nach.“ Während er das sagt, fahren ein paar Autos Richtung Innenstadt
       vorbei. Eine Stille setzt ein, nur die Musik und die Rasur füllen den Raum.
       
       [3][Die Angst vergessen]. Laut Sozialarbeiter:innen des Juz macht
       auch das die wöchentlichen Trainingstage für die Jugendlichen so wichtig.
       Unten im sogenannten BoxGym quietschen schnelle Schritte auf dem
       Linoleumboden, in der Mitte ein Boxring. „Komm, komm, komm!“, die
       Sozialarbeiterin feuert die Mädchen an, eine von ihnen hält ihre
       Schutzmaske fest, schnappt nach Luft, „Kann ich kurz – 5 Sekunden?“
       
       Nach dem zweistündigen Boxtraining essen sich die Mädchen im oberen
       Stockwerk des Juz an einer Pizza satt. In den Geruch von gerade verzehrtem
       Essen mischt sich das Muffige alter Polstermöbel, die künstliche
       Umgebungshelligkeit wirkt beruhigend. Draußen ist es schon dunkel, das
       Ambiente hier drinnen vor allem gemütlich.
       
       An der Theke im Raum sitzen drei der Sozialarbeiter:innen, laute
       HipHop-Musik übertönt das Lachen der Jugendlichen, die in einem anliegenden
       großen Raum auf abgenutzten Sesseln sitzen, auf den speckig glänzenden
       Fliesentischen stehen ein paar Trinkflaschen. Im Juz erinnert viel an die
       Ermordeten, ihre Namen auf Plakaten an der Wand, ihre eingerahmten
       Gesichter blicken den eintretenden Jugendlichen entgegen. Aber es ist
       besonders die hier gemeinsam verbrachte Zeit mit Ferhat oder Hamza, die den
       Anschlag nicht vergessen lässt.
       
       „Am Tag der Tat saß Ferhat in der Küche drüben und hat seinen Milchshake
       getrunken“, erzählt Esmanur Sarıkaya. Die Unmittelbarkeit, die reale Gefahr
       machen ihm und den anderen Angst. „Wir könnten jetzt hier rausgehen und es
       könnte auch uns treffen“, sagt Nouha Eljazouli. Für die beiden 15-jährigen
       Freundinnen ist das Juz wie ein zweites Zuhause. Hier fühlen sie sich wohl.
       Trotzdem scheint sie das Trauma auch bis in diese Räume zu begleiten.
       „Anfangs hatte ich Angst, das Haus zu verlassen. Ich hatte sogar Angst, auf
       den Balkon zu gehen. Das ging fast einen Monat so. Aber danach habe ich
       mich noch getraut, hierher zu kommen.“
       
       Esmanur erzählt, dass die Gesichter auf der Plane draußen vor dem Juz ihr
       abends besonders Angst einjagen. „Es ist dunkel, ich sehe die Gesichter an
       der Wand, die ja eigentlich hier lebten. Das fühlt sich dann so an, als
       würden sie vor mir stehen.“ Sie lacht beschämt: „Das macht mir Angst. Und
       ich habe Angst, dass mir das auch passieren wird.“ Was denkt sie in solchen
       Momenten? „Dass jemand kommt und mich erschießt, genauso wie die anderen
       vor zwei Jahren.“
       
       Nouha hielt im selben Jahr des Attentats ein Referat in ihrer Klasse über
       den 19. Februar. Viele ihrer Klassenkamerad:innen haben keinen
       Migrationshintergrund, sagt sie. Und, dass sie sich nicht wirklich damit
       beschäftigten, während es für sie anfangs ihren Alltag bestimmte. Die
       Lehrer:innen konnten sich die Namen der Opfer nicht merken, sagt Nouha,
       „sie merken sich doch auch die Namen von so vielen Schüler:innen“. Nach
       ihrem Referat kam das Feedback: „Die Lehrer sagten, es ist schön, dass du
       dich damit befasst“, sie wird etwas lauter, streckt ungläubig ihre Hände
       aus, „Ich befasse mich nicht damit, ich bin betroffen!“
       
       Denn: An jedem 19. eines Monats komme alles wieder hoch. „Die Einstellung
       ist zwar, das Leben geht weiter, aber auf meinem Schulweg muss ich am
       Heumarkt vorbei, am ersten Tatort. Wenn ich jeden Tag ins Juz komme, zum
       Lidl gehe, laufe ich an der Arena Bar vorbei, am zweiten Tatort.“ Das
       Attentat vor zwei Jahren ist hier allgegenwärtig, manchmal ganz
       unweigerlich. Für viele geht das Leben halt weiter. Für andere wie Nouha
       und Esmanur geht es trotzdem weiter.
       
       18 Feb 2022
       
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