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       # taz.de -- Die Schwierigkeit der Transidentität: Aus dem Leben eines trans Mannes
       
       > Transsein bringt auch heute noch Rollenklischees durcheinander, von
       > Gender bis Klasse. Sachdienliche Abschweifungen zur eigenen Transition.
       
   IMG Bild: Einst lernte unser Autor die inneren Welten von cis Frauen kennen, heute die von cis Männern
       
       ## Präambel
       
       Über die Beschaffenheit des Menschen wurde schon immer spekuliert. Im
       Mittelalter galt: 30 Prozent Satan, 30 Prozent Sünde und der Rest Mechanik.
       Meine These ist: 80 Prozent Wasser und 20 Prozent Selbstüberschätzung. Doch
       wir alle lagen falsch: Die Menschheit unterteilt sich in Östrogen und
       Testosteron.
       
       Aber bei einigen Pechvögeln geschieht nun Folgendes: Zum falschen Zeitpunkt
       bekommt der männliche Embryo eine heftige Hormondusche Östrogene ab, der
       weibliche eine Überdosis Testosteron. Und so, liebe Leugner [1][von trans
       Identitäten], entstehen die kleinen trans Babys. Eine tragische
       Mogelpackung: Außen steht etwas in Großdruck, was gar nicht drin ist.
       
       Aber ersparen wir uns hier die Entwicklung vom trans Baby zum verzweifelten
       Erwachsenen sowie die eskalierende Seelenpein, die spätestens mit der
       falschen Pubertät einsetzt. Da braucht es einfach Schmerzlinderung durch
       die sogenannte Geschlechtsangleichung.
       
       ## Durchführung
       
       [2][Ältere trans Menschen] werden oft gequält mit: „Warum kommst du erst
       jetzt damit? Kann ja nicht wirklich dringend gewesen sein!“ Oh ignorante
       Selbstherrlichkeit! Denn die Selbstverwirklichung ist eh nicht die
       Königsdisziplin des Menschen. Es gibt genug Menschen, die in ein von A bis
       Z „falsches“ Leben geraten. Menschen, die geborene Pädagogen wären, aber
       ihr Leben als Dosenstapler bei Penny fristen müssen. Oder Leute, die
       geborene Dosenstapler bei Penny wären, aber ihr Leben als
       Philosophieprofessor fristen dürfen.
       
       Und warum sollten trans Menschen in den Disziplinen „Erkenntnis und
       Verwirklichung“ vor cis Menschen liegen? Denn: In meiner Generation (Ü50)
       waren Infos zum Thema kaum erhältlich. Wir wuchsen ja ohne Internet auf und
       konnten uns nicht flugs durch eine Million Einträge wühlen. Wir hatten ja
       praktisch nichts! Auch kompetente Fachleute und -bücher fehlten.
       
       Was habe ich ab meiner traumatischen Pubertät Psychiatriebücher gewälzt!
       Auf der Suche nach dem amtlichen Steckbrief meiner diffusen Peiniger! Aber
       damals wurde Transsein in Halbsätzen abgehandelt, zwischen „sexuellen
       Störungen“ des Äh-bäh-Kalibers „Sodomie“ oder „Nekrophilie“. Und wer denkt
       schon „Das muss ich sein!“, wenn das im gleichen Absatz steht wie „Schafe
       ficken“ oder „Penetration von Menschen ohne Puls“?
       
       Allein der Begriff Transsexualität! Ich kenne Hetero-, Homo-, Bi- und sogar
       Pädosexuelle, aber bis heute nicht einen Transsexuellen. Transsexuell: Was
       soll das sein? Außer garantiert bizarr und eklig? Auch keine Hilfe: Trans
       Menschen kamen damals nie im öffentlichen Bild vor. Filmisch wurden sie als
       Psychopathen (Lämmerschweigen!) verwurstet. Und als zuverlässige Lachnummer
       gab es den Zwei-Meter-Mann im Großgeblümten, der mit verrutschter Perücke
       in tiefem Bass eine Milch ordert. (Denn früher, liebe Kinder, haben die
       Menschen Transidenten mit Transvestiten verwechselt. Klingt peinlich, ist
       es auch. Eine peinliche Verwechslung von derartiger Peinlichkeit, als würde
       man auf einem Empfang den feinsinnigen Herrn Hamlet begrüßen mit: „Und Sie
       müssen Charlys Tante sein.“)
       
       Zurück zum lustigen Leben als trans Mann, aber vorab einen Dämpfer: Der Sex
       wird ausgespart. Das angebliche Thema Nummer eins ist hier viertrangig.
       Erst die Identität, dann das Vergnügen! Zudem unterscheidet sich der Sexual
       des trans Menschen nicht von dem des cis Menschen. In jeder Kohorte ist es
       gleich verteilt. Ein weltweit konstanter Prozentsatz an Hetero, Homo, Bi,
       Pädo, Schaf. Ähnlich dem weltweiten Humanistenaufkommen und der
       Arschlocheinwaage.
       
       Da sich der trans Sexual nicht von dem des cis Bürgers unterscheidet, gilt
       auch hier: Der Sex anderer Menschen geht andere Menschen nix an. Aber der
       verblödete Connex trans = Sexualität scheint zu suggerieren, mit der Info
       „trans“ sei meine Intimsphäre aufgehoben. Eine üblich unverschämte Frage
       lautet: „Sie als trans: Stehen Sie jetzt auf Frauen oder auf Männer?“ Hilft
       nur die Gegenfrage: „Was macht Ihr Schaf?“
       
       So. Jetzt haben wir Ursprung und Peinigung von trans Menschen angerissen –
       alles „Diverse“ auslassend; ich kenne meine Grenzen: Vom „Diversen“ habe
       ich keinen blassen Schimmer. Mehrere Schimmer habe ich dagegen vom Leben
       nach der geglückten Transition. Oder – wie wir dosenstapelnden
       Penny-Professoren sagen – vom Status quo post bellum.
       
