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       # taz.de -- 200 Unterschriften für die Liebe: „Unsere Eltern sollen heiraten“
       
       > Zwei Mädchen im Grundschulalter wollten meine Unterschrift dafür, dass
       > ihre Eltern heiraten. Erst fühlte ich ein Unbehagen. Dann verstand ich.
       
   IMG Bild: Immer noch keine Selbstverständlichkeit: gleichgeschlechtliche Hochzeit im konventionellen Stil
       
       Mut. Mut, das eigene Leben zu führen. Das Leben, wie wir es wollen,
       wünschen und träumen. Inwiefern brauchen wir dafür die anderen? Oder im
       Gegenteil, nur uns selbst?
       
       Ein Café auf dem Marktplatz. Es ist kalt, die Sonne scheint. Die Menschen
       recken ihre Gesichter dem Licht entgegen. Zwei Mädchen kommen an unseren
       Tisch. Sie drucksen herum.
       
       Sie sind ungefähr gleich groß, etwa acht oder neun Jahre alt, in bunten
       Anoraks, am Ende des Grundschulalters. Sie sehen aus wie Freundinnen. Die
       eine hat sehr große, strahlend blaue Augen und dunkles glattes Haar. Die
       andere ist blond. Eine von ihnen hält ein Schulheft in der Hand. „Wir
       sammeln Unterschriften.“ Auf der Rückseite, die uns zugewandt ist, steht in
       krakeliger Kinderschrift geschrieben: „200 Unterschriften, damit unsere
       Eltern heiraten.“
       
       Die Augen der Mädchen leuchten, während sie uns anschauen und sich
       erklären: „Also“, die eine holt Luft: „Unsere Eltern sollen heiraten. Und
       haben gesagt, wenn wir es schaffen, 200 Unterschriften dafür zu sammeln,
       dann machen sie es.“ Ich schaue sie an. „Ihr sollt etwas dafür tun, damit
       eure Eltern heiraten“, frage ich sie. „Warum wollen eure Eltern denn, dass
       ihr das macht?“ Ich fühle ein Unbehagen, dass die Kinder etwas für den
       Beziehungsstand ihrer Eltern tun sollen.
       
       Die Mädchen strahlen. Sie wirken nicht verlegen, nur voller Freude und
       Optimismus: „Also mein Papa hat einen Freund. Und er hat gesagt. Wenn ihr
       euch traut, trauen wir uns auch.“ Wir verstehen es immer noch nicht. Sie
       erklären weiter. „Also Papa und Mama haben uns bekommen. Jetzt hat Papa den
       Daniel kennengelernt. Und sie haben gesagt, wenn ihr euch traut, 200 Leute
       zu fragen, dann trauen wir uns [1][auch zu heiraten].“
       
       Sie lächeln. Sie haben erzählt, dass ihr Vater schwul ist, dass er jetzt
       einen Freund hat. Dieser Aspekt scheint für sie keine Rolle zu spielen. Es
       geht ihnen vor allem darum, dass ihr Vater seinen Freund heiratet. Die
       beiden Menschen, die sie als Eltern bezeichnen.
       
       „Ach, ihr seid Schwestern“. Die Mädchen nicken: „Und eure Mutter?“ „Die hat
       auch einen anderen Mann kennengelernt.“ Jetzt verstehen wir die ganze
       Geschichte. Es wirkt rührend, wie sie dastehen mit ihrem Schulheft, wie sie
       die Beziehungsbiografie ihrer Eltern so selbstverständlich vortragen.
       „Okay. Wir unterschreiben“, sagen wir.
       
       Auf dem Blatt haben schon einige andere mit ihren Vornamen unterschrieben.
       Wir setzen unsere Namen dazu. Die Mädchen bedanken sich. Sie gehen einen
       Schritt zur Seite. „Jetzt machen wir erst mal eine Pause“, sagt die eine
       zur anderen, als wüssten sie, dass nach jeder Arbeit Belohnung folgen muss.
       
       Etwas später sehen wir die Mädchen wieder, wie sie vor einem anderen Tisch
       stehen und ihre Geschichte erzählen. Sie strahlen, die Menschen fragen, die
       Mädchen antworten. Überall kommen so andere mit ihrer Geschichte in
       Kontakt. Wie nebenbei und vielleicht auch ohne es zu wissen, geben sie so
       etwas über das Selbstverständnis von [2][homosexueller Liebe] und
       [3][Elternschaft] weiter. Die Kinder scheinen zu respektieren, dass Eltern
       auch Menschen sind, dass sie ein privates Liebesleben haben, dass sich
       etwas in ihrem Leben wandeln kann.
       
       Dann sehen wir eine Frau, die die Mädchen umarmt. Sie ist die Mutter der
       beiden und scheint ihre Töchter darin zu bestärken, Unterschriften für den
       Vater zu sammeln.
       
       Später wirkt die Begegnung noch in mir nach. Wie die Mädchen da in der
       Sonne standen, wie viele Menschen mit ihrer Geschichte berührt wurden, ihr
       privates Familienleben öffentlich wurde und damit vielleicht auch etwas
       bewirkte.
       
       Wenn ihr euch traut, trauen wir uns auch. Macht uns der Mut der anderen
       mutiger? Ich erinnere mich an das Strahlen der Kinder, wie sie vom Vater
       erzählt haben und von Daniel. Vielleicht ging es dem Vater ja nicht um
       seine Ermutigung, sondern um seine Kinder. Um die Gewissheit, dass seine
       Töchter hinter seiner Beziehung stehen und sich in seiner Entscheidung zu
       Hause fühlen.
       
       25 Feb 2022
       
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