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       # taz.de -- Berliner Parlament zu Ukraine-Krieg: „Das wird mit uns allen etwas tun“
       
       > Das Abgeordnetenhaus verurteilt den russischen Einmarsch in die Ukraine.
       > Senatorin Jarasch bereitet die Berliner*innen auf Veränderungen vor.
       
   IMG Bild: Eine Forderung, der sich auch das Abgeordnetenhaus anschloss: Protest vor dem Kanzleramt
       
       Berlin taz | Die Weltpolitik hat Einzug gehalten im Berliner Parlament an
       diesem Donnerstagmorgen – allerdings die düsterste Seite der Weltpolitik.
       Abgeordnete erinnern an ihre Ängste im Kalten Krieg, an Berlin als
       Frontstadt zwischen Ost und West, an die Lücken, die der Zweite Weltkrieg
       in die Bebauung gerissen hat und die immer noch sichtbar sind.
       
       Man merkt den Redner*innen ihre Verzweiflung an, ihr Entsetzen, ihre
       Fassungslosigkeit. „Das Unfassbare geschieht: Wir haben wieder Krieg in
       Europa“, sagt die linke Abgeordnete Franziska Brychcy. „Ich habe Angst vor
       einem Großflächenbrand“, gibt Kai Wegner, Fraktionsvorsitzender der CDU,
       offen zu.
       
       Anlass der Debatte ist der [1][Einmarsch russischer Truppen in die
       Ukraine], der rund sieben Stunden vor der Sitzung im Berliner
       Abgeordnetenhaus begonnen hat. Eigentlich wollte das Parlament zuerst über
       den zweiten Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau reden, auch das
       harter Stoff im Politikalltag.
       
       Doch dann einigt man sich darauf, den Dringlichen Antrag zur Ukraine
       vorzuziehen. Schließlich wird „das mit uns allen etwas tun“, wie Bettina
       Jarasch sagt, die grüne Verkehrssenatorin und als Bürgermeisterin an diesem
       Tag auch die Vertreterin der an Covid erkrankten Regierungschefin Franziska
       Giffey (SPD).
       
       Was Jarasch mit „das“ konkret meint, erläutert sie nicht. Vielleicht ist
       das zu diesem Zeitpunkt auch noch gar nicht möglich. Und so steht dieses
       „das“ für das in seinem Umfang und den Konsequenzen kaum Fassbare, das an
       diesem Morgen geschehen ist.
       
       „Nichts ist mehr, wie es gestern noch schien“, beschreibt dieses Gefühl die
       stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Melanie Kühnemann-Grunow. Sie
       habe nicht gedacht, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den
       Marschbefehl geben und in die Ukraine einmarschieren würde; sie habe sich
       nicht mal ausmalen können, dass wir einen Krieg in Europa „zu unseren
       Lebzeiten noch erleben würden“. Bisweilen scheint nicht nur bei ihr die
       Erinnerung an die Jugoslawienkriege in den 1990ern und die Annexion der
       Krim durch Russland vor wenigen Jahren schon sehr verblasst zu sein.
       
       ## Applaus von allen Fraktionen
       
       Zwar mag es sein, so die SPD-Politikerin weiter, dass Putins Handeln auch
       historisch motiviert sei, etwa durch die Nato-Osterweiterung seit dem
       Mauerfall. „Aber nichts rechtfertigt die heutige Invasion russischer
       Truppen.“ Dafür erhält sie von allen Fraktionen Applaus, selbst von der
       AfD.
       
       Berlin sei solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, aber auch mit den
       vielen Russ*innen, die sich Frieden wünschten, fährt die Abgeordnete fort.
       „Wir sind davon überzeugt, dass die Entscheidung des russischen Präsidenten
       nicht im Interesse der russischen Bevölkerung liegt“, heißt es in der
       Resolution, die am Ende mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und bei
       Enthaltung der Opposition – CDU, FDP und AfD hatten eigene Anträge
       eingebracht – verabschiedet wird. Deren Überschrift: „Für Frieden in
       Europa!“
       
       Die Resolution verurteilt den Angriff als Verstoß gegen das Völkerrecht.
       Russland müsse deshalb sofort seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen.
       Zudem bekenne sich das Land zu seiner Verantwortung, Menschen, die aus dem
       Krisengebiet fliehen, aufzunehmen.
       
       Man müsse sich jetzt darauf vorbereiten, was – und wer – kommen wird, sagt
       Bettina Jarasch. Der Senat sei in Gesprächen mit der Bundesregierung über
       die Aufnahme von Geflüchteten. Von welchen Zahlen der Senat derzeit
       ausgeht? „Wir wissen noch nicht, welche Dimensionen das haben wird“, sagt
       Jarasch. „Aber es kann eine große Dimension annehmen.“
       
       ## Gewissheiten sind vorbei
       
       Überhaupt bereitet sie die Berliner*innen auf Veränderungen vor. „Wir
       sind alle mit der Gewissheit aufgewachsen, dass Frieden und Wohlstand
       selbstverständlich waren. Damit ist es seit heute vorbei“, sagt Jarasch.
       Keine Sorgen müssten sich die Menschen aber um die Energieversorgung
       machen: Diese sei „gesichert“, zudem gebe es „einen Notfallplan“. Klar sei
       aber, dass Deutschland künftig unabhängig werden müsse von Importen von Gas
       und Öl. Derzeit kommt zum Beispiel mehr als 50 Prozent des nach Deutschland
       importierten Erdgases aus Russland; durch den Krieg und folgende Sanktionen
       dürfte dieser Anteil dramatisch sinken.
       
       Hunderttausende Menschen seien von Krieg und Vertreibung bedroht, schätzt
       die linke Abgeordnete Franziska Brychcy. Sie fordert deswegen den Senat
       auf, keine Menschen mehr in die Krisenregion abzuschieben, weder nach
       Russland noch in die Ukraine und auch nicht nach Belarus und Moldawien.
       „Wir brauchen einen sofortigen Abschiebestopp.“ Rund 20.000
       Ukrainer*innen bangten zudem in Berlin um ihre Angehörigen. In deren
       Richtung sagt die Abgeordnete: „Ihr seid nicht allein.“
       
       Von der Politik jenseits der Landespolitik fordert die CDU klare Kante.
       Putin verstehe die Sprache des Drucks, ist sich Fraktionschef Wegner
       sicher, und er fordert: „Russland muss isoliert werden.“ Auch bei der SPD
       glaubt man an die Wirkung von Sanktionen. Diese würden Russland hart
       treffen, sagt die Abgeordnete Kühnemann-Grunow. Deutschland solle zudem
       vermitteln in dem Krieg, „wir können Diplomatie“. Zugleich betont sie aber
       auch: „Der Krieg kennt nur Verlierer.“
       
       24 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Putin-und-das-Voelkerrecht/!5837547
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
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