       Holla, haben wir einen Spaß! Endlich wahrgenommen zu werden, wie es unserem
       inneren Schnabel entspricht! Schluss mit der ununterbrochenen
       narzisstischen Kränkung! Das Holla fängt schon mit der ersten
       Testosteron-Spritze an: Die Stimme wird tief, das Denken flach, das
       Verhalten asozial – (Ups. Jetzt bin ich in meinen Transmann-Text für die
       Emma geraten!).
       
       Noch mal: Abgesehen von der extremen Erleichterung durch die körperliche
       Anpassung kann ich endlich tun, was mir bisher verwehrt wurde. Zum Beispiel
       zur Wahl bei „Deutschlands unbegehrtester Junggeselle“ antreten. Und:
       Transsein ist bewusstseinserweiternd. Weil ich jahrzehntelang im inner
       circle von Frauen lebte und mit diesem Geheimwissen nun im inner circle von
       Männern – da lernt man beiderlei interne Sozialgesetzgebung kennen und die
       jeweiligen Mätzchen zu durchschauen.
       
       Man bekommt einen Röntgenblick auf den Geschlechterzirkus. Auch fit
       haltend: Es kommt vor, dass ich mit meinem Status quo ante und der jetzigen
       Außenwirkung inkongruent bin. Zum Beispiel verlor ich früher in Disputen
       gern die Geduld. Und war mein Gegenüber männlich und unsympathisch,
       beendete ich das Gespräch mit einem aggressiven: „Wollen wir vor die Tür?“
       
       Das war schon ernst gemeint, aber ich konnte mich ja darauf verlassen, dass
       schlimmstenfalls gelacht wurde. Dieses alte Wutmuster ist mir jüngst noch
       mal unterlaufen; erst als sich mein schrankgroßes Gegenüber erhob, wurde
       mir klar, dass ich da etwas vergessen hatte.
       
       ## Nachteil
       
       Wenn man eine qualvolle, weil nicht artgerechte Pubertät aus Selbstschutz
       überspringen muss, fällt das übliche „Heranwachsen“ weg. Es fehlt die peer
       group, der Freundeskreis, der einen anlernte. Meiner Biografie jedenfalls
       fehlt der Abschnitt „Erwachsenwerden“. Ein klarer Nachteil im Umgang mit
       erwachsenen Erwachsenen, denn viele davon sind verlogen, berechnend und
       ausgebufft. Als nicht herangewachsener Erwachsener ist man da oft
       aufgeschmissen.
       
       ## Neue Welt
       
       Was so eine Transition beim Sozialstatus anrichtet! Trans Frauen berichten
       fassungslos, dass man ihnen in Konferenzen nun mehr ins Wort fällt. Oder
       sie bringen ihr Auto in die Werkstatt und werden umgehend verarscht („Das
       ist nicht die Handbremse, wir müssen den ganzen Motorblock neu lackieren,
       gnä’ Frau!“) Dagegen trans Männer! Sozialer Aufstieg pur! Wir werden nicht
       mehr unterbrochen und in der Werkstatt: mit dem Schlosser auf Augenhöhe!
       
       Verwirrend wird es, wenn Gender- mit Transklischees kollidieren: Meiner
       ersten Gutachterin verdanke ich viel (nämlich vier Jahre Aufenthalt in
       einer Psychiatrie). Die angebliche Sexualfachfrau der angeblichen Uniklinik
       Aachen begutachtete mich ein Jahr lang kompetent ins Grab. (Echte Gutachter
       nannten das später „gravierende Kunstfehler“.)
       
       Ich also ein Jahr lang bei ihr um mein Leben geredet – beweisen Sie mal
       einer misstrauischen Person, dass Sie versehentlich in den falschen Körper
       gerutscht sind! Sie bemängelte, ich [3][säße nicht burschikos], sondern
       feminin: Beine übereinander geschlagen, feinschlägige Motorik. Ich so:
       „Alle mir bekannten cis Männer würden hier auch nicht rumsitzen wie
       Bierkutscher.“ Letztlich verweigerte sie mir die Behandlungserlaubnis.
       
       Meine angeblich zu femininen Bewegungsabläufe behielt ich bei; nach all den
       verbogenen Jahren wollte ich nicht schon wieder irgendeine Art
       Rollenanpassung leisten. So bewegte ich mich auch wie gewohnt während eines
       Interviews; danach attestierte mir die angebliche Journalistin in einem
       Porträt „kerlsmäßiges Gehabe“. Ja, was nu?
       
       ## Schluss mit lustig
       
       Trans gerät verschärft ins Fadenkreuz; Menschen mit der Humankompetenz
       eines Dixieklos betreiben eine für unsereins sehr gefährliche
       Stimmungsmache. Darum jetzt noch mal für alle Kretins und AfD-Störche: Es
       handelt sich bei Trans um einen angeborenen somatischen Patzer der Natur.
       Ist nur etwas komplizierter zu korrigieren als ein dreistöckiges Segelohr.
       
       Möchte also jemand weiterhin Trans als Hype beleidigen oder in toto
       leugnen: Bitte bei mir melden. Wir müssen vor die Tür. Und diesmal geh ich
       mit raus.
       
       6 Mar 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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