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       # taz.de -- Menschen und Gegenstände: Putins Tisch für 599 Euro
       
       > Sicher, am Design von Putins Tisch müsste noch gearbeitet werden. Aber so
       > eine Aura der Unnahbarkeit wäre auch im Arbeitsleben wünschenswert.
       
   IMG Bild: Putin, der Tisch und Scholz, in Moskau am 15. Februar
       
       Entschuldigen Sie, heute habe ich nicht viel Zeit, ich muss zu Ikea, da
       gibt’s jetzt Putins Tisch für schlappe 599 Euro. Na ja, natürlich nicht
       wirklich. Von skandinavischem Design ganz zu schweigen, ist dieser Tisch so
       weit entfernt wie die Menschen, die an ihm sitzen, voneinander. Weißer Pomp
       auf drei plumpen Säulen wird sicher nie ein Klassiker – obwohl [1][Putins
       Empfangstisch] eigentlich die wichtigste Voraussetzung für gutes Design
       erfüllt.
       
       Form follows function, die Form folgt der Funktion: maximale Distanz zu den
       verhassten westlichen Kollegen. Andererseits lässt der Trumm-Tisch
       [2][Putin] selbst auch relativ klein aussehen, was noch von der für seine
       Oberkörperlänge ungünstigen Sitzhöhe unterstrichen wird. Der Bärentöter
       Putin sitzt am eigenen Tisch immer ein bisschen wie ein Junge bei den
       Schularbeiten.
       
       Aber angenommen, Ikea oder Ligne Roset würden noch etwas am Design tüfteln,
       dann wäre so ein Tisch auch für mich interessant. Eigentlich möchte ich nur
       dann aus dem Homeoffice ins Büro zurückkehren, wenn mir und allen anderen
       so ein Tisch als Arbeitsplatz im anscheinend nicht totzuhustenden
       Großraumbüro bereitgestellt wird. Was für Vorteile das hätte, wird mir erst
       jetzt – Danke, Putin! – bewusst. Vorbeischlendernde Mansplainer etwa
       müssten schon tief Luft holen, um mir die Lage im Nahen Osten zu erklären –
       und im Zweifel würde ich sie gar nicht hören auf die Entfernung. Ja, es
       wäre eigentlich nur die Fortsetzung vieler Gespräche mit anderen Möbeln –
       jeder redet unbehelligt vor sich hin!
       
       Die schiere Distanz eines solchen Tischs verschaffte einem nicht nur genug
       personal space, was ja in Zeiten von Corona Gold ist, sondern auch etwas,
       das Rilke so beschreibt: „So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,
       voller Erscheinung, aus der Ferne an“ – eine Aura im Benjamin’schen Sinne.
       Benjamin verwendet den Begriff, um das Spezifische eines Kunstwerks zu
       beschreiben, das sich durch seine Unnahbarkeit und Einmaligkeit auszeichnet
       und dadurch, dass es an einen Ort gebunden sowie in die Geschichte
       eingebettet ist. Allerdings ist diese Aura aber etwas, das durch die
       Reproduzierbarkeit von Bildern perdu ist. Demnach könnten nur Scholz oder
       Macron Putins Aura am langen Tisch gespürt haben, uns, die wir nur die
       Bilder sehen, bleibt die Erfahrung verwehrt.
       
       ## Wie weit sitzen solche Männer von ihren Gefühlen entfernt?
       
       Die Frage ist: Möchte Putin ein Kunstwerk sein oder nur signalisieren, was
       eh alle wissen: dass ihm völlig wumpe ist, was sein Gegenüber zu sagen hat?
       Würde, das ist ja wie mit großen Autos, verleiht ihm der große Tisch
       jedenfalls nicht. Und wenn es ihm tatsächlich darum geht, gehört zu werden,
       schießt er sich mit dem Tisch selbst in den Fuß, denn am anderen Ende würde
       zumindest ich gar nicht mehr hören, was er sagt.
       
       Aber die Unnahbarkeit, die mit dieser Aura kommt, die würde ich mir – so
       gut ich einander hören auch finde – schon bisweilen wünschen. Gegen
       Kollegen bei früheren Arbeitgebern, die sich gern mal sehr dicht hinter
       meinen Stuhl gestellt oder mir gleich ungefragt die Schultern massiert
       haben, hätte Putins langer Tisch auch nicht geholfen – allerdings ließen
       die sich eh mit einer hochgezogenen Augenbraue vertreiben.
       
       Aber das echte, fiese [3][Patriarchat], gegen das ich mir und allen Frauen
       mehr Unnahbarkeit wünsche, ist, woran mich heute auch das SZ-Magazin
       erinnert, immer noch überall. Noch immer wird in Deutschland jeden dritten
       Tag eine Frau von einem Mann getötet, meistens ist es ihr Partner oder ihr
       Ex. Ich frage mich, welcher überdimensionale metaphorische Tisch liegt
       zwischen den kleinen süßen Jungs, die auf den Spielplätzen rumflitzen, und
       solchen Typen?
       
       Klar, jeder Erwachsene ist selbst für sein Verhalten verantwortlich, aber
       bei dieser Datenlage fragt man sich schon, was da schiefläuft. Wie weit
       sitzen solche Männer von ihren eigenen Gefühlen entfernt? Warum hat ihnen
       niemand gesteckt, dass sie auch ohne Monstertisch, ohne Freundin, ohne
       Weltmacht ganz okay sind? Dann könnten wir alle hübsch an Nierentischchen
       sitzen, entspannt wippend auf unseren geschmackvollen Breuer-Stühlen, wie
       echte Erwachsene.
       
       18 Feb 2022
       
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