URI: 
       # taz.de -- Leben mit Brustkrebs: Selfcare, um zu überleben
       
       > Unsere Autorin hat Brustkrebs und lebt allein. Warum Selbstfürsorge für
       > sie etwas anderes bedeutet als für Gesunde – und Duftkerzen nicht
       > dazugehören.
       
   IMG Bild: Ohne Selfcare wäre die Erkrankung noch härter, findet unsere Autorin
       
       Im Mai vergangenen Jahres wurde [1][mein Brustkrebs diagnostiziert]. Ich
       war darauf nicht vorbereitet, obwohl der Knubbel, den ich abklären lassen
       wollte, schon ziemlich groß war. Schließlich hatte der Frauenarzt, der mich
       zur Mammografie überwiesen hatte, mich mit „das kann alles sein“ beruhigt.
       Es wurde gerade warm, und bei jeder blühenden Kastanie, an der ich
       vorbeikam, habe ich mich gefragt, ob ich das im nächsten Jahr noch mal
       erleben würde. Die Tumorbiopsie zeigte, dass der Krebs aggressiv und
       schnell wachsend war. Ich hatte große Angst vor Metastasen.
       Glücklicherweise wurden keine gefunden.
       
       Die Behandlung einer Krebserkrankung ist langwierig, weil man zudem nicht
       weiß, ob schon Krebszellen abgewandert sind. Also wird die Krankheit nicht
       nur dort behandelt, wo der Tumor ist, sondern „systemisch“: Mutierte Zellen
       sollen im ganzen Körper abgetötet werden. Das bedeutet neben lokalen
       Operationen und Bestrahlungen oft und wie in meinem Fall monatelange
       Chemotherapie und jahrelange Antihormontherapie.
       
       Wenn die akute Bedrohung bekämpft ist, geht es darum, eine Wiederkehr der
       Krankheit zu verhindern. Weil all das dauert und die Nebenwirkungen der
       Behandlung oft gravierend sind, ist die „Compliance“, also die Mitarbeit
       der Patient*innen wichtig: sie müssen mitmachen und durchhalten. Die
       beste Therapie nützt nichts, wenn sie abgebrochen wird.
       
       Selfcare bedeutet für Menschen wie mich, die eine potenziell tödliche
       Krankheit haben, etwas anderes als für gesunde und weitgehend
       beschwerdelose Menschen. [2][Es geht nicht um Konsum von Wohlbefinden, wie
       ich es neulich in einem Podcast gehört habe], es geht nicht um leckeren
       Tee oder Duftkerzen. Es ist auch keine Selbstoptimierung: weniger Schoki,
       mehr Obst; weniger Sofa, mehr Sport; weniger Serien, mehr lesen.
       
       ## Sorgearbeit an mir selbst
       
       Für mich ist Selfcare ganz konkrete Sorgearbeit an mir selbst. Meine
       Bedürfnisse wahrzunehmen heißt, meine Lebensqualität und Überlebenschancen
       zu erhöhen. Meine Nerven zu stärken, eine Balance aus Empathie mit mir
       selbst und Abhärtung zu finden, um belastende Therapien, die Angst vor der
       Verschlechterung des eigenen Zustands und die Todesangst auszuhalten. Immer
       wieder die Energie aufzubringen, zu den Untersuchungen zu gehen,
       Informationen zu beschaffen und Unterstützung zu suchen. Das war und ist
       alles anstrengend. Ohne diese Arbeit an mir selbst und Care für mich selbst
       wäre die Erkrankung aber noch härter.
       
       Selfcare besteht für mich also nicht aus der perfekten Morgenroutine –
       sondern darin herauszufinden, was ich brauche, danach fragen zu können und
       mich mit Menschen zu umgeben, die diese Bedürfnisse möglicherweise gerne
       erfüllen. Ich bin 43 Jahre alt und habe keine*n Partner*in und keine WG.
       Ich wusste nicht, was durch die Krankheit auf mich zukommen würde, wie
       heftig die Nebenwirkungen sein würden. Darum habe ich Freund*innen,
       Bekannte und friends with benefits gefragt, ob sie mich praktisch und
       emotional unterstützen können.
       
