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       # taz.de -- Performance „Sehr schön und sehr tot“: Alle Frauen müssen sterben
       
       > Die Kultur des Femizids von der Antike bis zur Gegenwart untersucht das
       > Staatstheater Braunschweig in einer textlastigen Performance.
       
   IMG Bild: Tiersymbolik in Braunschweig: Carmen wird zum goldenen Hirsch und Ophelia trägt Fischmaske
       
       Was macht Mann, wenn Frau ihm nicht mehr zu Diensten ist oder sein will?
       Ein Beispiel zeigt Schauspieler/Bühnenmusiker Camill Jammal in einer
       kauzigen Stand-up-Comedy-Nummer zum Durchstarten der „Sehr schön und sehr
       tot“ betitelten „musikalischen Séance“ am Staatstheater Braunschweig. Er
       sei der expressionistische Maler Oskar Kokoschka, behauptet Jammal, seine
       Gemütslage ist definiert durch Alma Mahlers Abwesenheit.
       
       Nachdem er die zweijährige Affäre in über 400 Bildern gefeiert und
       verarbeitet hat, inspiriert sie ihn nun, eine Sexpuppe in Auftrag zu geben.
       Alma nennt er die Aufblasfigurine, aber sie hat weder Haare noch
       Gesichtszüge, Brüste oder Geschlecht.
       
       In die Empörung über spärliche Ausstattung schleicht der Lyriker Heinrich
       Stieglitz (Daniele Szeredy), dessen Gattin sich gerade für sein Wohlergehen
       erdolcht hatte. „Unglücklicher konntest Du nicht werden, Vielgeliebter!
       Wohl aber glücklicher im wahrhaften Unglück!“, heißt es im Abschiedsbrief.
       
       Ein Opfertod. Ja, so will Mann die Frau haben. „Beide Seiten, Künstler und
       Muse, kriegen so ihren gerechten Teil des Handels! Der Leichnam ist schön;
       das mildert den Schrecken, der Leichnam ist weiblich; das hilft, sich als
       Sieger über den Tod zu fühlen“, schließlich sei man selbst ja männlich,
       meint Kokoschka.
       
       Zudem nehme bewusstlos totes Fleisch in weiblich attraktiver Gestalt etwas
       vom Schrecken der Frau „als unergründlichem Wesen mit geheimnisvoller
       Schöpferkraft und gefährlicher Sexualität“. Ach!, „der Tod einer schönen
       Frau ist und bleibt ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt“. Heinrich
       dichtet auch gleich los: „Die Frau ist vervollkommnet, ihr toter Körper
       trägt das Lächeln der Vollendung.“
       
       Willkommen im Diskursfeld, für das sich das Darsteller:innen-Quartett unter
       Leitung der Regisseurin [1][Rebekka David] interessiert, die Frage, warum
       in Kunst und Literatur das Motiv der schönen Frauenleiche so bedeutend ist.
       Und bleibt: Sie prangt auf Buchcovern, TV-Krimis beginnen häufig damit,
       auch dunkel gestimmte Lieder beschreiben die ästhetisch hochrangige Tote
       gern so geheimnisvoll, wie Gemälde sie abbilden.
       
       Wirken die anmutig drapierten Frauenleichen für Männer erotisch und
       begehrenswert, sind sie gerade in ihrer totalen Passivität und
       Machtlosigkeit ein stummes Sehnsuchtsprojektionsobjekt? In der Performance
       werden nun Szenen aus Theaterklassikern mit Zitaten von Vergil bis
       [2][Carolin Emcke] locker collagiert und musikalisch arrangiert.
       
       Da der Programmflyer schon John Everett Millais’ „Ophelia“-Gemälde
       abbildet, wird ihr Ableben gleich auch thematisiert. Szeredy spielt die
       Shakespeare-Heldin mädchenhaft verdruckst in ihrer Liebesverwirrung und
       verzweifelt angesichts Hamlets Hass auf die ewig weibliche
       Verführungskunst. Schon treibt die reine Unschuld vollends mundtot im Fluss
       … schnell zum nächsten Fall, dem bis heute ungelösten Mord an Hazel Irene
       Drew, Vorbild für die Laura-Palmer-Leiche in der Serie „Twin Peaks“.
       
