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       # taz.de -- Nach dem Stopp von Nord Stream 2: Reicht das Gas in Europa?
       
       > Selbst wenn Russland die Gaslieferungen stoppte, würden wir über den
       > Winter kommen. Ein Totalausfall wäre schwieriger zu verkraften.
       
   IMG Bild: Erdgasübernahmestation Lubmin
       
       Berlin taz | [1][Wladimir Putin] will weiter liefern: „Russland
       beabsichtigt, die ununterbrochenen Lieferungen dieses Rohstoffs,
       einschließlich des Flüssiggases, an die Weltmärkte fortzusetzen“, sagte
       Russlands Staatschef am Dienstag. Kurz zuvor hatte Bundeskanzler Olaf
       Scholz (SPD) angekündigt, den [2][Zertifizierungsprozess für die
       umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 auf Eis] zu legen.
       
       Die elf Milliarden Euro teure [3][Gasröhre] zwischen Russland und
       Deutschland ist eigentlich seit dem Sommer betriebsbereit – und nun Teil
       der Sanktionen, die Deutschland und die EU am Dienstag ausgesprochen haben,
       um auf die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine durch
       Russland zu reagieren.
       
       Er habe das Bundeswirtschaftsministerium angewiesen, eine Neubewertung der
       Versorgungssicherheit vorzunehmen, die Grundlage für eine Zertifizierung
       und die Betriebserlaubnis für das Projekt ist. „Das wird sich sicher
       hinziehen“, sagte Scholz.
       
       Die Streit um die Pipeline zeigt, wie [4][abhängig Europa von russischem
       Gas] ist. Zwar hat Russland in den vergangenen Jahrzehnten immer auch bei
       harten Konflikten mit dem Westen vertragstreu geliefert. Dennoch zeichnet
       sich derzeit eine beunruhigende Entwicklung ab.
       
       ## 40 Prozent des Gases kommt aus Russland
       
       Europa bezieht derzeit etwa 40 Prozent seines Gasbedarfs aus Russland. Ein
       Stopp der Lieferungen als russische Gegenmaßnahme auf westliche Sanktionen
       würde den Kontinent und Deutschland, das sogar etwas über die Hälfte seiner
       Lieferungen aus Russland bezieht, hart treffen.
       
       Leisten könnte sich Russland einen Lieferstopp. In Folge eines Krieges
       würde auch der Preis für Öl steigen, ein Produkt, das Russland auch an
       andere Länder als Europa verkaufen kann. Die Zuspitzung der Ukrainekrise
       ließ am Dienstag den Ölpreis weiter steigen. Brent-Öl aus der Nordsee
       verteuerte sich in der Spitze auf 97,66 Dollar pro Barrel – den höchsten
       Stand seit September 2014.
       
       Erschwerend kommt hinzu, dass die Gasspeicher in Europa derzeit weniger gut
       gefüllt sind als in einem normalen Jahr. Das liegt nicht zuletzt an
       Russland respektive Gazprom. Die Speicher des russischen Konzerns in Europa
       sind nur zu 16 Prozent gefüllt – die Speicher anderer Konzerne noch zu 44
       Prozent. Ein EU-Dokument zum Energiemarkt kommt daher zum Schluss, Gazprom
       zeige „ein ungewöhnliches Geschäftsgebaren“.
       
       Nach Berechnungen des Branchendienstes S&P Global Platts, die dem Spiegel
       vorlagen, hat Russlands Hauptexporteur Gazprom 2021 nur knapp 130
       Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa geliefert. Dies seien rund 31 Prozent
       weniger als durchschnittlich in den fünf Jahren davor. Anfang 2022 seien
       die Lieferungen sogar noch etwas zurückgegangen.
       
       Gazprom erfülle zwar derzeit seine langfristigen Lieferverträge, verkaufe
       aber anders als sonst kein zusätzliches Gas am Spotmarkt, berichtet das
       Magazin weiter. Nach aktuellen Zahlen des europäischen Verbandes Gas
       Infrastructure Europe beträgt die Füllmenge der deutschen Gasspeicher
       insgesamt derzeit noch rund 31 Prozent.
       
       ## In diesem Winter auf der sicheren Seite
       
       Europa ist allerdings nicht ganz unvorbereitet. Seit dem Jahr 2005 haben
       sich die Kapazitäten für den Import von Flüssiggas verdreifacht. Im Jahr
       2011 wurde eine zweite Pipeline von Algerien nach Spanien eröffnet, im Jahr
       2020 wurde das letzte Teilstück des „Südlichen Gaskorridors“
       fertiggestellt, durch den Gas aus Aserbaidschan nach Europa gelangt.
       