       Ende Mai habe ich eine Telegram-Gruppe aufgemacht, in der knapp 40 Leute
       sind. Darüber habe ich bis zum Ende der Akuttherapie Ende Januar über die
       verschiedenen Therapieschritte informiert und auch um Hilfe gebeten bei
       Ämterkram oder Erledigungen. Auf die Idee bin ich gekommen, weil ich in der
       ersten Covid-Phase, als noch kaum etwas über das Virus bekannt war, in
       einer Telegram-Einkaufsgruppe für eine Freundin mit Behinderung war, die
       gut funktioniert hat.
       
       Nahezu alle Krebserkrankten berichten, Bekannte hätten sich während der
       Krankheit von ihnen abgewandt, Freundschaften seien zerbrochen. Da das so
       ein verbreitetes Phänomen zu sein scheint, habe ich mir darum auch Sorgen
       gemacht, glücklicherweise grundlos. Woran das liegt? Genau weiß ich es
       nicht, aber ich war auch schon ohne Krankheit nicht die unkomplizierteste
       Person.
       
       Leute, die mit mir befreundet sind, erwarten nicht, dass ich den ganzen Tag
       fröhlich und optimistisch bin, sondern wissen, dass ich sage, wenn mir was
       nicht passt. Die meisten meiner Freund*innen und Bekannten sind Linke,
       Queers und Feminist*innen, die sich schon mal mit Behinderung, Care oder
       Körperpolitik beschäftigt haben. Es gab niemand, der*dem ich alles von
       Anfang an erklären musste.
       
       Dennoch hat es mich Überwindung gekostet, nach Unterstützung, Zuwendung und
       Nähe zu fragen. Ich hatte Sorge, Freundschaften zu sehr zu belasten, und
       dass Leute aus schlechtem Gewissen Unterstützung zusagen würden, die ihnen
       eigentlich zu viel ist. Darum habe ich versucht, transparent zu
       kommunizieren, was ich über meine Krankheit und die möglicherweise zu
       erwartenden Folgen der Behandlung wusste und wie es mir damit ging.
       
       Wir haben für die Tage nach jeder Chemo Pläne gemacht, damit ich was zu
       essen bekomme, Gesellschaft habe, ein bisschen rauskomme und nicht jedes
       Mal fragen musste. Um konkret nach Unterstützung zu fragen, braucht es
       Energie, die ich zwischendurch nicht hatte. Wenn ich um Hilfe frage, muss
       ich es außerdem aushalten können, wenn Leute Nein sagen. Die Musikerin
       Amanda Palmer hat ein ganzes Buch darüber geschrieben: „The art of asking“.
       Ihre Gedanken und Geschichten haben mir geholfen, keinen Druck auf
       Freund*innen auszuüben und mich nicht ungemocht zu fühlen, wenn niemand
       Zeit für mich hatte (was aber selten vorkam).
       
       ## Hinlegen und hochkämpfen
       
       Viele Selfcaretipps gehen davon aus, dass man eigentlich schon weiß, was
       einem guttut – man muss es nur noch umsetzen. So einfach ist das aber
       leider nicht: Oft brauche ich Schokolade statt Obst, häufig ist Lesen zu
       anstrengend und manchmal sorgt der Versuch, mich zu überwinden, nur dafür,
       dass ich mich noch schlechter fühle. Oft ist es auch eher schwierig zu
       wissen, wie viel wovon und wann mir guttut. Krebs, depressive
       Verstimmungen, Antriebsstörungen und Ängste sind ganz schön viele Faktoren.
       
       Wenn dann noch die Pandemie und die Nebenwirkungen der Behandlungen
       dazukommen, wird es immer schwerer herauszufinden, was gut sein könnte.
       Alleine dieser Prozess war manchmal zu anstrengend, sodass ich eben manchen
       Nachmittag und Abend auf dem Sofa verbrachte und Serien schaute. Das war
       auch okay, wenn die Erschöpfung von der Chemo kam. Von der Depression
       wusste ich aber, dass ich das nicht zu lange machen darf, weil sie sonst
       oft schlimmer wird. Also galt es, einen motivierenden Sonnenstrahl zu
       nutzen, alle Energie zusammenzunehmen und einen kleinen Spaziergang zu
       unternehmen.
       