       Ein oberschlauer Kommissar befeuert anhand spärlicher Indizien seine
       Fantasie, was Frauen so alles hinterm Rücken der Männer treiben. Der
       Krimi-Klassiker: Die physischen und psychischen Versehrungen der Frau gilt
       es nicht nachzuvollziehen, sie ist nurmehr sezierbare Materie und
       Auslöserin der polizeilichen Ermittlungen, die vor allem die
       Psychopathologie der Täter mit Empathie ergründen.
       
       In der Aufführung wird dazu ein Verführungsapfel verspeist. Eine Anspielung
       wohl auf die biblische Eva und eine These von Elisabeth Bronfen, die bei
       Frauenmorden von „kultureller Rache“ der Männer spricht: Würden Frauen im
       Patriarchat doch als „Synonym für Störung und Spaltung“ wahrgenommen, also
       als Nachfolgerinnen Evas, dem Sinnbild für Verführung und der
       Einschleuserin der Sterblichkeit ins Paradies.
       
       Nun geben sich Darstellerinnen als Lady Macbeth (Gina Henkel) und Carmen
       (Amy Lombardi) zu erkennen. Ihr Beziehungsstreit mit Don José wird mit
       Georges Bizets Opernvorlage ausgebreitet. Er liebt sie, will sie als
       „exotisiertes Objekt seiner Begierde einkassieren“, erklärt Lady Macbeth.
       Carmen aber will nicht Requisit seiner Lüste sein, sondern ihre Freiheit
       leben. Er rast und tötet sie. Mord aus Leidenschaft.
       
       In Braunschweig wird diese Kultur des [3][Femizids] nicht wie in so vielen
       Opern und Dramen als schon okay dargestellt. Die Tat ist eindeutig brutaler
       Ausdruck maskuliner Machtbehauptung. Männerdarsteller Jammal setzt sich
       dann auch bald einen Tigerkopf auf, Carmen kommt als goldener Hirsch daher
       und Ophelia mit Fischmaske.
       
       Tiersymbolik der fragwürdigen Sorte. Lady Macbeth fasst zusammen: „Unser
       Drama liegt im Konflikt zwischen der individuellen Erfahrung des Ichs und
       der kollektiven Erfahrung des Frauseins. Für uns selbst sind wir
       meinetwegen von Natur aus zentral und wesentlich, aber für eine
       Gesellschaft sind wir unwesentlich, sekundär und werden über unsere
       Beziehung zu Männern definiert.“
       
       Auch Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ darf noch ihren Zwiespalt
       artikulieren. Ihr Vater braucht Geld, sie soll einen reichen Freund darum
       bitten, der aber verlangt als Gegenleistung, sie nackt betrachten zu
       dürfen. Den Vater ehren und helfen sowie gleichzeitig selbstbestimmt über
       den eigenen Körper verfügen zu wollen, geht nicht zusammen. Folge: Wieder
       treibt eine Frau tot im Fluss. Ein Anblick, „gleichzeitig anklagend wie
       erbauend und tröstlich“.
       
       Zur Aneinanderreihung solcher Geschichten gesellt sich eine Gegenbewegung.
       Unterm Bühnenbild, einer rustikal getischlerten Berginstallation, haust ein
       einsamer Mann und brütet Misogynie aus. Die Regisseurin hat ihn als Hummer
       verkleidet, woraufhin Lady Macbeth gierig einen echten Hummer verspeist.
       
       Der Mann im Hummergewand wurde als Kind, so seine Narration, von einem
       Mädchen derart beschämt, dass er sich fortan chronisch minderwertig fühlt
       und bis heute ungeküsst blieb. All sein Leid hätten Frauen begründet, sagt
       der Typ – und will nun ihre Bestrafung. „Wenn ich euch nicht haben kann,
       werde ich euch zerstören.“ Er zieht in den Krieg für sein Recht auf
       Macho-Männlichkeit.
       
       Die arg textlastige Inszenierung ist teilweise mehr feministisches Manifest
       denn vitaler Theaterabend, analysiert andererseits aber an prägnanten
       Beispielen, wie geschlechtsspezifische Gewalt gedeiht und gerechtfertigt
       wird. Allem schauspielerischen Spaß zum Trotz müssen Besucher allerdings
       reichlich Wissen mitbringen oder sich hinterher anlesen, um die Texte der
       Aufführung kontextualisieren und die Argumentationslinie im
       Assoziationsstrom nachvollziehen zu können.
       
       15 Feb 2022
       
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