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       # taz.de -- EU-Begeisterung in Osteuropa: Berlins Soft Power schmilzt
       
       > Nicht nur in Kiew, auch in Tallinn, Prag und Warschau sind Fragen nach
       > unserer kollektiven Sicherheit mit voller Wucht zurückgekehrt.
       
   IMG Bild: Bundeskanzler Scholz zu Besuch beim ukrainischen Präsidenten Selensky am 14. Februar
       
       In der Neuen Nationalgalerie in Berlin werden die Besucher von einer
       riesigen Leinwand aus dem Jahr 1930 begrüßt. Ein paar Leute sitzen am Tisch
       in müden Posen, die ihre Ansichten über die düstere Zukunft widerspiegeln.
       Dieses ergreifende Bild, „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein zeigt
       die Ungewissheit über das, was morgen bevorsteht – wie wir heute wissen,
       war dies damals der unvermeidliche Krieg.
       
       Die Stärke solcher Bilder liegt in ihrer Universalität. Heute herrscht eine
       ähnliche Atmosphäre in Kiew. Die Bedrohung für Deutschland kam von innen,
       während die für die [1][Ukraine] von außen kommt. Die Ungewissheit über die
       Zukunft hängt schwer über dem Land.
       
       Vor nicht allzu langer Zeit war das noch ganz anders. Als wir 2014 in
       [2][Kiew] waren, hallte die Erinnerung an die Euromaidan-Proteste nach. Die
       Atmosphäre in den Gesprächen mit den Ukrainern erinnerte an unser
       Heimatland Polen in den 1990er Jahren: aufrichtige EU-Begeisterung, keine
       Zweifel am eingeschlagenen Weg Richtung Westen. Kiew glänzte mit Idealen,
       die in unserem Land 2014 bereits vom Euroskeptizismus verdorben waren.
       
       Es gibt ein Paradox, das das vereinte Europa seit Jahren verfolgt. Während
       diejenigen, die der EU beitreten wollen, von Euro-Enthusiasmus erfüllt
       sind, beschweren sich die Mitglieder über die bürokratische Kälte in den
       Brüsseler Fluren. Nehmen wir die Osterweiterung der EU. Als die Länder
       Mittel- und Osteuropas sich langsam in die EU-Strukturen einlebten, lehnten
       die Iren gerade den Vertrag von Lissabon ab. Während sich die Ukrainer
       heute nach der EU sehnen, sind die Polen und Ungarn dabei, den europäischen
       Rechtsstaat zu verlassen.
       
       ## Demokratien haben freie Wahlen, Diktatoren haben Zeit
       
       Aber der Fall der Ukraine ist einzigartig. Zur Jahreswende 2013/2014, als
       Wiktor Janukowitsch die proeuropäischen Proteste brutal niederschlug, waren
       die Menschen bereit, ihr Leben für ein vereintes Europa zu opfern. Die
       Ukrainer verdienen Respekt und Unterstützung für ihr Engagement. Dies ist
       umso wichtiger, als die demokratischen Länder im Vergleich zu Russland eine
       Schwäche haben. Während die Demokratien freie Wahlen haben, haben
       Diktatoren Zeit, da sie an freie Wahlen nicht gebunden sind. Wladimir Putin
       verfolgt geduldig sein ultimatives Ziel, die geopolitische Ordnung nach dem
       Kalten Krieg aufzulösen und Russland, wie er es nennt, mit seiner
       Einflusssphäre zu umgeben.
       
       Nicht nur in Kiew, sondern auch in [3][Tallinn,] Prag und Warschau sind
       heute die Fragen nach unserer kollektiven Sicherheit mit voller Wucht
       zurückgekehrt. Im Gegensatz zur Ukraine sind diese Länder Mitglieder der EU
       und der Nato, aber trotzdem sind die Ängste groß. In Estland haben die
       Kinder in den Schulen jetzt ein neues Fach: Desinformation im Internet.
       Schwerpunkt: die Aktivitäten Russlands. In der Region sind noch immer die
       Erinnerungen lebendig an eine traumatische Vergangenheit, in der Russland
       der Aggressor war. Die wichtigste dieser Befürchtungen lässt sich in einem
       kurzen Satz zusammenfassen: Der Westen wird uns wieder im Stich lassen.
       
       Das Verhalten Deutschlands hat in dieser Hinsicht besondere Beachtung
       gefunden. Nach 1989 hat Berlin große Anstrengungen unternommen, sich in den
       ehemaligen postkommunistischen Ländern ein positives Image zu geben: Gesten
       der Versöhnung, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Studentenaustauschprogramme
       – all dies führte zu einer neuen „Soft Power“ Deutschlands. Die heutige
       Krise wurde also schnell zu einem Vertrauensproblem mit Berlin. Anfang 2022
       droht diese mühsam aufgebaute Soft Power zu schmelzen. In erster Linie
       könnte dies in Kiew geschehen.
       
       19 Feb 2022
       
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