       Außerdem hat die EU die Verbindungen zwischen ihren Mitgliedsländern
       ausgebaut, sodass die meisten Gas nun aus verschiedenen Richtungen beziehen
       können. Die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sagte daher in
       der vergangenen Woche auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Selbst bei
       einer völligen Unterbrechung der Gasversorgung durch Russland sind wir
       diesen Winter auf der sicheren Seite.“ Das war nicht immer klar. Wenn der
       Winter deutlich kälter gewesen wäre, wären heute die Gasspeicher noch
       deutlich leerer.
       
       Diese beruhigende Prognose bedeutet allerdings nicht, dass es nicht in
       einzelnen Ländern doch zu Problemen kommen kann. Insbesondere im Osten der
       EU ist die Infrastruktur immer noch darauf ausgelegt, dass der größte Teil
       des Gases durch Belarus oder die Ukraine kommt. Eine Komplettversorgung aus
       Westeuropa ist hier nicht vorgesehen. Und dann ist in der EU Gas nicht
       gleich Gas. Im Nordwesten Europas wird „L-Gas“ genutzt, im Rest Europas
       „H-Gas“, das deutlich mehr Methan und damit Energie enthält. Weil die
       Infrastruktur auf die jeweilige Gassorte ausgerichtet ist, lässt sich das
       eine nicht problemlos durch das andere ersetzen.
       
       Sollte Europa mehrere Jahre kein russisches Gas importieren, sähe die Lage
       dramatischer aus. Eine Studie des belgischen Thinktanks Bruegel warnt: „Auf
       der Angebotsseite sind zwar einige freie Importkapazitäten vorhanden, doch
       wäre es im besten Fall sehr teuer und im schlimmsten Fall physisch
       unmöglich, die russischen Mengen vollständig zu ersetzen.“
       
       Das Hauptproblem beim Angebot ist die Verfügbarkeit von Flüssiggas (LNG).
       Wegen des hohen Gaspreises laufen die Anlagen zur Verflüssigung bereits an
       der Kapazitätsgrenze, auch LNG-Tanker sind knapp. Zudem haben sich Länder
       in Asien einen Großteil des verfügbaren Flüssiggases über langfristige
       Verträge gesichert.
       
       ## Mehr Gas aus Algerien und Libyen
       
       Auch beim Pipelinegas gibt es keine großen ungenutzten Potentiale. Einzig
       aus Algerien und Libyen ließe sich deutlich mehr Gas beziehen als heute.
       Die Produktion steigern könnte auch das niederländische Gasfeld Groningen.
       Dort wird aber derzeit die Produktion gedrosselt, um Erdbeben zu
       verhindern.
       
       Folglich müsste die Nachfrage sinken. Hier besteht die Möglichkeit, bei der
       Stromerzeugung Gas durch Öl oder Kohle zu ersetzen oder Atomkraftwerke
       länger laufen zu lassen.
       
       Zudem ließe sich in der Industrie Gas einsparen, indem besonders
       gasintensive Industrien die Produktion aussetzen. Außerdem ließen sich
       durch Verhaltensänderungen Einsparungen erzielen.
       
       Auch ohne Lieferstopp dürfte der Ukrainekonflikt für
       EnergieverbraucherInnen teuer werden, meint Clemens Fuest, Chef des
       Münchner Ifo-Instituts: Im Falle eines bewaffneten Konflikts „würde es
       zumindest vorübergehend zu einem Preisschock kommen“, sagt Fuest. Aktuell
       liegt der TTF-Gaspreis in den Niederlanden bei rund 75 Euro pro
       Megawattstunde und damit fünfmal so hoch wie im Jahr 2020. Wie hoch der
       Preis steigen kann, zeigt eine kurzfristige Preisspitze im Dezember: Damals
       kostete Gas 166 Euro. Am Dienstag zogen die maßgeblichen Gashandelspreise
       um bis zu 12 Prozent an.
       
       ## Mehr Erneuerbare
       
       Langfristig setzt die EU auf den Ausbau der Erneuerbaren, um die
       Abhängigkeit von importiertem Gas zu reduzieren. „Die beste Lösung für mehr
       Energiesicherheit und für tiefere Preise ist die beschleunigte Umsetzung
       des europäischen Green Deal“, schreibt die EU in ihrer Analyse des
       Energiemarkts. „Jedes Windrad und jedes Solarpaneel reduziert sofort die
       Abhängigkeit von Gasimporten.“
       
       Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte am Dienstag, es könnte
       kurzfristig ein Ansteigen der Gaspreise geben. Das hänge auch davon ab, wie
       sich das Angebot entwickle. Zugleich betonte Habeck, Deutschland sei
       „versorgungssicher“.
       
       Krieg treibe Preise nach oben, sagte Habeck. Es sei wichtig, die
       Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Deutschland müsse möglichst
       schnell aus fossilen Energieträgern aussteigen. Daher sollten die
       erneuerbaren Energien schnell ausgebaut werden. Deutschland müsse sich
       unabhängig machen von der „Preis- und Kriegstreiberei“ anderer Länder.
       
       22 Feb 2022
       
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