       Manchmal kostete es mich aber schon alle Energie, die ich aufbringen
       konnte, aufrecht stehen zu bleiben und mich nicht einfach auf den Boden zu
       legen. Damit meine ich nicht das Bedürfnis nach einem Nickerchen, sondern
       den Wunsch, mich einfach hinzulegen, wo ich stehe, und mich um nichts mehr
       kümmern zu müssen. Ich habe das sogar ein paar Mal gemacht, mich einfach
       auf den Boden gelegt. Aber der war hart, also habe ich mich wieder
       hochgekämpft. Immer wieder aufstehen, auch das ist für mich Selfcare. Und
       Blumen kaufe ich mir auch manchmal.
       
       4 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Amputation-wegen-Tumor/!5813697
   DIR [2] /Kommentar-Selbstoptimierung/!5579648
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kirsten Achtelik
       
       ## TAGS
       
   DIR Brustkrebs
   DIR Care-Arbeit
   DIR Schwerpunkt Feministischer Kampftag
   DIR IG
   DIR wochentaz
   DIR Sitzenbleiben
   DIR Krebs
   DIR Netflix
   DIR Schwerpunkt Feministischer Kampftag
   DIR Assistenz
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Brüste
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Krebsbehandlung in Deutschland: Große Fortschritte in 50 Jahren
       
       Als 1974 die Deutsche Krebshilfe gegründet wurde, waren die Ursachen der
       Krankheit weitgehend unbekannt. Seitdem ist für Betroffene viel anders.
       
   DIR Studie zum Lebensstil: Deutsche werden immer träger
       
       Ein Großteil der Menschen in Deutschland sitzt zu viel. Außerdem werden
       kaum Anti-Stress-Strategien genutzt. Am wenigsten gesessen wird im Osten.
       
   DIR Schwere Krankheit auf Social Media: Hashtag Cancer
       
       Auf Instagram und Youtube zeigen Menschen ihr Leben mit Krebs. Verändert
       sich dadurch unser Umgang mit schwerer Krankheit und dem Tod?
       
   DIR Realityshow „How to build a Sexroom“: Wie man einen Raum für Sex baut
       
       Eine Innenarchitektin gestaltet Sexrooms in einer Reality-Serie auf
       Netflix. Sie zeigt sich offen für verschiedene Arten von Sexpositivität und
       Kink.
       
   DIR Philosophin über Care-Arbeit: „Es bleibt ein schlüpfriger Rest“
       
       Was meinen wir eigentlich genau, wenn wir von Care-Arbeit sprechen? Die
       Philosophin Cornelia Klinger über Klassenverhältnisse und Lebenssorge.
       
   DIR 24-Stunden-Assistenz: Immer in Begleitung
       
       Victoria Michel lebt selbstbestimmt mit der Hilfe von Assistentinnen, die
       sie unterstützen. Das Verhältnis zu ihnen ist „eine Art Zweckfreundschaft“.
       
   DIR Ungerechte Verteilung von Sorge: Care-Arbeit in Zahlen
       
       Wie viele Männer arbeiten in der Pflege? Und wie groß ist der Gender Care
       Gap in Deutschland? Zahlen und Grafiken zur Sorgearbeit.
       
   DIR Amputation wegen Tumor: Brust ab
       
       Wer sich nach einer Brustamputation gegen einen Wiederaufbau entscheidet,
       steht unter Rechtfertigungsdruck. Das erlebte auch unsere Autorin.
       
   DIR Selbstwert und Liebe: Me, Myself and Mitgefühl
       
       Nur wer sich selbst liebt, kann geliebt werden, heißt es. Unsere Autorin
       hat lange mit der Selbstliebe gekämpft und setzt heute auf ein anderes
       Ideal.